Weiterlesen: Rahel Zschokke – Frauenhandel 3.5
© ProLitteris, Rahel Zschokke
Rahel Zschokke: Frauenhandel
3 Der Prostitutionsdiskurs
3.2 Frauenhandel in der politischen Agenda
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts kam das Thema Frauenhandel und Prostitution erneut zur Sprache. Im deutschsprachigen Raum der 80er Jahre nahmen vor allem frauenbewegte universitäre Kreise und das entwicklungspolitisch engagierte Umfeld der Kirchen das gesellschaftliche Problem wahr. Ausgangspunkt bildete zuerst die Auseinandersetzung mit dem neuen Phänomen des Sextourismus, Heiratsmigration und später die Migration von Frauen in Prostitution und andere illegale oder informelle Beschäftigungsverhältnisse. Es entstanden Frauenprojekte mit dem Ziel, Maßnahmen voranzutreiben, die präventiv wirken und die Situation der Frauen verbessern sollten. Im Bereich Frauenhandel strebte man strafrechtlich wirksame Interventionen an. Die Projekte vernetzten sich national und international, es wurden Berichte publiziert oder von Regierungskommissionen und internationalen Organisationen in Auftrag gegeben. (117)
Denn mittlerweile hatte sich die Richtung des Frauenhandels umgekehrt: Nicht mehr weisse Frauen aus Europa werden nach Süd-, Nord- und Mittelamerika, in den mittleren Osten, nach Asien und Südafrika verschifft, sondern es reisen Frauen aus den armen Ländern Asiens, Lateinamerikas, Afrikas und seit der Wende aus Osteuropa in die reichen Länder Westeuropas, Arabiens, nach Israel, Japan, Australien und in die USA.
Der Umfang des Phänomens ist unbekannt und allfällige Richtgrößen beruhen auf Schätzungen. Da das Prostituiertenmilieu und Angaben über Prostitutionskunden statistisch kaum erfasst sind, sind die Schätzungen unsicher. Immerhin sind sich Experten einig, dass beispielsweise in Albanien, das als Transit- und Herkunftsland vieler von Frauenhandel betroffenen Frauen gilt, der Anteil der Frauen, die verschleppt, entführt oder durch andere Gewalt in die Prostitution gezwungen und unfreiwillig oder gewaltsam in diesem Metier festgehalten werden, 10-15% aller Prostitutionsmigrantinnen ausmacht. Auf ähnliche Ergebnisse kommen Experten aus der Ukraine. (118)
Nach Schätzungen der EU arbeiten jährlich eine halbe Million Migrantinnen gegen ihren Willen in der Prostitution. Nach einer Daphne-Umfrage in Deutschland, Frankreich und Luxemburg stammen zwischen 62% und 82% der Migrantinnen im Sexgewerbe mittlerweile aus Osteuropa. (119) In der Schweiz kommt das Bundesamt für Polizei aufgrund einer Umfrage bei kantonalen Polizeikommandos und eigenen Hochrechnungen auf eine geschätzte Zahl von l 4’000 Prostituierten. Darin sind sowohl offiziell registrierte wie auch ein geschätzter Teil illegal arbeitender Prostituierter enthalten. Die steigende Anzahl Prostituierter lässt sich zum größten Teil mit dem wachsenden Anteil illegaler Prostitution erklären, während der Anteil legaler Prostitution sinkt. Bei den Prostituierten mit Arbeitsbewilligung macht der Drogenstrich einheimischer Frauen einen steigenden Anteil aus. (120)
Folgende Faktoren spielen bei der Wiederaufnahme des Themas Frauenhandel und Prostitutionsmigration in die internationale politische Agenda eine Rolle: (121)
1. Das Erstarken der Neuen Frauenbewegung der 70er und 80er Jahre, ausgehend von Westeuropa und Nordamerika, die die Gewalt gegen Frauen und Ausbeutung weltweit sowohl im öffentlichen wie auch im privaten Bereich zum Thema machte.
2. Das Aufkommen des exotischen Massen- und Sextourismus, wodurch das Thema des Missbrauchs von Frauen der dritten Welt durch weiße Männer (und Frauen) der ersten Welt von Sozialwissenschaftlerinnen, Politikerinnen, Sozialarbeiterinnen, Ärztinnen, Juristinnen, kirchlichen Kreisen und Hilfswerken eingebracht wurde.
3. Die Sorge des reichen Westens angesichts des Ansteigens der Migration aus den Armutsländern.
4. Das Aufkommen der üblicherweise geschlechtlich übertragenen Immunschwächekrankheit Aids und dem damit verbundenen Bedürfnis der westlichen Staaten, die wachsende Zahl ausländischer Prostituierter zum Schutz der eigenen Bevölkerung zu kontrollieren.
5. Die Öffnung der osteuropäischen Länder nach der Wende und dem damit verbundenen drastischen Anstieg von Handel mit Frauen.
Eines der grundsätzlichen Probleme im Zusammenhang mit der Bekämpfung von Frauenhandel liegt darin, dass eine Länder übergreifende, operational sowie theoretisch fundierte Definition von Frauenhandel fehlt, obwohl die Bestrebungen, den Frauenhandel zu bekämpfen, zahlreich sind. Davon zeugt eine Fülle von Resolutionen, Konventionen, Übereinkommen, Empfehlungen und Programmen, die seit den 90er Jahren von verschiedenen internationalen Organen und Organisationen formuliert wurden, ohne dass sich jedoch die mit Frauenhandel assoziierten Phänomene verringern oder eindämmen ließen.
3.2.1 Internationale Abkommen
Neben dem Verbot der Sklaverei und des Sklavenhandels in der Anti-Sklaverei-Konvention von 1926 und der ergänzenden Konvention von 1956 wird Menschenhandel in der Uno-Menschenrechtskonvention zur Bekämpfung des Menschenhandels und der Ausbeutung der Prostitution Dritter von 1949 ausdrücklich verboten. Darin heißt es: „Prostitution und das damit einhergehende Übel des Menschenhandels zum Zwecke der Prostitution sind unvereinbar mit der Würde und dem Wert des Menschen und gefährden das Wohl des Einzelnen, der Familie und der Gemeinschaft.“
Dieses Statement war zwar gut gemeint, blieb aber in der praktischen Anwendung wirkungslos. Menschenhandel wird darin als Unterform von Prostitution verstanden und hat vor allem eine „moralische“ Ausrichtung.
Diese Konvention steht sowohl als Abschluss der seit Anfang des letzten Jahrhunderts aufgekommenen Reglementierungen und Konventionen, setzt aber auch einen Akzent im neu aufstrebenden West-Europa und innerhalb der neuen Weltordnung nach den beiden Kriegen. Die Weltkriege hatten dem Frauenhandel aus Europa ein Ende gemacht, und die europäischen Frauen wurden zum Aufbau des neuen Europa gebraucht. In den darauf folgenden dreißig Jahren fand das Thema Frauenhandel in internationalen Dokumenten kaum Erwähnung. Erst Ende der achtziger Jahre taucht die Frage auf internationaler Ebene wieder auf. (122)
Die folgende Chronologie soll einen Überblick über laufende internationale und europäische Definitionsbemühungen geben, erhebt aber keinen Anspruch auf Vollständigkeit:
1979 UN-Convention on the Elimination of all Forms of Discrimination against Women. (123)
1989 Europäisches Parlament: Erste Resolution über Ausbeutung der Prostitution und Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution.
1991 Europarat hält ein Seminar ab über Zwangsprostitution und Menschenhandel als Verletzung der Menschenrechte und Menschenwürde. Eine Expertengruppe entwirft einen Aktionsplan, der Menschenhandel als Frauenhandel definiert. (124)
1992 Empfehlung Nr. 19 der UN-Konvention. (125)
1993 Europäisches Parlament: 2. Resolution: Unterschied zwischen Ausbeutung von Zwangsprostitution und Prostitution.
1993 UNO-Menschenrechtskonferenz in Wien definiert Frauenrechte als Menschenrechte. (126)
1995 Weltfrauenkonferenz Beijing, Plattform. (127)
1996 Das Europäische Parlament gibt das traditionelle Konzept von Frauenhandel zum Zwecke der Prostitution zugunsten einer weiter gefassten Formulierung auf. (128)
1996 EU-Konferenz zum Thema Frauenhandel in Zusammenarbeit mit IOM. (129)
1997 Treffen europäischer NGO. Dokument zuhanden der europäischen Ministerkonferenz. (130)
1997 Haager Ministerkonferenz. ,,Code of Conduct“. (131)
1999 EU Initiative: Stability Pact. Special Co-ordinator for South Eastem Europe. Regional Table. (132)
1999 Europol-Convention: Trafficking in Human Beings. (133)
2000 UN-Protokoll: To Prevent Supwess and Punish Trafficking in Persons, especially Women and Children. (134)
2000 Europarat: Trafficking in Human Beings for the Purpose of Sexual Exploitation. (135)
2000 Kommission der Europäischen Gemeinschaften. Rahmenbeschlüsse zur Bekämpfung des Menschenhandels werden dem Rat und dem Europäischen Parlament vorgelegt. (136)
2000 Tagung des Stability Pact für Osteuropa in Palermo. Deklaration gegen den Menschenschmuggel. Die Gesetzgebung wurde in mehreren Ländern vereinheitlicht, es fehlt aber ein Aktionsplan.
2001 Innen- und Justizminister der EU einigen sich auf einen Rahmenbeschluss. (137)
2002 Europarat: Declaration about Trafficking, vorbereitet von der Kommission Stability Pact.
2003 Vorbereitung zur Internationalen Konferenz in Slowenien: Trafficking impact on National Economies.
Aus dieser Chronologie können zwei Sachverhalte abgelesen werden: Ungelöste Definitionsprobleme sowie eine Lücke zwischen politischer Absicht/politischem Bekenntnis und der (trans-)nationalen Entwicklung eines Instrumentariums, das geeignet ist, Frauenhandel effektiv zu bekämpfen.
3.3 Am Definitionsprozess beteiligte Akteure
Am Definitionsprozess von Frauenhandel sind unterschiedliche Akteure beteiligt. Abhängig von der Berufsgruppenzugehörigkeit bringen diese ihren je spezifischen Zugang zur Problematik Frauenhandel zur Sprache. Dabei kommt den Vertretern des Rechts, der Gesetzformulierung, vor allem aber der Rechtsprechung ein besonderes Gewicht zu. Es sind gerade diese Instanzen, die aufgrund des Gewaltmonopols und der Tradition des Rechtsstaats verpflichtet sind, dafür zu sorgen, dass (soziale) Tatbestände unter entsprechende Gesetze subsumierbar sind, da sie erst dadurch ins Dispositiv des Rechts eingebunden werden.
