Organisierte Kriminalität Ergebnisse Estermann

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8 Zusammenfassung der Forschungsergebnisse in Thesenform

I Allgemeine Thesen zum Art. 260ter StGB

1. Art. 260ter StGB wurde als Auffangtatbestand nach dem Vorbild des deutschen §129 StGB, Unterstützung einer kriminellen Vereinigung, geschaffen. Als blo­ßes Organisationsdelikt nimmt er neben dem als Staatsschutzartikel gedachten Art. 275ter StGB, rechtswidrige Vereinigung, eine spezielle und problematische Stellung ein.

2. Trotz umfangreicher Literatur erweist sich Art. 260ter StGB als im Grunde nicht justiziabel.

3. Die Schwäche der operationalen Definition, oder genauer deren eigentliches Feh­len, überlässt den Strafverfolgungsbehörden ein sehr großes Ermessen, wel­ches bei­nahe einer absoluten Definitionsmacht im Bereich der polizeilichen und untersu­chungsrichterlichen Strafverfolgung gleichkommt, die erst ex post im gerichtlichen Verfahren teilweise aufgehoben werden kann. Gerichtliche Ver­fahren sind jedoch selten, weil die Staatsanwaltschaften selten und ungern Anklagen wegen Verletzung des Art. 260ter an die Gerichte überweisen. Die Gefahr des Scheiterns ist allzu groß.

II Rechtswissenschaftliche Thesen

1. Beim Art. 260ter StGB handelt es sich um einen Ermittlungsparagrafen. Das heißt, dass er im wesentlichen nur für die Polizei und die Untersuchungsbehör­den eine Rolle spielt, nicht aber für die Justiz.

2. Der Strafrahmen für die Grunddelikte, die der organisierten Kriminalität zuge­schrie­ben werden, wenn sie nachgewiesen werden können, ist hoch genug. Wenn das Grunddelikt nicht nachgewiesen werden kann, wird auf das ebenfalls schwer nachweisbare Beste­hen einer kriminellen Organisation nach Art. 260ter StGB ausgewichen.

3. Die Qualifikationsmerkmale des allgemeinen Strafrechts, nämlich Banden-mäßig­keit und Gewerbsmäßigkeit, reichen für die juristische Bewältigung der sogenannten organisierten Kriminalität vollumfänglich aus. Es besteht in dieser Hinsicht keine Notwendigkeit der Existenz des Art. 260ter StGB.

4. Die Beweislastumkehr nach Art. 59 StGB macht den Anschein eines wirkungsvol­len Instrumentes, verliert jedoch angesichts der Beweisschwierig­keiten bezüglich des Art. 260ter StGB an Bedeutung. Hingegen bringt er Erleichterung, wenn die Strafverfolgungsbehörden in der Schweiz liegendes Geld konfiszieren wollen, welches sich in der Verfügungsgewalt von Auslän­dern befindet, die als Mit­glieder von kriminellen Organisationen im Ausland angeklagt sind.

5. Bei der Anwendung des Art. 260ter StGB und der Verfolgung der organisierten Kri­minalität zeigt sich ein grundlegendes Missverständnis zwischen Strafverfol­gungsbehörden und unabhängigen Juristen besonders scharf. Beide Seiten sehen sich als Diener des Rechts. Die Strafverfolgungsjuristen sehen jedoch die Rechtsanwälte als Diener des Verbrechens, vor allem, wenn sie erfolgreich sind.

6. Die meisten analysierten Fälle beziehen sich auf Betrug, Geldwäsche und Drogen­handel, der Nachweis des Bestehens einer kriminellen Organisation spielt eine unter­geordnete Rolle. In den meisten Fällen verzichten die Strafver­folgungsbehörden auf eine Verfolgung nach Art. 260ter StGB. Während die Polizei und in der Anfangs­phase auch die Untersuchungsrichter organisierte Kriminalität thematisierten und damit strafprozessuale Zwangsmaßnahmen begründen, spielt diese im späteren Ver­fahren, insbesondere bei der Anklageer­hebung, in der Regel keine Rolle mehr.

III Thesen zur institutionellen Entwicklung

A Allgemein

1. Die organisierte Kriminalität liefert nach dem Zusammenbruch der Sowjetstaa­ten eine Ersatzlegitimation für die Beibehaltung und Transformation geheim­dienstlicher Tätigkeiten im Sicherheitsapparat.

B Justiz

2. Notwendige Restrukturierungen der Justizorganisation können mit der Bekämp­fung der organisierten Kriminalität und der Wirtschaftskriminalität begründet wer­den. Die entsprechenden Strategien der Justizverwaltungen waren erfolg­reich.

C Polizei

3. Der Ausbau der modernen polizeilichen Datensysteme (FAMP, ISOK, DOSIS, JANUS etc.) und die verstärkte internationale Zusammenarbeit werden in erster Linie begründet mit der Bekämpfung der organisierten Kriminalität und des Drogen­handels (was faktisch gleichgesetzt wird). Im Windschatten dieser Legi­timation segelt auch der Staatsschutz. Die entsprechenden polizeilichen Strate­gien waren erfolgreich.

