Sozialepidemiologie des Drogenkonsums Hügi

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Analyse biographischer Daten
von Daniela Hügi und Josef Estermann

Die meisten Studien über Drogenkonsumierende, ob epidemiologisch orientiert oder bestimmte spezifische Untersuchungsfelder anvisierend, sind dadurch eingeschränkt, dass sie ihre Informationen lediglich über verschiedene, zum Teil problemspezifisch ausgerichtete Institutionen beziehen oder über sozialstatistische Befragungen, durch die eine gleichmässige Erreichbarkeit der Konsumierenden nicht gewährleistet ist. Die Art des Feldzugangs beeinflusst die Resultate jedoch nachhaltig und muss im Hinblick auf eine Generalisierbarkeit der Ergebnisse berücksichtigt werden.

Um diesem Problem zu begegnen, ergänzen hier Informationen über schwer zugängliche Bereiche des Feldes die Analyse quantitativer institutionell erfasster Massendaten zu drogenkonsumierenden Personen. Als Datenbasis dienen themenzentrierte biografische Interviews mit Konsumierenden harter, illegaler Drogen, die sozial nicht auffällig, das heisst nicht auf Grund ihres Drogenkonsums polizeilich registriert oder medizinalisiert sind. Im Vordergrund steht dabei das Interesse, subjektive Einschätzungen der Konsumierenden zur Wahrscheinlichkeit der institutionellen Erfassung zu erheben.

Idealerweise liessen sich aus diesen Erkenntnissen numerische Schätzungen bisher wenig bekannter Teile der untersuchten Population herleiten. Auch wenn dies nur ansatzweise gelingt, bietet das Material die Grundlage für das Generieren von Hypothesen über mögliche oder typische protektive Faktoren, welche einen verdeckten, unauffälligen Konsum harter, illegaler Drogen ermöglichen, sowie für Aussagen über den erhöhten Immunisierungsgrad gewisser drogenkonsumierender Gruppen gegenüber repressiven oder medizinischen Institutionen. Ausserdem zeigt sich die zentrale Bedeutung der Merkmale Alter und Geschlecht. Keine Person, die fortgesetzt harte, illegale Drogen einnimmt, wird unmittelbar in eine spezifische Statistik aufgenommen und somit zur „offiziell gezählten“ Population der Drogenkonsumierenden gerechnet. Vom Zeitpunkt der Aufnahme des Konsums bis zu einer Erfassung durch die Polizei oder dem Eintritt in eine medizinische Behandlung aufgrund des Drogenkonsums verstreicht eine Weile. Die unterschiedliche Dauer dieser Zeitspanne hängt nicht bloss von dem Konsumierenden selbst, sondern auch von institutionellen Bedingungen wie Therapieangeboten und Repressionsintensität sowie von der Marktlage ab. Wäre sie für alle Konsumierenden gleich, so würde sich das Problem einer Schätzung der Gesamtpopulation im Untersuchungsfeld lediglich auf die Frage nach dem Ausmass der jährlichen Inzidenz (Neueintritte in die Population) und der jährlichen Remission (Austritte durch dauerhafte Abstinenz) beziehungsweise Auswanderung oder Ableben reduzieren. Doch die zur Verfügung stehenden Massendaten zeigen bereits eindeutig, dass Drogenkonsumierende über die Zeit unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten in Bezug auf eine institutionelle Erfassung aufweisen, und es muss angenommen werden, dass einzelne Gruppen relativ immun gegenüber dem Zugriff bestimmter Institutionen sind.

Um Anhaltspunkte zur Schätzung der Zahl derjenigen zu gewinnen, denen es gelingt, ihren Konsum harter, illegaler Drogen gesellschaftlich verdeckt zu praktizieren, sind gezielt Zugänge in dieses Feld zu suchen und biografische Informationen zu sammeln. Dabei bestehen folgende, grundlegende Fragestellungen im Vordergrund: Auf welche Art und in welchen Lebenszusammenhängen werden harte, illegale Drogen (Kokain, Heroin und andere Opiate) konsumiert, ohne dass die Konsumierenden durch dieses Handeln sozial auffällig werden und ohne dass sie vom repressiven polizeilich-judikativen Apparat entdeckt oder medizinalisiert werden? Auf welche sozialen, ökonomischen oder persönlichen Ressourcen stützen sich integrierte Konsumierende harter, illegaler Drogen, um trotz oder mit ihrem Drogenkonsum den funktionalen Alltagsanforderungen zu genügen? Welches sind die entscheidenden Unterschiede, die eine Immunisierung gegenüber den erwähnten gesellschaftlichen Kontrollmechanismen erklären können?

Unterschiede sind zu erwarten in bezug auf die Einstiegs-, die Unterbrechungs- und die Ausstiegsmotivation, die Dauer des Drogenkonsums, das Konsummuster (Konsumhäufigkeit, Konsumintensität), das Konsumsetting (regelgeleitete Ritualisierung des Konsums, Bedeutungszuschreibung des Konsums, der Droge und des Lebensstils), die Drogenbeschaffung sowie auf zentrale sozioökonomische und demografische Merkmale.

Um diesen Fragen nachzugehen, werden biographische themenzentrierte Interviews mit integrierten Drogenkonsumierenden und mit einer Kontrollgruppe von repressiv erfassten und medizinalisierten Konsumierenden analysiert. Es sollen einerseits Erkenntnisse über verschiedene individuelle Handlungsstrategien bezüglich der Organisation des Drogenkonsums und der Alltagsbewältigung sowie über die zur Verfügung stehenden protektiven Ressourcen gewonnen werden. Andererseits werden subjektive Einschätzungen zu Befürchtungen oder Erwartungen hinsichtlich Erfassung und Repression im Laufe der Drogenkarriere sowie einer freiwilligen Inanspruchnahme von Angeboten im medizinischen Sektor generiert.

Die Wahl biografischer Interviews als Methode begründet sich in der Annahme, dass Konsumierende harter, illegaler Drogen durch die Rekonstruktion ihrer Biographie subjektive Wahrscheinlichkeitsabschätzungen reflektierter und somit valider abgeben können als durch unmittelbare Antworten auf direkte diesbezügliche Fragen. Gleichzeitig liefern die biographischen Kontexte Informationen darüber, welche Beziehungen zwischen individuellen Handlungspraktiken, sozialen Situationen und konsumierten Drogen den Lebenslauf begleiten und bestimmen.

Karriereverläufe können als konkrete Ausprägungen der Strukturen sozialen Lebens nur partiell vom Individuum selbst beeinflusst werden. Dabei ist es unbedeutend, ob die objektiv gegebenen, äusseren gesellschaftlichen Einflüsse bewusst wahrgenommen werden oder nicht. Entscheidend ist hingegen, wie der einzelne Mensch seinen Lebenslauf deutet. Er benötigt eine kohärente, selbstverständliche Vergangenheit, damit er in der Interaktion mit seiner sozialen Umwelt handlungsfähig ist. Das Produkt dieses fortwährenden Prozesses ist sein Selbstbild, das heisst seine Ich-Identität sowie seine soziale Identität.
Zählmarke der ProLitteris

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