3.3.1 Rechtliche Instanzen
Neben weiteren Kriterien, die berücksichtigt werden müssen (zum Beispiel internationale Entsprechung von Tatbeständen, Konkurrenz zu anderen Gesetzen, Tradition von Gesetzen, Absicht des Gesetzgebers), erfassen rechtliche Instanzen möglichst präzise soziale Handlungen als Straftatbestände. Bei ersatzloser Streichung des Straftatbestandes „Zuhälterei“ straffte das 1992 revidierte Schweizerische Sexualstrafrecht unter dem Titel „Strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit“ den Tatbestand Menschenhandel, ließ die Beschränkung auf Frauen und Minderjährige fallen und reduzierte die Strafdrohung. Dabei orientierte sich der Tatbestand an internationalen Abkommen. Nach der Botschaft des Bundesrats soll die Bestimmung auch Prostituierte schützen, die „voll einverstanden sind, z.B. das Etablissement zu wechseln“. (138) In diesem Punkt sind sich die Kommentatoren und Gerichte allerdings nicht einig, denn „nur ein Handeln gegen den Willen einer wahrheitsgetreu informierten Person kann als Angriff auf ein Rechtsgut pönalisiert werden“. (139) Die Bekämpfung der Prostitution schlechthin, was als Kampf gegen Windmühlen bezeichnet wird, ,,ist kein Ziel des revidierten Sexualstrafrechts. Es ist auch nicht einzusehen, inwiefern strafwürdig handelt, wer als Stellenvermittler Provisionen einsteckt.“ (140) Ein weiterer Streitpunkt ist der Begriff „Handel“, der „als Vermittlung „lebendiger Ware“, und nicht als Anwerbung zum Einsatz im eigenen Etablissement des Täters“ für strafbar erklärt wird. (141) Zudem besteht keine Einigkeit, ob jemand Handel treibt, der solche Geschäfte wiederholt tätigt oder zu tätigen beabsichtigt (142) oder ob bereits die Vermittlung eines einzigen Menschen genügt, um als Handel zu gelten. (143)
Erfasst wird zudem nur der Menschenhandel, der dazu dient, der Unzucht eines anderen Vorschub zu leisten, das heißt, dass die Betroffen der Prostitution zugeführt werden. Nicht erfasst wird der Handel zu anderen Zwecken, wie zum Beispiel der Handel mit ausländischen Arbeitskräften (Trechsel 1997: 732f). An diesem Punkt knüpft Heller an, der vorschlägt, Sexmigrantlnnen ohne entsprechende Aufenthalts- und Arbeitsbewilligung den übrigen Arbeitstätigen ohne Bewilligung, also den Schwarzarbeiterlnnen, gleichzustellen. (144) Er beruft sich auf das geschützte Rechtsgut der sexuellen Selbstbestimmung und kritisiert die Zuordnung der Prostitution zum „unsittlichen Vertrag“ als veraltet. Der Begriff des „unsittlichen Vertrags“ bedeutet, dass eine Prostituierte den Lohn, den sie mit einem Freier vereinbart hat, nicht einklagen kann, weil der Vertrag zwischen den beiden nichtig ist. Heller stuft diesen Sachverhalt als Diskriminierung von Prostituierten ein. In die gleiche Richtung zielt der Beitrag von Brigitte Hürlimann. (145) Sie postuliert, den „alten Zopf“ des unsittlichen Vertrags abzuschneiden und Prostitution als Beruf anzuerkennen. Da Prostitution in der Schweiz seit Inkrafttreten des Strafgesetzbuches (StGB), also seit 1942 als legales Gewerbe gilt und damit straflos ist und seit 1973 den Schutz der verfassungsrechtlich verankerten Wirtschaftsfreiheit genießt, (146) bedarf es lediglich einer Praxisänderung der Rechtsprechung. ,,Um Prostitution vom zivilrechtlichen Mangel der Sittenwidrigkeit zu befreien, braucht es keine Gesetzesänderungen und kein neues Gesetz – im Gegensatz zur Lösung in Deutschland. Es genügt, legal, freiwillig und selbstbestimmt ausgeübte Prostitution von Erwachsenen nicht länger unter die Sittenwidrigkeit des Art 20 Abs. 1 OR zu subsumieren.“ Die Juristin argumentiert mit einem „nachhaltig erfolgten Wertewandel in der Gesellschaft, in dem sich die Auffassungen bezüglich Sexualität, sei es außereheliche, gleichgeschlechtliche oder entgeltliche, maßgeblich geändert“ hätten, so dass sich die Gerichte nicht damit begnügen dürften, Prostitution als sittenwidrig einzustufen, nur weil das bisher immer so gehandhabt worden war (Hürlimann: 16). Vielmehr müssten sie sich am rechtlichen Umgang mit Homosexualität, mit dem Konkubinat oder mit der Ehe- und Partnerschaftsvermittlung orientieren und entsprechend auf gesellschaftliche Änderungen auch bezüglich Prostitution reagieren. Diese Auffassung von „Prostitution als Arbeit wie jede andere auch“ entspricht einem neuen Trend in der Rechtsprechung, (147) in der Gesetzgebung, (148) unter Prostituiertenorganisationen sowie bei bestimmten Nicht-Regierungsorganisationen. (149)
Worin der gesellschaftliche Wertewandel bestehen soll, ist allerdings nicht ausgewiesen. Es bleibt zu fragen, ob hier nach einer Lösung von Problemen der Frauenmigration gesucht wird, oder ob nicht lediglich ein Toleranzmodell angesprochen ist, das zwar die Arbeit der Rechtsprechung zugunsten des individualisierten Marktprinzips erleichtert, aber bloß vordergründig aufwertet, was vor 100 Jahren aus Gründen des sozialen Ausschlusses abgewertet wurde. Aufgrund der Privatisierung und Ökonomisierung gesamtgesellschaftlicher Interessen hat sich lediglich die Sozialtechnologie gewandelt, die mit Rückgriff auf die öffentliche Toleranz eine gesellschaftliche Partizipation von einer Partizipation auf dem Markt abhängig macht und ausschließt, wer sich nicht fit für den Markt präsentiert. Obwohl allgemein vorausgesetzt, greift das Toleranzmodell zugunsten des Marktprinzips insofern zu kurz, als die Kosten für die Markttauglichkeit bzw. die Kosten bei Ausschluss von der Marktpartizipation nicht vom Markt selbst getragen (Verursacherprinzip), sondern konsequent auf die betroffenen Individuen bzw. die Gesellschaft abgewälzt werden. An der Verletzung der persönlichen Integrität durch Prostitution hat sich dadurch nichts geändert. Im Gegenteil, durch eine rechtlich legitimierte Variante des Gelderwerbs durch Prostitution(smigration) wird vielen Frauen und Männern in Armutssituationen zugemutet, ihre gesellschaftliche Partizipation zugunsten kurzfristiger und defizitärer Marktpartizipation aufs Spiel zu setzen.
3.3.2 Nicht-Regierungsorganisationen (NRO)
Frauenorganisationen und NRO sind täglich konfrontiert mit Frauen in materiellen oder persönlichen Abhängigkeitsverhältnissen, die auf unsicherer oder fehlender rechtlicher Grundlage, teilweise in materieller, physischer oder psychischer Notlage, Überlebensstrategien entwickeln. Angesichts des weltweiten Wohlstandsgefälles und der strukturellen Benachteiligung von Frauen ist eine bewusst getroffene Entscheidung für die eine oder andere Form der Arbeitsmigration nicht immer mit Freiwilligkeit gleichzusetzen. NRO, Frauenorganisationen und -projekte bieten betroffenen Frauen Hilfe an, wenn diese durch vermittelte Heiratsmigration, Vermittlung in prekäre, ausbeuterische Arbeitsverhältnisse und ins Sexgewerbe in Not geraten. (150) Die Verknüpfung der Forderung nach beruflicher Anerkennung der Prostitution mit der deklarierten Freiwilligkeit von Prostitutionsmigrantinnen unterschlägt die durch materielle Notsituationen bedingte Motivation zu dieser Art von Erwerbstätigkeit, untergräbt den Solidargedanken der NRO und entzieht den staatlichen und frauensolidarischen Hilfsleistungen die Legitimationsbasis.
3.3.3 Definitionen in der Literatur
Das Autorinnenkollektiv um Elvira Niesner grenzt sich gegen erweiterte Definitionen von Frauenhandel ab: „Voraussetzungen für Menschenhandel sind gegeben, wenn Personen unter den Prämissen ihrer strukturellen Benachteiligung in ein fremdes Land, wie bspw. die Bundesrepublik gebracht werden und sie in dieser Situation von anderen Personen ausgenutzt, von ihnen fremden Interessen bestimmt werden. Von Menschenhandel ist jedoch erst dann zu sprechen, wenn diese Personen unter Anwendung von Gewalt, Zwang oder Täuschungsmanövern ihres sexuellen Selbstbestimmungsrechtes beraubt werden.“ (151)
Diese Definition lehnt sich an die bundesdeutsche Gesetzgebung an, die in erster Linie Personen vor erzwungener Prostitution, aber auch vor erzwungener Ehe und vor sexueller Fremdbestimmung unabhängig von früheren Lebensbedingungen im Herkunftsland schützen will.
Niesner et al. richten sich gegen die Entdramatisierung der Definition von Menschenhandel, die den Zwang zur Prostitution mit der Ausbeutung als Reinigungskraft gleichsetzt: ,,Der gesamte informelle Arbeitsmarkt würde als Menschenhandel etikettiert, mit einem Schlag hätten wir es mit einem Massenphänomen Menschenhandel zu tun. Weibliche und männliche Migranten in ausbeuterischen Arbeitsverhältnissen würden gleichermaßen als Opfer stigmatisiert.“ Menschenhandel im engen Sinn führt zu strafrechtlichen Konsequenzen, die Ausbeutung von Arbeitskraft in prekären Arbeitsverhältnissen nur zu staatlicher Kontrolle. Das Festhalten am Begriff Frauenhandel begründen die Autorinnen politisch: Während grundsätzlich Männer und Frauen Opfer von Menschenhandel sein können, sind in der Praxis fast ausschließlich Frauen betroffen, wenn man von Kinderhandel absieht. Frauen sind nach wie vor primäres Ziel sexualisierter Gewalt, und der Begriff Frauenhandel will auf diesen Sachverhalt verweisen. Den Begriff Menschenhandel verwenden die Autorinnen lediglich im Kontext der Strafverfolgung.