4. Die Erweiterung der Ermittlungskompetenzen, insbesondere von präventiven Vor­fel­dermittlungen, verdeckten Fahndern etc. wurden erfolgreich mit dem Hin­weis auf organisierte Kriminalität legitimiert.

5. Die Fokussierung auf die russische organisierten Kriminalität „ROK“ ist eng gekop­pelt mit der Deligitimierung der Abwehr des Kommunismus nach dem Zusammenbruch der Sowjetstaaten. Die Thematisierung der „Russenmafia“ ist Teil der Relegitimation des Kampfes gegen die Gefahr aus dem Osten.

IV Thesen zur Phänomenologie

1. In den der organisierten Kriminalität zugeschriebenen Deliktsfeldern sind nicht in erster Linie durchstrukturierte Organisationen tätig, sondern kleingewerbli­che Netz­werke und verbundene Einzelunternehmer mit ausgeprägter Speziali­sierung.

2. Die durch die Strafverfolgungsbehörden erfasste organisierte Kriminalität ist keine Gewaltkriminalität.

3. Die durch die Strafverfolgungsbehörden erfasste organisierte Kriminalität ist geo­gra­fisch schwerpunktmäßig im ehemaligen Ostblock lokalisiert.

4. In keinem einzigen Fall konnten bis jetzt in der Schweiz Hintermänner oder Bosse der organisierten Kriminalität verurteilt werden. Die Möglichkeit der Verurteilung eben dieses Personenkreises ist jedoch nach allgemeiner Meinung ratio legis des Art. 260ter StGB.

5. Die durch die Strafverfolgungsbehörden erfasste organisierte Kriminalität kommt prinzipiell aus dem Ausland.1

V Medienwissenschaftliche Thesen zur Bedeutung der organisier­ten Kriminalität in der Öffentlichkeit

1. Organisierte Kriminalität erfüllt alle Bedingungen für ein erfolgreiches Agen­dum:

a) Eine möglichst ambigue Definition,

b) die Betonung weitreichender sozialer Konsequenzen und

c) die Darstellung als einfaches Problem.

Die unscharfe Definition ist sogar Konstitutionsbedingung für organisierte Krimina­lität.

2. Bezüglich der medialen Aufarbeitung und der Rezeption sind die organisierte Krimi­nalität und die Existenz des Art. 260ter StGB Grundlagen für ein seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts erfolgreiches Agendum.

VI Politologische Thesen

1. Die politische Linke lässt sich in einen Diskurs um organisierte Kriminalität ein­bin­den. Grund ist die Hoffnung auf eine genauso rigorose Verfolgung der Wirt­schaftskriminalität und eine Stärkung des Fiskus, insbesondere des Zugriffs auf bis­her unzugängliche Steuersubstrate.

2. Die politische Linke führt in Bezug auf die organisierte Kriminalität in erster Linie einen moralischen Diskurs.

3. Die politische Rechte profitiert direkt von der durch die organisierte Kriminali­tät legitimierte Stärkung der Staatsgewalt und die Fokussierung auf den Aus­landsbe­zug der organisierten Kriminalität.

4. Die Verortung der organisierten Kriminalität in Osteuropa („ROK“) kompen­siert den Ausfall des alten kommunistischen Gegners Sowjetunion, ermöglicht eine Fortsetzung des „Kalten Krieges“ auf Sparflamme und relegitimiert den Tätigkeits­bereich und die Mittel der Geheimdienste.

5. Die Fokussierung der „Abschottung“ der kriminellen Organisationen verdoppelt sich in der Abschottung der Polizei und der Staatsanwalten bezüglich ihrer Ermittlungsmethoden und strafprozessualen Maßnahmen und bezüglich der öffent­li­chen Diskussion der Einzelfälle und des Gesamtkomplexes „organisierte Kriminali­tät“.

VII Schlussthesen

1. Art. 260ter StGB ist eine Beispiel für eine missglückte Gesetzgebung und eine rat­lose Gesetzesanwendung. Die Verfolgung der sogenannten organisierten Kriminali­tät hingegen spielt eine sinnstiftende und integrierende Rolle im Macht­apparat und in der Gesellschaft.

2. Der drohende Missbrauch des Strafrechts zur Durchsetzung gesellschaftspoliti­scher Interessen und Vorstellungen lässt sich nicht durch eine Revision des Art. 260ter StGB verhindern, sondern nur durch dessen Abschaffung.

1Ein weiterer soziologischer Aspekt des Auslandbezugs, das Problem und die Mechanismen der Xenophobie, ist bereits von Heinz Steinert sehr schön beschrieben worden (Ethnizität und die Phantasie von der Landnahme: Am Beispiel von Western und Organisierter Kriminalität, in Grenzenlose Gesellschaft? Verhandlungen des 19. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, des 16. Kongresses der Österreichischen Gesellschaft für Soziologie, des 11. Kongresses der Schweizerischen Gesellschaft für Soziologie in Freiburg i.Br. 1998, Teil 2, Opladen 1999, S. 470-485).ProLitteris

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