Weiterlesen © ProLitteris, Josef Estermann
8 Zusammenfassung der Forschungsergebnisse in Thesenform
I Allgemeine Thesen zum Art. 260ter StGB
1. Art. 260ter StGB wurde als Auffangtatbestand nach dem Vorbild des deutschen §129 StGB, Unterstützung einer kriminellen Vereinigung, geschaffen. Als bloßes Organisationsdelikt nimmt er neben dem als Staatsschutzartikel gedachten Art. 275ter StGB, rechtswidrige Vereinigung, eine spezielle und problematische Stellung ein.
2. Trotz umfangreicher Literatur erweist sich Art. 260ter StGB als im Grunde nicht justiziabel.
3. Die Schwäche der operationalen Definition, oder genauer deren eigentliches Fehlen, überlässt den Strafverfolgungsbehörden ein sehr großes Ermessen, welches beinahe einer absoluten Definitionsmacht im Bereich der polizeilichen und untersuchungsrichterlichen Strafverfolgung gleichkommt, die erst ex post im gerichtlichen Verfahren teilweise aufgehoben werden kann. Gerichtliche Verfahren sind jedoch selten, weil die Staatsanwaltschaften selten und ungern Anklagen wegen Verletzung des Art. 260ter an die Gerichte überweisen. Die Gefahr des Scheiterns ist allzu groß.
II Rechtswissenschaftliche Thesen
1. Beim Art. 260ter StGB handelt es sich um einen Ermittlungsparagrafen. Das heißt, dass er im wesentlichen nur für die Polizei und die Untersuchungsbehörden eine Rolle spielt, nicht aber für die Justiz.
2. Der Strafrahmen für die Grunddelikte, die der organisierten Kriminalität zugeschrieben werden, wenn sie nachgewiesen werden können, ist hoch genug. Wenn das Grunddelikt nicht nachgewiesen werden kann, wird auf das ebenfalls schwer nachweisbare Bestehen einer kriminellen Organisation nach Art. 260ter StGB ausgewichen.
3. Die Qualifikationsmerkmale des allgemeinen Strafrechts, nämlich Banden-mäßigkeit und Gewerbsmäßigkeit, reichen für die juristische Bewältigung der sogenannten organisierten Kriminalität vollumfänglich aus. Es besteht in dieser Hinsicht keine Notwendigkeit der Existenz des Art. 260ter StGB.
4. Die Beweislastumkehr nach Art. 59 StGB macht den Anschein eines wirkungsvollen Instrumentes, verliert jedoch angesichts der Beweisschwierigkeiten bezüglich des Art. 260ter StGB an Bedeutung. Hingegen bringt er Erleichterung, wenn die Strafverfolgungsbehörden in der Schweiz liegendes Geld konfiszieren wollen, welches sich in der Verfügungsgewalt von Ausländern befindet, die als Mitglieder von kriminellen Organisationen im Ausland angeklagt sind.
5. Bei der Anwendung des Art. 260ter StGB und der Verfolgung der organisierten Kriminalität zeigt sich ein grundlegendes Missverständnis zwischen Strafverfolgungsbehörden und unabhängigen Juristen besonders scharf. Beide Seiten sehen sich als Diener des Rechts. Die Strafverfolgungsjuristen sehen jedoch die Rechtsanwälte als Diener des Verbrechens, vor allem, wenn sie erfolgreich sind.
6. Die meisten analysierten Fälle beziehen sich auf Betrug, Geldwäsche und Drogenhandel, der Nachweis des Bestehens einer kriminellen Organisation spielt eine untergeordnete Rolle. In den meisten Fällen verzichten die Strafverfolgungsbehörden auf eine Verfolgung nach Art. 260ter StGB. Während die Polizei und in der Anfangsphase auch die Untersuchungsrichter organisierte Kriminalität thematisierten und damit strafprozessuale Zwangsmaßnahmen begründen, spielt diese im späteren Verfahren, insbesondere bei der Anklageerhebung, in der Regel keine Rolle mehr.
III Thesen zur institutionellen Entwicklung
A Allgemein
1. Die organisierte Kriminalität liefert nach dem Zusammenbruch der Sowjetstaaten eine Ersatzlegitimation für die Beibehaltung und Transformation geheimdienstlicher Tätigkeiten im Sicherheitsapparat.
B Justiz
2. Notwendige Restrukturierungen der Justizorganisation können mit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und der Wirtschaftskriminalität begründet werden. Die entsprechenden Strategien der Justizverwaltungen waren erfolgreich.
C Polizei
3. Der Ausbau der modernen polizeilichen Datensysteme (FAMP, ISOK, DOSIS, JANUS etc.) und die verstärkte internationale Zusammenarbeit werden in erster Linie begründet mit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Drogenhandels (was faktisch gleichgesetzt wird). Im Windschatten dieser Legitimation segelt auch der Staatsschutz. Die entsprechenden polizeilichen Strategien waren erfolgreich.