Sie grenzen sich auch klar vom Begriff Sklaverei und Zwangsarbeit (152) ab, wie ihn einige Autorinnen zur Beschreibung der vermittelten Sexmigration verwenden. (153) Bei diesen Autoren steht der Bezug zur „organisierten Kriminalität“ im Vordergrund und schließt Kinderhandel und -pornographie ein. (154) Da ein Bezug von Frauenhandel und strafrechtlich relevanter organisierter Kriminalität zumindest für die Schweiz nicht nachgewiesen werden konnte, wird auf allfällige Zusammenhänge, die andere Länder betreffen, hier nicht weiter eingegangen. (155)
3.3.4 Schicht- und Kulturbedingtheit von Definitionen
Wie der Definition von Menschenhandel im (schweizerischen und deutschen) Sexualstrafrecht liegt auch der Argumentationsweise von Niesner et al. die Verletzung des sexuellen Selbstbestimmungsrechts zugrunde. Dem Schutz der körperlichen und sexuellen Integrität kommt hier eine besondere gesellschaftliche Bedeutung zu. Dementsprechende neuere Gesetzesänderungen gründen auf langjährigen Auseinandersetzungen und Interventionen von Aktivistinnen und Forscherinnen mit dem Themenkomplex Gewalt gegen Frauen, Gewalt in der Ehe, sexuelle Selbstbestimmung, Recht auf den eigenen Körper, Abtreibungsdebatte etc. Die Schicht- und Kulturbedingtheit von Definitionen zeigt sich in der Anwendung der Begriffe auf Personengruppen außerhalb dieses Kontextes und führt zu Begriffsverwirrungen oder Widersprüchen in Interpretation und sozialpolitischen Forderungen.
Niesner et al. tun sich schwer, Prostitutionsmigration als (Schwarz-)Arbeit zu definieren, wie die Tendenz in Kreisen der Rechtsprechung nahe legt. Ohne faktischen Abhängigkeits- und Gewaltbedingungen zuzustimmen oder diese zu ignorieren, fordern die Autorinnen, den Migrantinnen ein Selbstbestimmungsrecht zuzugestehen und akzeptierend zur Kenntnis zu nehmen, dass Migrantinnen auch freiwillig, aus eigenem Entschluss, in der Prostitution arbeiten, ohne sich mit der passiven Rolle des Opfers zu identifizieren. Sie lehnen jedoch die Zuordnung zum Begriff Berufsarbeit ab. ,,Obgleich die Entscheidung eines jeden Subjekts zur Prostitution als Erwerbsarbeit anzuerkennen ist, können wir der Prostitution nicht den Status eines beliebigen Berufes einräumen“ (Niesner: 18f.). Bei der Prostitution sind nicht nur Dienstleistungen und Arbeit eingefordert, sondern der gesamte Mensch inklusive seiner Körperlichkeit ist betroffen. Deshalb ist „die Prostitution [… ] eben doch nicht eine Arbeit wie jede andere (Lohnarbeit), sondern eine Zwischenform, die sich von industrieller Lohnarbeit durch ihren Reproduktionscharakter, d.h. durch den noch existenzielleren Charakter der Entfremdung und von der Hausarbeit durch ihren industriell-professionellen Charakter unterscheidet.“ (156)
3.3.5 Politische Instanzen
Der Schweizerische Bundesrat äußerte sich bei der Gesetzesrevision des Sexualstrafrechts dahingehend, dass unter dem Artikel Menschenhandel auch Personen geschützt werden sollten, die voll einverstanden sind, z.B. das Etablissement zu wechseln. Wie im Kapitel 5 belegt ist, konnte sich diese Intention nur teilweise durchsetzen. Forderungen von Frauenkommissionen innerhalb der Legislative, wie zum Beispiel das Zeuginnenschutzrecht, findet im Moment im Parlament noch keine Mehrheit. Auch die Idee von Aussteigerprogrammen, um Prostitutionsmigrantinnen in ihrer Alltagsbewältigung im Zielland zu unterstützen, entbehrt nach Ansicht einer politischen Mehrheit der Dringlichkeit auf der politischen Agenda. (157) Die Problematik wird vor allem von Frauen und Frauenorganisationen eingebracht, und es scheint, dass sich die Mehrheit der männlichen Ratsmitglieder auf der politischen Ebene nicht sonderlich für Prostitution und Prostitutionsmigration interessieren. Aber ohne entsprechende Lobbyarbeit fehlt es an Ressourcen, um Ziele zu verwirklichen und die Auseinandersetzung mit diesem Themenkomplex voranzutreiben.
Dennoch sieht sich der Rechtsstaat, nicht zuletzt aufgrund internationalen Drucks und des Gleichstellungspostulats, zur Auseinandersetzung und zum Handeln verpflichtet. Auch im Zusammenhang mit Migrationsfragen werden die politischen Instanzen mit einer Reihe von Problemen konfrontiert, die direkt oder indirekt mit Frauenhandel verknüpft sind. Die oben dargestellte Chronologie der internationalen Bemühungen, Frauenhandel zu bekämpfen, zeigt allerdings eine Lücke zwischen politischer Absicht und Bekenntnis und der Entwicklung eines Instrumentariums, das geeignet ist, Frauenhandel effektiv zu bekämpfen.
(West-)Europa hat sich zwar auf einen gemeinsamen Rahmenbeschluss geeinigt, die praktische Umsetzung zur Bekämpfung von Frauenhandel stößt aber an Grenzen, obwohl offizielle Schätzungen eine steigende Tendenz der Prostitutionsmigration ausweisen.158 Es gibt eine Reihe von Gründen, die zur Erklärung der praktischen Ineffizienz bei der Bekämpfung von Frauenhandel dienen können. Dabei überschnei den sich die Diskurse um Nationalstaat, Recht, Gesetze, Migration, Arbeit, Frauenarbeit und Prostitution.
3.3.6 Selbstdefinition
Prostitutionsmigrantinnen mit den oben angesprochenen strukturellen Voraussetzungen stammen aus den untersten sozialen Schichten des Herkunftslandes. (159) Im Aufnahmeland hingegen nimmt die Prostituierte eine andere soziale Stellung ein. Die Gleichgültigkeit infolge sozialer Anonymität, das Fehlen von Stigmatisierung der Prostituierten und das Einkommen, das mit Prostitution in westlichen Ländern erzielt werden kann, hebt ihre soziale Position höher, als dies mit derselben Tätigkeit im Herkunftsland möglich wäre. Wenn die „Ehre der Frau“ und die „Ehre des Mannes“ in den Herkunftsländern noch einen zentralen, qualifizierten und sanktionierbaren sozialen Wert darstellen, hat der Ehr-Begriff in den Aufnahmeländern seine strukturierende Bedeutung weitgehend verloren. (160) An seine Stelle treten zunehmend vom Markt abgeleitete Werte, die eine Prostituierte mit hohem „Marktwert“ sozial höher einzustufen erlauben als eine „ehrbare“ Hausangestellte mit geringeren Einkommenschancen. Die Partizipation am internationalen Sexmarkt ist also verbunden mit der größeren Chance aufwärts gerichteter sozialer Mobilität, was diese Option gerade auch für Migrantinnen ohne entsprechende Bewilligungen attraktiv macht. Das erklärt, warum sich Frauen aus Drittweltländern und Osteuropa „freiwillig“ im Sexgewerbe betätigen und dabei einen illegalen Status und nachteilige Geschäftspraktiken in Kauf nehmen. Häufig versuchen sie, die einschränkende Illegalität mittels Scheinehen zu beheben (161) oder den illegalen Status mithilfe einer juristischen Interessenvertretung aufzuheben. (162)
Die Prostitutionsmigrantinnen äußern sich, im Gegensatz zu vielen einheimischen Prostituierten, die sich in lokalen Gruppierungen organisieren und national und zum Teil international vernetzen, öffentlich auftreten, sich mit eigenen Publikationen eine Stimme geben und sich aktiv in den Definitionsdiskurs einbringen, (163) nur ungern und vereinzelt zu ihrem Selbstverständnis. (164) Gründe dafür mögen auf der finanziellen Ebene liegen, was die Leugnung ihrer Tätigkeit als Prostituierte gegenüber der Öffentlichkeit und den Strafverfolgungsbehörden nötig macht, um einen Unterbruch ihrer Geschäftstätigkeit oder Bußenzahlungen wegen verletzter Meldepflicht oder zu langem Aufenthalt in der Schweiz zu vermeiden. Es gibt auch Gründe auf der sozialen Ebene, was den rechtlichen Status, die Sprachkompetenz, die Abhängigkeit oder Angst vor Schleppern und Zuhälterlnnen, die Konkurrenzsituation und die ethnische Vielfalt betrifft, die die Eigenanerkennung ihrer Tätigkeit außerhalb des Settings der Prostitution blockieren. Auch Merkmale der Individualstruktur können zur Erklärung beitragen: Der sozial funktionale Ehrbegriff im Herkunftsland und die daraus folgende Erpressbarkeit durch einheimische Mitwisser machen die Verdrängung oder Verleugnung ihres Status als Prostituierte nötig. Die persönliche Abwertung von Prostitution und Prostituierten und die Sichtweise von Prostitution als individuelle Privatsache oder individuelles Schicksal sind weitere Folgen der Asynchronizität des Ehrbegriffs in Herkunfts- und Aufnahmeland. Die Aufwertung des eigenen Erfolgs bei Freiern und daraus abgeleitet die Konkurrenzposition zu Kolleginnen und nicht-prostitutiven Frauen dienen kurzfristig als Strategie, die Widersprüche einer individualisierten Konzeption von Prostitution zu überbrücken. Als ergänzende Strategie, die Widersprüche in Schach zu halten, kann die temporäre Konzeption der eigenen Tätigkeit als Prostituierte verstanden werden, wie aus den Interviews und den Gerichtsprotokollen hervorgeht. Zu diesem Zweck werden Biographiemuster so konstruiert, dass sie einerseits den vorübergehenden Aspekt der Prostitutionstätigkeit betonen und andererseits so formulieren, dass sie Kontaktpersonen wie Freiern, Strafverfolgungsbehörden oder NRO plausibel erscheinen: So sind etwa das Muster der Studentin, die für ihre kostspielige Ausbildung Geld braucht oder das Muster der allein erziehenden Mutter, die für ihre Kinder aufkommen muss, oder die attraktive Touristin, die zufällig durch die vielen Freierangebote im Sexgewerbe tätig ist, gängige Biographievarianten, die besonders bei Osteuropäerinnen verbreitet sind.
Diese drei Faktoren, nämlich die individuell als höher wahrgenommene Chance aufwärts gerichteter sozialer Mobilität durch Prostitutionsmigration verglichen mit Migration in informelle legale oder illegale Arbeitsverhältnisse, die Asynchronizität des Ehrbegriffs in Herkunfts- und Aufnahmeland und die Strategien einer individualisierten Konzeption der Prostitution, hindern die Betroffenen, eine Basis für ein gemeinsames Auftreten als Arbeitsmigrantinnen zu schaffen, für ihre Rechte und Bedürfnisse selbst einzutreten und so am Definitionsprozess und der Bekämpfung von Frauenhandel aktiv mitzuwirken.
3.4 Ein migrationstheoretischer Rahmen: Grenzen des Nationalstaats
Die Regelung zur Bekämpfung des Frauenhandels ist für die EU-Mitgliedstaaten zwar rechtlich verbindlich, die Umsetzung der Gesetze und Verordnungen bleibt aber der Souveränität der einzelnen Staaten überlassen. Die Frage nach Definitionen und Interpretationen verschiebt sich auf eine andere Ebene. Durch die Unterschiede in den nationalen Gesetzgebungen, der Rechtsprechung und den Praktiken der Strafverfolgungsbehörden, Polizei und NRO präsentiert sich die Grundlage für die grenzüberschreitende Bekämpfung des international und transnational auftretenden Phänomens Frauenhandel uneinheitlich. Nicht alle betroffenen west- und osteuropäischen Staaten gehören der EU an, in vielen Ländern gilt Menschenhandel noch nicht einmal als Straftatbestand.
Dem Fehlen einer einheitlichen Definition von Frauenhandel entspricht die fehlende Harmonisierung der Gesetzeslage, ohne die eine Strafverfolgung an der Landesgrenze Halt machen muss. Ein Antrag auf Auslieferung kann nämlich nur dann gestellt werden, wenn der Anklagepunkt in beiden Ländern eine Straftat darstellt. Eine Folge davon ist das Ausweichen auf andere Straftatbestände, wie zum Beispiel auf den Art. 195 StGB, Förderung der Prostitution, oder auf Vergehen gegen die Ausländergesetze. (165) Personen, die bei Polizeikontrollen aufgegriffen werden und denen ein Verstoß gegen diese Gesetze nachzuweisen ist, werden kriminalisiert und meist sofort ausgewiesen. Im Interesse des Geschäfts stehen Prostituierte aus dem In- und Ausland bereit, die Vakanzen so schnell wie möglich wieder zu besetzen. Schlepper, Händler und Kuriere, die vom Ausland aus operieren, entgehen so einer Strafverfolgung, und die ganze Infrastruktur der ansässigen Zuhälterlnnen oder Bordellbesitzerinnen bleibt erhalten. Ausgerüstet mit entsprechender Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung ist diesen zudem schwer der Prozess zu machen, da Zeuginnen den Gerichten oft nicht zur Verfügung stehen. Inhaberinnen von Salons und Sex-Clubs treten als „Arbeitgeber“ auf und kommen nicht selten wegen „Beschäftigen von Personen ohne Arbeitserlaubnis“ (Schwarzarbeit) mit einer Buße davon oder werden von der schwereren Straftat freigesprochen, wenn es doch zu einem Prozess kommt – in dubio pro reo. Die Umsetzung der Vorgaben regelt den Zugang zum internationalen Sexmarkt folgerichtig aus marktwirtschaftlicher Sicht. Als Instrument zur Bekämpfung von Frauenhandel eignet sich dieses Vorgehen also kaum.
Hier zeigen sich zwei Aspekte, mit denen die heutigen Nationalstaaten durch das Phänomen Frauenhandel konfrontiert sind: Migration und die Grenzen bzw. die Souveränität von Nationalstaaten.
3.4.1 Migration in der Weltgesellschaft
Unter dem Aspekt von Nähe und Ferne, Gleichheiten und Ungleichheiten, mehr oder weniger fremd unterscheidet Hoffmann-Novotny zunächst drei Einwanderungswellen, beginnend mit dem 19. Jahrhundert. (166) Er datiert die erste Welle der Einwanderung in die Schweiz auf Anfang der dreißiger Jahre des vorletzten Jahrhunderts; die unter Druck geratenen deutschen Intellektuellen des Vormärz leiteten eine Fluchtbewegung größeren Stils in die Schweiz ein. Ein zweiter Höhepunkt dieser liberalen Immigration zeichnete sich nach dem Scheitern der Revolution von 1848/49 ab. Die wirtschaftlichen und politischen Impulse der als überschichtende Einwanderung bezeichneten Welle schufen maßgeblich die wirtschaftliche Grundlage für die zweite Einwanderungswelle, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einsetzte und mit dem Zweiten Weltkrieg ihr Ende fand. Diese Arbeiter-Massenwanderung bezeichnet der Autor als Unterschichtung der schweizerischen Sozialstruktur. Kennzeichnend für diese Welle ist die räumliche, kulturelle und strukturelle Nähe der Herkunftsländer wie Deutschland, Frankreich, Italien und Österreich. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts setzte dann eine der zweiten ähnliche, dritte Welle von Einwanderung ein, die den Anteil von Deutschen, Franzosen und Österreichern kontinuierlich zugunsten von Italienern und Spaniern verschob.
„In den siebziger Jahren zeichnet sich dann eine deutliche Erweiterung der migrationsrelevanten Umwelt der Schweiz ab, die den Übergang zu einer Einwanderung markiert, welche es rechtfertigt, von einer vierten Welle zu sprechen.“ (Hoffmann-Novotny, 2001: 15) Während Migranten aus angrenzenden Staaten nur noch 65% der ausländischen Wohnbevölkerung ausmachen, sind es vorerst Spanier, Jugoslawen und Türken, und bis in die neunziger Jahre zunehmend Personen aus Asien und Afrika, die in die Schweiz einwandern. Die Zahlen über die Zusammensetzung der ausländischen Wohnbevölkerung bedürfen ergänzender Angaben zur Asylmigration und zur illegalen Einwanderung, denn „dieser Einwanderungstyp gewinnt seit Anfang der achtziger Jahre zunehmend an Bedeutung, setzt den bereits aufgezeigten Trend fort und dominiert sukzessive die öffentliche Wahrnehmung und die politische Diskussion der neuen Einwanderung.“ (Hoffmann-Novotny, 2001: 18). Folgende Faktoren charakterisieren die neue Einwanderungswelle:
– Die migrationsrelevante Umwelt der Schweiz umspannt die ganze Welt, was die Heterogenität der ethnischen und nationalen Zusammensetzung der Einwanderung sichtbar erhöht und die Variation der Zugangswege (von kontingentierten Arbeitsbewilligungen über Familiennachzug bis zu Asylgesuchen und illegaler Einreise) erweitert. Dabei stellen die Sans-papiers (Migranten, die sich einer allfälligen Wegweisung durch „Untertauchen“ entziehen) ebenfalls ein neues Phänomen dar.
– Die Einwanderer konstituieren sich als ethnische Gemeinschaften, was die Chancen einer Integration und Assimilation reduziert.
– Die Flucht der Einheimischen und „alten“ Einwanderer vor neuen Migranten leitet eine soziale Entmischung von Stadtquartieren ein.
– „Diaspora-Organisationen“ kontrollieren „ihre“ Gemeinschaften, indem sie ein Machtmonopol beanspruchen und mithilfe von privaten Steuereintreibungen eine Art klandestinen Staat im Staat etablieren. Diese Praktiken sind eine Folge des Finanzbedarfs von Bürgerkriegen oder bürgerkriegsähnlichen Konflikten im Herkunftsland und dienen meinen Datenquellen zufo e auch der politischen Einflussnahme im Herkunfts- wie auch im Aufnahmeland. (167)
– Der Einfluss von Fundamentalisten nicht-säkularisierter Religionen auf Migranten, die diesen Religionen angehören, stellt strukturelle und kulturelle Selbstverständlichkeiten des Einwanderungslandes in Frage. So legitimiert die muslimische Scharia Gewalt an Ehefrauen, Töchtern und Schwestern und rechtfertigt die Verfügung über sie.
– Das Phänomen des Kriminaltourismus tritt in Erscheinung, wozu auch Aspekte des Frauenhandels zu zählen sind.
– Migranten pendeln sowohl zwischen Einwanderungsgesellschaften als auch zwischen Aus- und Einwanderungsländern. Das Phänomen ist als Transmigration und zirkuläre Migration bekannt.
Zur Charakterisierung einer vierten Weile mögen dabei nicht so sehr die einzelnen Phänomene neu sein, sondern vielmehr ihr quantitativer Aspekt. (168) Das Muster der Migration selbst, die nicht wie die vorangehenden einsetzt, einen Gipfel erreicht und dann ausklingt, sondern wohl auf unabsehbare Zeit weiterläuft, gewichtet Hoffmann-Novotny hingegen am stärksten.
Er vermutet, dass sich das neue Muster aus den Determinanten der Migration und den strukturellen Spannungen in der Weltgesellschaft ableitet. Als Folge von Spannungstransfers aus den Auswanderungsländern in die Einwanderungsländer nehmen die strukturellen Spannungen zunächst eher zu als ab. Die migrationsrelevante Umwelt der Schweiz erweitert sich, und die nationale, soziostrukturelle und die kulturelle Ferne der Einwanderer nimmt zu.
Aus makrosoziologischer Perspektive ist die Entstehung einer Weltgesellschaft die Konsequenz eines Prozesses, der sich seit Beginn der Neuzeit in Europa vollzieht: die kulturelle und strukturelle Durchdringung als „Europäisierung“ und „Verwestlichung“ der Welt. Als Ergebnis eines Jahrhunderte dauernden und in jüngster Zeit beschleunigten Prozesses von Eroberungen, Kolonisierungen, und wirtschaftlicher, touristischer, massenmedialer und kriegerischer Durchdringung ist die Globalisierung nichts anderes als eine Verwestlichung der Welt. In dieser Weltgesellschaft nehmen die Nationen auf einer strukturellen und einer kulturellen Dimension unterschiedliche Positionen ein. Hoffmann-Novotny weist darauf hin, dass sich im Zug der Globalisierung die Welt zwar verwestlicht, jedoch ohne dass die entsprechenden gesellschaftlich vorfindbare Ungleichheit der Lebensstandards und Lebenschancen – im individuellen Bewusstsein erst sichtbar werden lassen, schafft ein Potenzial an Mobilisierung und Mobilität, das sich angesichts des geringen Erfolgs kollektiver Entwicklungsanstrengungen den Weg der individuellen Mobilität via Emigration geradezu suchen muss“ (Hoffmann-Novotny: 19). Aus soziologischer Perspektive ist die Weltgesellschaft geschichtet, wobei von den unterentwickelten Ländern als internationaler Unterschicht, den Schwellenländern als Mittelschicht und den hoch entwickelten Ländern als internationaler Oberschicht zu sprechen sei. Das Schichtungskonzept impliziert grundsätzlich eine offene Gesellschaft, die soziale Mobilität erlaubt. Also versteht sich Migration als geographische Mobilität und spezifische Strategie für soziale Aufwärtsmobilität. ,,Sie ist ein Ersatz – ein fimktionales Äquivalent – für eine nicht mögliche Realisierung der genannten Werte im Auswanderungsland oder für ausbleibende kollektive Mobilität, d.h. der erfolgreichen Entwicklung eines solchen Landes, an der seine Bürger hinreichend teilhaben würden“ (Hoffmann-Novotny: 19).
Tendenziell spannungsträchtig ist der Anspruch von Unterprivilegierten auf Realisie rung von materiellen und immateriellen Werten dann, wenn etwa materielle Werte auf kriminellem Weg realisiert werden. Voraussetzung dazu ist, dass der Differenzcharakter der Weltgesellschaft via Wertediffusion individuell erkannt wird. Denn „Abermillionen von Menschen sind ganz offensichtlich nicht länger bereit, auf die Früchte kollektiver Anstrengungen zur Reduktion des Entwicklungsrückstandes und zur Verbesserung ihrer Lebenschancen zu warten […] und versuchen, durch Emigration in Länder der entwickelten Welt ihre individuelle Lebenssituation zu verbessern“ (Hoffmann-Novotny: 20).