4. Die Erweiterung der Ermittlungskompetenzen, insbesondere von präventiven Vorfeldermittlungen, verdeckten Fahndern etc. wurden erfolgreich mit dem Hinweis auf organisierte Kriminalität legitimiert.
5. Die Fokussierung auf die russische organisierten Kriminalität „ROK“ ist eng gekoppelt mit der Deligitimierung der Abwehr des Kommunismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetstaaten. Die Thematisierung der „Russenmafia“ ist Teil der Relegitimation des Kampfes gegen die Gefahr aus dem Osten.
IV Thesen zur Phänomenologie
1. In den der organisierten Kriminalität zugeschriebenen Deliktsfeldern sind nicht in erster Linie durchstrukturierte Organisationen tätig, sondern kleingewerbliche Netzwerke und verbundene Einzelunternehmer mit ausgeprägter Spezialisierung.
2. Die durch die Strafverfolgungsbehörden erfasste organisierte Kriminalität ist keine Gewaltkriminalität.
3. Die durch die Strafverfolgungsbehörden erfasste organisierte Kriminalität ist geografisch schwerpunktmäßig im ehemaligen Ostblock lokalisiert.
4. In keinem einzigen Fall konnten bis jetzt in der Schweiz Hintermänner oder Bosse der organisierten Kriminalität verurteilt werden. Die Möglichkeit der Verurteilung eben dieses Personenkreises ist jedoch nach allgemeiner Meinung ratio legis des Art. 260ter StGB.
5. Die durch die Strafverfolgungsbehörden erfasste organisierte Kriminalität kommt prinzipiell aus dem Ausland.1
V Medienwissenschaftliche Thesen zur Bedeutung der organisierten Kriminalität in der Öffentlichkeit
1. Organisierte Kriminalität erfüllt alle Bedingungen für ein erfolgreiches Agendum:
a) Eine möglichst ambigue Definition,
b) die Betonung weitreichender sozialer Konsequenzen und
c) die Darstellung als einfaches Problem.
Die unscharfe Definition ist sogar Konstitutionsbedingung für organisierte Kriminalität.
2. Bezüglich der medialen Aufarbeitung und der Rezeption sind die organisierte Kriminalität und die Existenz des Art. 260ter StGB Grundlagen für ein seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erfolgreiches Agendum.
VI Politologische Thesen
1. Die politische Linke lässt sich in einen Diskurs um organisierte Kriminalität einbinden. Grund ist die Hoffnung auf eine genauso rigorose Verfolgung der Wirtschaftskriminalität und eine Stärkung des Fiskus, insbesondere des Zugriffs auf bisher unzugängliche Steuersubstrate.
2. Die politische Linke führt in Bezug auf die organisierte Kriminalität in erster Linie einen moralischen Diskurs.
3. Die politische Rechte profitiert direkt von der durch die organisierte Kriminalität legitimierte Stärkung der Staatsgewalt und die Fokussierung auf den Auslandsbezug der organisierten Kriminalität.
4. Die Verortung der organisierten Kriminalität in Osteuropa („ROK“) kompensiert den Ausfall des alten kommunistischen Gegners Sowjetunion, ermöglicht eine Fortsetzung des „Kalten Krieges“ auf Sparflamme und relegitimiert den Tätigkeitsbereich und die Mittel der Geheimdienste.
5. Die Fokussierung der „Abschottung“ der kriminellen Organisationen verdoppelt sich in der Abschottung der Polizei und der Staatsanwalten bezüglich ihrer Ermittlungsmethoden und strafprozessualen Maßnahmen und bezüglich der öffentlichen Diskussion der Einzelfälle und des Gesamtkomplexes „organisierte Kriminalität“.
VII Schlussthesen
1. Art. 260ter StGB ist eine Beispiel für eine missglückte Gesetzgebung und eine ratlose Gesetzesanwendung. Die Verfolgung der sogenannten organisierten Kriminalität hingegen spielt eine sinnstiftende und integrierende Rolle im Machtapparat und in der Gesellschaft.
2. Der drohende Missbrauch des Strafrechts zur Durchsetzung gesellschaftspolitischer Interessen und Vorstellungen lässt sich nicht durch eine Revision des Art. 260ter StGB verhindern, sondern nur durch dessen Abschaffung.
1Ein weiterer soziologischer Aspekt des Auslandbezugs, das Problem und die Mechanismen der Xenophobie, ist bereits von Heinz Steinert sehr schön beschrieben worden (Ethnizität und die Phantasie von der Landnahme: Am Beispiel von Western und Organisierter Kriminalität, in Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 19. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, des 16. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, des 11. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg i.Br. 1998, Teil 2, Opladen 1999, S. 470-485).ProLitteris