3.4.2 Migrationsströme und Staat
Saskia Sassen (169) postuliert, dass internationale Wanderungsbewegungen durch eine ganze Reihe wirtschaftlicher und geopolitischer Prozesse entstehen und nicht einfach durch zufällige Wünsche einzelner Menschen, ihre Lebensbedingungen zu verbessern. Sie betont die Wichtigkeit der Arbeitsmigration für Europa. Wie alle Regionen, die sich durch rapides wirtschaftliches Wachstum auszeichnen, sah sich auch Europa genötigt, Arbeitskräfte von außerhalb anzuwerben. Migration ist definiert als „äußerst selektive Prozesse, wobei nur ganz bestimmte Gruppen von Menschen ihre Heimat verlassen. Diese treiben keinesfalls blind auf irgendein reiches Land zu, das sie aufzunehmen verspricht, denn Migrationswege haben eine erkennbare Struktur, die mit Beziehungen und Interaktionen zwischen Herkunfts- und Zielländern zusammenhängt“ (Sassen: 14).
Sassen weist darauf hin, dass der an Krieg und religiöse Verfolgung gebundene Begriff der Migration in historisch lebendigerer Erinnerung geblieben ist als die zahlreichen Formen der Arbeitsmigration, die den Alltag Europas ebenso prägten. Das Bild der frühen neuzeitlichen Migration in den modernen Geschichtswissenschaften wird durch Ereignisse dominiert wie die Vertreibung einer halben Million Hugenotten aus Frankreich nach 1685, die Vertreibung der Lutheraner aus Salzburg 1732, die Entstehung nationalistisch-ethnischer Bewegungen im Osmanischen Reich, die unterstützt durch west- und mitteleuropäische Mächte zu massiven Bevölkerungsverschiebungen führten, der Krieg zwischen dem Osmanischen Reich, Österreich und Russland im 18. Jahrhundert infolge Bevölkerungsverschiebungen in Südosteuropa und Kleinasien. Bereits den militärischen Beratern Napoleons war klar, dass sie die Arbeitsmigration berücksichtigen mussten, wenn sie über die verfügbaren Soldaten auf dem Laufenden sein wollten, die die französische Armee für ihre Eroberungskriege brauchte. Der Feldherr gab denn auch die erste offizielle statistische Untersuchung in Auftrag, die zwischen 1808 und 1813 durchgeführt wurde. Sie sollte das verfügbare Arbeitskräftepotential im napoleonischen Reich ermitteln, das zu diesem Zeitpunkt aus dem heutigen Frankreich, Belgien, Luxemburg, Holland, Teilen Italiens und der Schweiz und dem Westen Deutschlands bestand. Diese Untersuchung ist heute eine wichtige Quelle für detaillierte Informationen über die damaligen Arbeitswanderungen. Anhand dieser und weiterer Daten können Kategorien und Muster von Wanderungen entwickelt werden, die bis heute ihre Gültigkeit bewahrten. (170)
Auf die Darstellung der zahlreichen und vielfältigen innereuropäischen wirtschaftlichen, kulturellen, politischen Verflechtungen und Wanderungsbewegungen in der Literatur wird hier verzichtet und muss weiteren Forschungsprojekten überlassen bleiben. (171) Wir beschränken uns auf einige Hinweise, die Schweiz und Osteuropa betreffen. Wanderungen aus der Schweiz nach Osteuropa sind historisch belegt und kulturell noch immer präsent. So migrierten beispielsweise Tessiner Architekten und Bauarbeiter Ende 17., anfangs 18. Jahrhundert zum Aufbau von St. Petersburg unter den Zaren Peter des Großen und Katharina der Großen. Viele Spuren zeugen noch von der Auswanderung von Schweizer Bauern nach Russland und den östlichen Teilen des damaligen deutschen Kaiserreichs im 19. Jahrhundert oder auch von den Wanderungen von Schweizer Söldnern zu fremden Kriegsdiensten in innereuropäischen Kriegen. Die jüngste Geschichte zeigt Wanderungen in die umgekehrte Richtung. Während des Zweiten Weltkriegs wurden 1942 in der Schweiz die Grenzkontrollen verschärft und mit der „Das-Boot-ist-voll“-Politik Flüchtlinge an der Grenze zurückgewiesen. Der Bericht Koller (172) geht von 25’000 aufgenommenen Flüchtlingen aus, wobei noch eine geringe Dunkelziffer dazukommt, da es schon damals die grüne Grenze gab und auch die Einstellung der Grenzwächter zur Flüchtlingsproblematik eine Rolle spielte. (173) Über die Zahl der Zurückweisungen gehen die Meinungen der Historiker auseinander.
Als politischer Akt im Zuge des Kalten Krieges hieß die Schweiz zehn Jahre später die so genannten „Dissidenten“ aus dem Ungarn-Aufstand 1956 willkommen und bot den meist aus der Bildungselite oder religiösen Minderheiten stammenden Angehörigen eine Alternative zur Auswanderung in die USA. Bei der Niederschlagung des Prager Frühlings (1968) öffnete die neutrale Schweiz wiederum aus politischen Gründen die Grenzen für Regimegegner und ihre Familien, wiederum meist gut qualifizierte Angehörige aus ehemaligen Mittel- und Oberschichten und religiösen Minderheiten. Im Zuge des politischen Putsches gegen Solidarnosz in Polen (1980) waren Migrationsbewegungen aus Polen auch in die Schweiz zu verzeichnen. Zur Zeit des bipolaren Weltsystems waren auch Schweizer Kirchen und kirchliche Hilfswerke in Osteuropa präsent, seit 1989, zu Beginn der Entwicklung der Marktwirtschaft in Osteuropa, traten Schweizer Investoren auf den Plan. Güter, Dienstleistungen, Technologie, Kapital und damit auch Menschen, Kultur, Information, Werte passierten die Grenzen von Ost- und Westeuropa.
3.4.3 Wanderungsmotivationen
Sassen zeigt in ihrer Untersuchung, dass Faktoren wie Verfolgung, Armut und Überbevölkerung erst im Rahmen umfassenderer politischer und wirtschaftlicher Strukturen und Ereignisse zum tatsächlichen Auslöser für Wanderungsbewegungen werden. Migrationen sind in Strukturen eingebettet, die sowohl Umfang und Dauer begrenzen wie auch ihre geographische Richtung festlegen. So führten etwa die Anfänge der europäischen Industrialisierung, insbesondere die Entwicklung der Manufaktur und der Ausbau der Eisenbahn zu großen Wanderungsbewegungen im ausgehenden 18. bis zum ausgehenden 19. Jahrhundert. Die Modernisierung verlief national und regional in sehr unterschiedlichem Tempo. Da die einzelnen Staaten nicht über die dazu notwendigen administrativen und technischen Kapazitäten verfügten, gab es in dieser Epoche so gut wie keine Grenzkontrolle. Erst mit der Entwicklung der Nationalstaaten seit etwa Mitte 19. Jahrhundert münden Fragen der Migration letztendlich in Fragen nach der Bedeutung von Grenzen.
Die heutige Tendenz zur Entwicklung grenzfreier Wirtschaftsräume einerseits und die Wiederbelebung von Grenzkontrollen, um die Einreise von „unerwünschten“ Immigranten und Flüchtlingen zu verhindern andererseits, zeigt das Spannungsfeld zwischen Wirtschaft und Staat in der Zeit eines neoliberalen Globalisierungsschubs auf. ,,Der gegenwärtige Austausch von Kapital, Waren, Iriformationen und Kultur lässt die heutigen Bemühungen zur Beendigung der Einwanderung als paradox erscheinen. Denn während die Regierungen und die Wirtschaft der hoch entwickelten Länder die Rolle der Staatsgrenzen verringern und transnationale Räume entwickeln wollen, wächst der Widerspruch zwischen ihrer Einwanderungspolitik und den anderen politischen Rahmenbedingungen des internationalen Systems sowie der zunehmenden weltwirtschaftlichen Integration“ (Sassen: 17). Sie führt die trotz einwanderungspolitischen Maßnahmen aktuell steigende Zahl legaler und illegaler Einwanderer nach Westeuropa auf die schwierige Bewältigung der Gleichzeitigkeiten gegensätzlicher Systeme zurück. Während in all diesen Ländern neben einer Öffnung der Wirtschaft für ausländische Investoren und Märkte auch die Nachfrage nach billigen Arbeitskräften zu beobachten ist, wobei sich billig nicht nur auf mangelnde Qualifikationen bezieht, führt die Entwicklung eines globalisierten Wirtschaftssystems zu einem Bedeutungsverlust nationaler Regierungen und Grenzen, vor allem hinsichtlich der Kontrolle internationaler Geschäfte. In der Einwanderungspolitik spielen die alten Konzepte von Nationalstaat und Staatsgrenzen denn weiterhin eine entscheidende Rolle. Parallelen zu diesem Dilemma lassen sich auch in Umdeutungen der Definitionen des Begriffs „Flüchtling“ erkennen.
3.4.4 Flüchtlinge und Arbeitsmigranten
Die Encyclopedia Britannica von 1796 bezieht den Begriff refugee nicht mehr nur auf die Protestanten, sondern auf alle, die ihr Land in Notzeiten verlassen müssen, d.h. auch auf die émigrés, die Adligen, die ihr Land während der Revolution verließen. Bis Mitte 19. Jahrhundert gab es in Deutschland kein Wort für Flüchtlinge. Man sprach von „Heimatlosen“ oder „Staatenlosen“. Aber die merkantilistische Politik des Ancien Regime nahm Einwanderung als positiven Faktor eines Zuwachses von Ressourcen wahr. Flüchtlinge, die meist gebildet und manchmal wohlhabend waren, fanden deshalb freundliche Aufnahme. Der wachsende Nationalismus seit 1848 und die Kriege von 1864 bis 1871 waren Auslöser größerer Flüchtlingsbewegungen. Nicht alle europäischen Länder hielten an einer liberalen Politik zum Schutze der Rechte von Emigranten fest. Die überwiegend armen Flüchtlinge lebten in den Aufnahmeländern meist mit den einheimischen Arbeitern zusammen, und die Lebensbedingungen der politischen Flüchtlinge und der Wanderarbeiter glichen sich zunehmend an. Viele Flüchtlinge waren in Gewerkschaften und sozialistischen Gruppen aktiv und nutzten ihr Exil zum Aufbau der Parteien der späteren Revolution. Das bewog Frankreich, zwischen 1894 und 1906 mehr als 1600 Ausländer unter der Beschuldigung des Anarchismus auszuweisen. Nach dem Ersten Weltkrieg setzte sich der Begriff Flüchtling auch in Deutschland durch.
Die enge Definition der Genfer Konvention von 1921 bezieht sich im Prinzip auf Menschen, die aus der eben gegründeten Sowjetunion flüchteten und weist dem Staat eine aktive Rolle bei der Identifizierung und Aufnahme der Flüchtlinge zu. Diese Praxis setzt ein starkes System zwischenstaatlicher Beziehungen voraus, wie sie die westeuropäischen Staaten erst nach dem Ersten Weltkrieg durch den Ausbau von technischen und administrativen Kapazitäten zur Grenzkontrolle und zur Regelung von Aktivitäten auf dem eigenen Territorium geschaffen haben. Die realen massenhaften Flüchtlingsströme in Europa, u.a. in Gestalt von 2,5 Millionen Personen jüdischen Glaubens, die aus Russland und Osteuropa vertrieben wurden, traten schon vor dem Ersten Weltkrieg, aber auch danach in Erscheinung. Die Bedeutung dieser Flüchtlingsströme als Herausforderung an die Definitionsmacht der Staaten war eher klein, da der Arbeitskräftebedarf der USA sie großenteils absorbierte. Europäische Regierungen regulierten die Einwanderung, indem sie den Transit der Armen förderten und die Wohlhabenden zum Bleiben ermutigten. Jüdische Gemeinden gründeten Hilfsorganisationen, die die Auswanderung in die USA organisierten und die zurückgebliebenen Familien in Osteuropa unterstützten. Der so genannte Alien Act von 1905 sollte der bisherigen englischen Politik der offenen Tür Grenzen setzen und die Einreise mittelloser Ausländer einschränken. Dieses Gesetz unterschied zwischen Flüchtlingen und Immigranten, wobei mit Flüchtlingen nicht Massen verfolgter armer Menschen gemeint waren, sondern politische Aktivisten und verfolgte Revolutionäre. Vertriebene osteuropäische Juden waren demnach keine Flüchtlinge. In der Praxis jedoch fanden diese Bestimmungen selten Anwendung, sodass weiterhin auch arme jüdische Migranten einwandern konnten.
Heutige Fluchtbewegungen aus Asien und Afrika oder aus dem Balkan und anderen Ländern stellen zwar den engen Flüchtlingsbegriff in Frage, beschäftigen aber die Öffentlichkeit vor allem im Kontext der Asylmigration. Nach dem Ende des Kalten Krieges gewinnen Fragen nach der Legitimität der Fluchtgründe an Aktualität. Reine Wirtschaftsflüchtlinge haben in dieser Debatte europaweit einen schweren Stand sich zu legitimieren.
3.4.5 Asylmigration
Der Zustrom von Asylsuchenden stieg zwischen 1980 und 1991 in den meisten westeuropäischen Ländern um das Fünffache an, Deutschland war das wichtigste Aufnahmeland. In der Schweiz stiegen die Zahlen von 6100 (1980) auf über 40’000 (1991) (Sassen: 122). Der Zusammenbruch des Ostblocks und der Kriegsausbruch in Jugoslawien verstärkte die Zahl derer, die in Westeuropa um Asyl nachsuchten. Die Länder Westeuropas entwickelten eine neue einheitliche Politik zur Steuerung der Asylbewegungen, die an bilaterale Abkommen und innereuropäische Personenfreizügigkeit gebunden ist. Die Änderungen in der Asylpolitik, die einen Asylantrag ausschließen, wenn die Asylsuchenden sich vorher in einem sicheren Drittland aufgehalten haben, verringerte die Zahl der Asylbewerber. Als Konsequenz dieser Politik sahen sich mittel- und südeuropäische Länder jetzt gedrängt, die westeuropäischen Einreisebeschränkungen für die Massen der Flüchtlinge und Asylbewerber zu unterstützen.
Die politischen Maßnahmen zur Erschwerung der Einreise und der Anerkennung des Flüchtlingsstatus zeigen Wirkung. Die Zahl der Asylbewerber sinkt in einigen Ländern Westeuropas und ehemalige Auswandererländer wandeln sich zu Einwandererländern. (174)
In Mitteleuropa bilden Asylbewerber und Flüchtlinge immer noch eine kleine Gruppe, aber ihre Zahl steigt. So suchten Migranten in Ungarn oder der Tschechei Asyl, wobei die Zahl der Asylanten die tatsächlichen Aufnahmegrenzen bei weitem nicht erreichen, auch weil sie nach kurzer Zeit diese Aufnahmeländer wieder verlassen. (175) Aber auch Portugal, Spanien und Italien verstärkten ihre Kontrollen und beschränkten die Einreise auch von Personen ehemaliger Kolonien gemäss Schengener Abkommen. Diese restriktiveren Methoden gegenüber Asylmigranten führten auch zu sinkenden Anerkennungsraten von Flüchtlingen in EG-Ländern. Allerdings existieren in den EU-Staaten sowie in der Schweiz Abstufungen von Aufenthaltsgenehmigungen. So erwachsen etwa aus der Duldung aus humanitären Gründen oder aus dem Titel der vorläufigen Aufnahme weniger Rechte als aus einem Flüchtlingsstatus. Sie bedrohen aber ein unsicheres Asylbegehren nicht mit der sofortigen Ausweisung. Aus diesen Gründen ist es möglich, dass viele Ausländer oft über Jahre mit provisorischem oder unsicherem Status in Westeuropa leben.
Die Studie von Efionayi-Mäder et al. befasst sich mit den Determinanten der Verteilung von Asylgesuchen innerhalb westeuropäischer Zielländer und mit der Frage, inwiefern diese sich aus einem bewussten Wahlprozess von Seiten der Flüchtlinge ergibt. Die grundsätzliche Frage, inwiefern Asylmigration auch in ihrem Verlauf gezwungenermaßen fremdbestimmt und folglich mit eng gefassten Theorien individuellen rationalen Verhaltens prinzipiell nicht deutbar ist, musste offen gelassen werden. „Empirische Studien von Migrationshistorikerinnen zeigen nicht nur, dass eine Unterscheidung zwischen ,freier‘ und ,erzwungener‘ Migration schwierig zu halten ist, sondern dass diese Typologie für die Untersuchung des Migrationsprozesses oft hinfällig wird“ (Efionayi-Mäder: 20). Obwohl Motivationen von Flüchtlingen und Arbeitsmigranten sehr unterschiedlich sein können, erweisen sich die Disparitäten in der Praxis als weniger offensichtlich als vermutet. „Personen beider Gruppen sind gezwungen, Entscheide zu treffen (ob und wohin sie migrieren), beide sind auf soziale Netze und Informationen angewiesen und suchen (bessere) Lebensmöglichkeiten.“ (176) Die Autorinnen gehen von der Annahme aus, dass die meisten Flüchtlinge trotz vielfältiger Sachzwänge wenigstens über beschränkte Wahlmöglichkeiten verfügen, wobei strukturelle Rahmenbedingungen nicht ausgeblendet werden dürfen. Sie schätzen die juristisch relevante Frage der Beweggründe für das Exil als relativ unbedeutend ein. Sie schließen sich in dieser Hinsicht der vielfach geäußerten Auffassung an, wonach Migrationsmuster im Asylbereich (zunehmend) vielfältig sind und politische, soziale und ökonomische Beweggründe nicht immer klar getrennt werden können. Sie verwenden denn auch den Begriff Flüchtling für alle Personen, die Asyl suchen, ohne Anspielung auf eine juristisch nachweisbare Flüchtlingseigenschaft. In diesem Zusammenhang weisen Efionayi-Mäder et al. auf die Grenzen der überholten – aber weithin beliebten – individuellen Push and Pull-Konzeption hin und zeigen gleichzeitig das Potenzial alternativer Deutungen im Zusammenhang mit sozialen Netzwerken oder Kettenmigration auf, wie sie bisher vorwiegend im Bereich Arbeitsmigration erforscht worden sind. Auf die zentrale Frage der Studie, ob und inwieweit es möglich ist, Migrationsbewegungen von Flüchtlingen durch eine gezielte Politikgestaltung in den Aufnahmestaaten zu steuern, kommen sie zur Antwort, dass der Verlauf der Asylmigration innerhalb europäischer Staaten tatsächlich bis zu einem gewissen Grad beeinflussbar ist. Die Analyse der Migrationsflüsse belegt, dass ein Teil der Asylsuchenden infolge von nationalen Politikänderungen auf andere Länder ausweicht. Dies gilt zumindest hinsichtlich restriktiver oder kontrollverstärkender Regelungen. Grundsätzlich bewirken die Politikänderungen allerdings nur eine vorübergehende Umverteilung der Migrationsbewegungen, nicht aber einen generellen Rückgang des gesamten Volumens. ,,Dies hängt damit zusammen, dass alle Länder bemüht sind, die Ausgestaltung der Asylpolitik den neuesten Entwicklungen in anderen Staaten anzugleichen, um nicht zu einem bevorzugten Zufluchtsort von Asylsuchenden zu werden. Zwischen 1992 und 1999 bleibt das Gesuchsvolumen in den Aufnahmestaaten insgesamt konstant, wenn man von vorübergehenden Schwankungen und einer leichten Zunahme in Großbritannien, Österreich und der Schweiz absieht“ (Efionayi-Mäder: 154).
Umfassende Gesetzesänderungen, wie sie die meisten europäischen Staaten Mitte der 90er Jahre einführten, beschränken die Einreisemöglichkeiten und den Zugang zum Asylverfahren. Sie zeigen aber nicht auf alle Herkunftsgruppen die gleiche Wirkung. Die Umverteilungseffekte sind für Flüchtlinge gewisser Nationen ausgeprägt (Irak, Somalia, Sri Lanka), für andere nicht (Jugoslawien, Türkei). Daraus leiten die AutorInnen ab, dass „Angehörige jener Herkunftsgruppen, die im Aufnahmekontext sozial gut verankert sind, das heißt über Gemeinschaften von etablierten ArbeitsmigrantInnen verfugen, sich in der Wahl des Zielortes durch asylpolitische Maßnahmen am wenigsten beeinflussen lassen. Ferner tendieren auch Massenfluchtbewegungen in Länder zu fließen, zu denen bereits enge soziale Beziehungen bestehen, während sich die Asylsuchenden in „üblichen“ Zeiten eher auf unterschiedliche Destinationen verteilen“ (Efionayi-Mäder: 154). Dies verdeutlicht die zentrale Rolle, die soziale Netze im Entscheidungs- und Migrationsprozess spielen. Soziale Netze liefern nicht nur materielle Ressourcen zur Verwirklichung der Wanderung. Der Migrationsprozess verstärkt auch die bestehenden Beziehungen durch neue materielle und soziale Verpflichtungen. Asylpolitik und Aufnahmepraxis erscheinen sekundär im Vergleich zur Möglichkeit, auf die Unterstützung von Verwandten zurückgreifen zu können. Ein ebenso wichtiges Kriterium für die Wahl eines Aufnahmelandes bildet der vorläufige Schutz und die Garantie von Grundrechten im Aufnahmeland. Einzelmaßnahmen bezüglich Sozialhilfe oder Zugang zum Arbeitsmarkt haben keinen feststellbaren Einfluss auf die Asylflüsse, was sich darin zeigt, dass die Mehrzahl der Flüchtlinge über die Ausgestaltung der Asylregimes nur oberflächlich informiert sind. Die AutorInnen betonen aber, dass die Migrationsstrategien variieren können, je nach Ausgangslage und Umständen der Wanderung. Nicht nur der Wissensstand über individuelle Unterschiede der Aufnahmeländer weicht von Herkunftsgruppe zu Herkunftsgruppe ab, sondern ebenso die Beurteilung der Aufnahmebedingungen. Die Geographie der Migrationsflüsse hängt auch von der Eigendynamik der Migrationsverläufe ab, wobei diese von geostrategischen Voraussetzungen, Entscheiden von Verwandten oder Drittpersonen sowie durch Schlepperaktivitäten geprägt werden. Letztere sind vor allem bezüglich asylpolitischen, strategischen und ökonomischen Kriterien relevant und spielen bei der Steuerung von interkontinentalen Migrationsbewegungen eine zentrale Rolle. Die AutorInnen kommen zum Schluss, dass Migrationsstrategien nicht auf die Folgen individueller Motivationen und Entscheidungen reduziert werden können und wünschen sich die Erforschung der Wanderungen in ihrer sozialen, wirtschaftlichen und politischen Einbettung unter Berücksichtigung der Schlepperstrategien.
3.4.6 Illegale Wanderungen
Illegale Aus- und Einwanderungen sind seit jeher bekannt. Im Laufe der Geschichte sahen sich Emigranten und Immigranten immer wieder mit gesetzlichen Schranken konfrontiert, je nach der jeweiligen Politik und den Regelungen eines Landes, die Gruppen zum Bleiben und andere zum Weiterreisen motivierten, je nach schwankendem Bedarfs an Arbeitskräften und infolge von Kriegen, Bürgerkriegen oder ethnisch-religiösen Ausgrenzungen.
In den frühen 70er Jahren schränkten die meisten westeuropäischen Länder die Arbeitsmigration stark ein. Die Rezession infolge der Ölkrise und der Rückgang der industriellen Produktion ließ in vielen westlichen Regionen die Nachfrage nach ausländischen Arbeitskräften sinken. In den Aufnahmeländern Westeuropas stieg der Bestand der ausländischen Bevölkerung aber trotz Einwanderungsstopp durch natürlichen Zuwachs, Familienzusammenführung und dem kontinuierlichen Zustrom ausländischer Arbeitskräfte, die auf anderen Wegen ins Land kamen. Die ausländische Population hatte sich in den 70er Jahren in westeuropäischen Aufnahmeländern vervierfacht, eine Größe, die weder die wachsende Zahl illegaler Einwanderer noch die Rückkehrer und ihre Nachkommen oder Einwanderer aus früheren Kolonien, die die jeweilige Staatsbürgerschaft besaßen, berücksichtigt. (177) Während Rückkehrer oder Nachkommen von bereits Ansässigen nach geltendem Recht der einzelnen Länder aufgenommen werden, betrifft die illegale Einwanderung alle Aufnahmeländer. Es wird angenommen, dass die Zahl der illegalen Einwanderer durch den Einwanderungsstopp für Asylmigranten und durch die Einschränkungen bei der Gewährung von Asyl gestiegen ist. Für das Jahr 1993 schätzt das ILO die illegalen Einwanderer in Europa auf vier bis fünf Millionen. Ob diese Schätzungen allerdings die Realität abbilden, ist schwer nachzuprüfen. (178) Wissenschaftlicher Forschung im Graubereich der Legalität sind enge Grenzen gesetzt.
3.4.7 Illegale Tätigkeiten
Die Geschichte kennt viele Beispiele von illegalen Aktivitäten im Zusammenhang mit Migration: Angefangen bei den Ausweisungen von Einwanderern aus Frankreich, die des Anarchismus verdächtigt wurden, über die unerwünschten gewerkschaftlichen Tätigkeiten russischer Einwanderer in Deutschland bis zu den Aktivitäten der sizilianischen Patenorganisationen in den USA. Die italienische Mafia in Nordamerika, die ihre Herrschaftsstrukturen und ihren Machtanspruch vom südlichen Italien und Sizi lien auf italienische Ethnien in den USA exportierte und offensichtlich ziemlich erfolgreich war, gab den Prototyp dieser Verbindung ab. Inwiefern die Kriminalisierung der Aktivitäten durch eine entwickeltere und restriktivere Gesetzeslage im Aufnahmeland (Prohibition, Verbot der Prostitution) gerade die Voraussetzung schuf, den Zugang zu diesen Bereichen über ethnische Zugehörigkeit zu finden und ökono misch Fuß zu fassen, zeigt die historische Mafia-Forschung. (179) Die Konzeption der „Organisierten Kriminalität“, wie sie in der heutigen Gesetzgebung oder in Lageberichten von Polizei oder Interpol formuliert ist, orientiert sich noch immer am Bild der Mafia. (180) Voraussetzungen für die klassischen Aktivitäten der Mafia wie Prostitution, Alkoholvertrieb während der Prohibition, Schutzgelderpressung und Gewaltanwendung waren nebst der gesetzlichen Grundlage des Verbots dieser Güter und Märkte eine Monopolstellung auf der Grundlage von genügend großen Ethnien, die im Sinne Efionayi-Mäders eine zentrale Rolle bei der (Ketten-)Migration spielen. Darauf aufbauend ist anzunehmen, dass bei Arbeitsverbot, Arbeitslosigkeit oder ungenügenden Maßnahmen zur Integration im Aufnahmeland, die Stärke und Relevanz solcher Netzwerke zunehmen.
Aufgrund von Lageberichten der Polizei ist bekannt, dass der heutige Drogenhandel in der Schweiz je nach Art der Drogen hauptsächlich von Gruppen aus zwei Ethnien kontrolliert wird, die hier ebenfalls eine Migrationspopulation bilden (Balkan, eine Ethnie aus zwei afrikanischen Staaten). Die Motivation zu illegalen Aktivitäten beruht sicher einmal auf ökonomischen Opportunitäten, sich die Nachfrage nach illegalen Gütern zunutze zu machen und den Marktvorteil der wanderungsbedingten Logistik wahrzunehmen (Drogenhandel, Kleinkriminalität). Anlässe zu Kriminalität können aber durchaus auch politisch (Schutzgelderpressung, Geldbeschaffung zur Finanzierung von Bürgerkriegen, Waffenhandel) oder kulturell (Beschneidung von Mädchen, Blutrache) begründet sein. Wenn in den Aufnahmeländern entsprechende Aktivitäten unter dem Mantel von liberaler Toleranz geduldet werden, beeinträchtigt dies die Rechtssicherheit von unbeteiligten Migranten und Einheimischen und lässt die Grenzen der Legalität verschwimmen. Auf dieser Grundlage setzt sich eine vereinfachte, rassistisch motivierte Wahrnehmung des Zusammenhangs von Migration und illegalen Aktivitäten leicht durch.
In der Literatur ist die Existenz von internationalen Banden und internationalen Märkten des Waffen- und Prostitutionshandels unbestritten. „Internationale Banden haben sich in Polen und Tschechien, mittlerweile auch zunehmend in den USA, vor allem in Chicago und New York, Operationsbasen erschaffen“ (Sassen: 132). Es ist zwar bekannt, dass osteuropäische und russische Frauen auf den westeuropäischen und anderen Märkten als Prostituierte arbeiten und dass Frauen aus der früheren Sowjetunion, aus Rumänien und Jugoslawien in mitteleuropäischen Märkten in diesem Metier aktiv sind. Die Angaben beruhen aber auf Schätzungen, da keine umfassenden Studien dazu vorliegen. Morokvasic schätzt, dass allein in Warschau 3000 Prostituierte aus den GUS-Staaten aktiv sind.
Angesichts solcher Phänomene und unbefriedigenden Datenlagen empfiehlt Besozzi einen marktanalytischen Ansatz, gibt aber zu bedenken, dass das Potential einer entsprechend ausgerichteten Methodik „nur dann zum Tragen kommt, wenn es gelingt, über rein ökonomische Aspekte der illegalen Märkte auch die soziologische und kulturelle Perspektive miteinzubeziehen.“ (181) Eine verlässliche Quelle zur Erfassung und Einschätzung von illegalen Aktivitäten von Migranten bieten nebst Kriminalstatistiken die Rechtsprechung sowie die Einschätzungen von Strafverfolgungsbehörden und Organen der Grenzkontrolle. Welche Aspekte von illegalen Aktivitäten durch diese Quellen erschlossen werden können, hängt von weiteren Faktoren ab. Ausgehend von der Rechtslage sind die internationale Harmonisierung und die operationalen Begriffsdefinitionen zu berücksichtigen. Das Anzeigeverhalten von Betroffenen, der Grad an sozialer Kontrolle sowie Ressourcen, die zur Ahndung von Rechtsbrüchen zur Verfügung stehen, sind weitere Determinanten, die Aufschluss über illegale Aktivitäten im Zusammenhang mit Migration geben.
3.4.8 Prostitutionsmigration
Das Wörterbuch der Soziologie definiert Wanderungen oder Migration als Prozesse regionaler Mobilität innerhalb einer Gesellschaft oder zwischen verschiedenen Gesellschaften und ihren geographischen und kulturellen Lebensbereichen. (182) Dabei wird unterschieden zwischen (1) Binnen-, Ein- und Auswanderung, (2) freiwilliger oder erzwungener Wanderung, (3) zeitlich begrenzter oder dauernder Wanderung. Meiner Datenlage zufolge lässt sich das Phänomen Frauenhandel zuerst als freiwillige Binnenwanderung von ländlichen Gebieten in die Städte, aber auch als zeitlich beschränkt konzipierte Aus- bzw. Einwanderung Richtung Ost-West bzw. Süd-Nord einordnen. Zumindest vom strafrechtlich auffälligen Anteil ergibt sich aus diesem Muster eine unfreiwillige Rückwanderung, beispielsweise von bei Polizeikontrollen aufgegriffenen Ausländerinnen, die der Prostitution ohne entsprechende Bewilligung nachgingen und ausgewiesen werden. Freiwillige Rückwanderungen gibt es bei Personen, die die zeitliche Beschränkung des Touristenvisums einhalten, oder bei Personen, die Zwangsverhältnissen entkommen wollen. Daneben existieren zweifellos die durch Anwendung von Gewalt aus Profitinteresse Dritter erzwungene Binnen-, Aus- und Einwanderung, Weiterwanderung in Drittländer oder so genannte assisted returns. (183) Von Februar 2000 bis Mai 2001 beanspruchten einem Bericht der IOM Kosovo (184) zufolge drei bis 23 Personen monatlich die Einrichtung der assisted returns. Der Bericht spricht von beachtlichen 66% der Personen, die durch Razzien der Polizei aus der Prostitution „befreit“ wurden, gegenüber 18% selbständigen Aussteigerinnen. (185) Den gleichen Quellen zufolge sind Frauenhandelsrouten bekannt, die sich, von Russland ausgehend, in der Ukraine (Kiew) treffen, um sich von dort über Ungarn, Jugoslawien nach Kosovo und weiter nach Albanien, Mazedonien, Rumänien, Bulgarien und Moldawien auszubreiten. (186)
3.4.9 Grenzen der Nationalstaaten
Wie Balkanländer und osteuropäische Staaten mit dem Problem des Frauenhandels umgehen, erforschen und beobachten seit längerem verschiedene Projekte westeuropäischer Regierungen und der USA, aber auch verschiedene Hilfswerke sowie internationale Organisationen (WHO, ILO, IOM, OSCE). (187) Das mazedonische Strafrecht beispielsweise kennt keinen Artikel, der Menschenhandel unter Strafe stellt, was zeigt, dass der Handel mit Frauen als Straftat nicht genügend anerkannt ist. Wenn in Mazedonien eine Strafverfolgung wegen Frauenhandels aufgenommen wird, gründet diese auf der Rechtsgrundlage von zwei Artikeln des Strafrechts: der Zuführung zur Prostitution (Zuhälterei) und der illegalen Grenzüberschreitung. Im Moment nimmt allerdings eine neu gebildete nationale Kommission zur Bekämpfung von Menschenhandel ihre Arbeit mit dem Ziel auf, die Legislation den internationalen und europäischen Standards anzupassen. Das Protocol to prevent, suppress and punish trafficking in persons, especially women and children, welches Teil der UN-Konvention gegen transnationale organisierte Kriminalität ist (IOM Skopje), verlangt eine diesbezügliche Harmonisierung. Dass allerdings Korruption als großes Problem bei der Bekämpfung von Frauenhandel und anderen Verbrechen gegen Leib und Leben beispielsweise in Albanien erkannt ist, bestätigt die OSCE-Vertretung in Tirana. (188) Unter Ost-Europa-Experten ist unbestritten, dass die Korruptionsrate in den GUS-Staaten allgemein sehr hoch ist. (189)
3.4.10 Schlepper, Grau- und Schwarzmärkte
Die hohe Korrumpierbarkeit der lokalen Strafverfolgungsbehörden führt Juchler einerseits auf fehlende oder nicht funktionierende demokratische Strukturen infolge Machtvakuums staatlicher Gewalt zurück, und andererseits verleitet das extrem tiefe Lohnniveau staatlicher Angestellter verglichen mit dem relativ hohen Einkommen, das auf Schwarz- oder Graumärkten im Land selber oder in Westeuropa erzielt werden kann, zu Korruption. Auch die Schweiz ist nicht von Beamtenbestechung verschont, wie ein Gerichtsfall im Zusammenhang mit Frauenhandel am Flughafen Zürich zeigt. (190) Dies stützt die Vermutung, dass Akteure des Grau- oder Schwarzmarktes – wozu die Organisation der Prostitution zu zählen ist – auf eingeübte Praktiken der Bestechung zurückgreifen, um ihre wirtschaftlichen Interessen durchzusetzen. Wenn Korruptionspraktiken in westlichen Ländern nur als Einzelfälle auftreten, so bleibt das Problem der Schwarz- und Graumärkte doch aktuell. Dass gerade mit der kommerziellen Ausbeutung weiblicher und männlicher Sexualität durch Prostitutionsmigration namhafte Geldbeträge mit geringem Risiko am Fiskus vorbei erwirtschaftet werden können, trägt nicht dazu bei, diese Geschäftstätigkeiten, „als Arbeit wie jede andere auch“ zu legitimieren, unabhängig von moralischen Vorstellungen. Begriffe wie „Freiwilligkeit“, „sexuelle Selbstbestimmung“ oder „freigewählte Arbeit“ treten in der Charakterisierung der Prostitutionsmigration deutlich in den Hintergrund angesichts der ökonomischen Potenz des Geschäfts mit der internationalen Prostitution, die sich auf der Grundlage von Korruption, fehlender Gesetzesharmonisierung, mangelnder Durchsetzungskraft und beschränkter Reichweite von Gesetzen entfaltet.
Wenn also in der Prostitution tätige Frauen ohne entsprechende Bewilligungen, sowohl in West- als auch in Osteuropa, aufgrund von Ausländergesetzen des Landes verwiesen werden, trifft man damit lediglich das schwächste Glied einer Kette. Der illegale Status der Prostitutionsmigrantinnen fördert die Abhängigkeit von VermittlerInnen, Zuhälterlnnen und Bordellinhaberlnnen, was eine profitträchtigere Ausbeutung ihrer individuellen Ressourcen ermöglicht. Zudem behindert das Bewusstsein des illegalen Status die Anrufung von amtlichen Stellen, außer etwa in Notfällen, was zur Verdeckung strafrelevanter Geschäftspraktiken führt. Und nicht zuletzt entspricht es dem üblichen Geschäftsinteresse, immer neue, „unverbrauchte“ Personen in der Prostitution anbieten zu können, um der Nachfrage zu genügen. Dass damit Tendenzen zur Eigenverantwortung über Erwerb von Sprachkompetenz, Informiertheit über geltende Gesetze, Kontakt mit NRO, Anrufen von medizinischen und amtlichen Stellen durch eine kurze Aufenthaltsdauer untergraben werden, dient ebenfalls dem Geschäft als Ganzem. Denn die Nachfrage nach Verdienstmöglichkeiten macht es Anwerbern leicht, dem internationalen Geschäft mit der Prostitution genügend Frauen auch ohne Anwendung von Gewalt zuzuführen.
3.4.11 Migration und soziale Mobilität
Wenn Hoffmann-Novotny Migration als spezifische Strategie für soziale Mobilität durch geographische Mobilität charakterisiert, trifft dies nach Sassen bestenfalls für einen kleinen Teil der historischen Migranten zu.
Wirtschaftlich bedingte Migration im Ancien Régime überschnitt sich mit der Wanderung von Flüchtlingen, was die zwei Seiten eines Dilemmas repräsentiert, mit dem der Staat bei der Beschränkung oder Initiierung der Abwanderung seiner Bürger konfrontiert war. Im 17. und 18. Jahrhundert waren regionale und lokale Arbeitswanderungen mehr oder weniger zyklisch und bildeten ein regelmäßiges Muster von Kommen und Gehen. In gewissem Rahmen war auch die Entstehung von Migrationsketten beobachten: Deutsche ließen sich in Amsterdam nieder und Franzosen in Spanien. Denn für die Städte des Ancien Régime mit ihrer merkantilistischen Politik war Einwanderung ein positiver Faktor, ein Zuwachs an Ressourcen. „Migration um des beruflichen Fortkommens willen war allerdings auf Menschen beschränkt, die in Staat oder Kirche eine hohe Stellung einnahmen. [..] die Arbeitswanderer in Europa waren weder Aufsteiger noch mittellose Vagabunden. Wirtschaftliche Akteure auf der Suche nach einem neuen ökonomischen Status waren Migranten im Ancien Regime nur im Rahmen der Kolonisation“ (Sassen: 45).
Die Zunahme von Handels- und Industriekapital im Zuge der ökonomischen Entwicklungen und die Bemühungen, einheitliche Nationalstaaten aufzubauen und die Herrschaft der Familiendynastien abzuschaffen, führten nach 1848 zu einer Veränderung der Mobilität der Arbeitskräfte. Durch das Wachstum der Städte, den Ausbau der Transportwege und die zunehmende Bedeutung der Fabrikarbeit entstand ein riesiger Bedarf an Arbeitskräften, doch gab es auch Opfer der neuen Wirtschaftsordnung, die sich nach dem Scheitern der Revolutionen sehr schnell durchsetzte. Die Industrialisierung hatte die alten Subsistenzformen auf Bauernhöfen und in Handwerksbetrieben zerstört. Die Kleinbauern verarmten, wurden überwiegend von Geld abhängig und waren zur Wanderung gezwungen. Dazu kam die Aufhebung der Leibeigenschaft, die im Anschluss an frühere preußische Reformen jetzt auch in Russland und Österreich vollzogen wurde und eine wachsende Schicht besitzloser, elender und umherziehender Arbeitskräfte freisetzte. Die ins Exil gezwungenen Revolutionäre und politischen Flüchtlinge, in der Regel hochgebildete und wohlhabende Patriotinnen und Patrioten, verloren sich in einer Masse mittelloser Flüchtlinge und Vertriebener.
„Durch die Veränderungen in Europa verlor die Kolonisation ihren bisherigen Eroberungscharakter und wurde zur Massenflucht vor der Not. Die Migration nach Übersee war häufig genug eine Überlebensfrage, etwa im Fall der Hungersnot, die Mitte des 19. Jahrhunderts in Irland eine Million Opfer forderte und eine weitere Million zur Emigration zwang“ (Sassen: 48). Während geographische Mobilität zunehmend zu einem Akt der Verzweiflung wurde, verwischten sich auch die Unterschiede zwischen Arbeits- und Flüchtlingsmigration, und die Lebensbedingungen glichen sich mehr und mehr an.
Aber auch Gegentendenzen im Sinne Hoffmann-Novotnys sind belegt. Leslie Moch (191) weist darauf hin, dass junge Frauen seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur in die Städte gingen, um dort im Haushalt, in den Mühlen oder als Näherinnen zu arbeiten, um so der wirtschaftlichen Not auf dem Lande zu entrinnen. Sie verließen ihr bisheriges Umfeld auch, um sich in den Städten vor allem als Lehrerinnen ausbilden zu lassen und sich eine Stelle zu suchen. Dass gerade Frauen die Gelegenheit für sich nutzten und geographische Mobilität mit sozialem Aufstieg zu verbinden wussten, muss vor dem Hintergrund von neuen Möglichkeiten sozialer Mobilität gesehen werden, die unabhängig von einem Ehemann angestrebt werden konnte. Denn materiell und rechtlich abhängig von potenziellen Ehemännern, hatte sich auch der soziale Status der Ehefrau dem des Mannes anzupassen. Angesichts von Verarmung oder erzwungener Migration der Kleinbauern und Landarbeiter drohte durch die Ehe möglicherweise ein sozialer Abstieg. Aber „die Entwicklung des modernen Nationalstaats und der Kolonialreiche in Übersee sowie die Bildung neuer Staaten bot auch Männern ganz neue Aufstiegsmöglichkeiten durch Migration, zum Beispiel bei Behörden, bei der Post oder bei der Kolonialpolizei“ (Sassen: 59).
Für Max Weber ist die berufliche Mobilität untrennbar mit der Entwicklung der modernen Bürokratie verbunden, in der Ämter nicht weitervererbt werden, sondern prinzipiell jeder qualifizierten Person offen stehen. Damit bietet die moderne Bürokratie allen dieselben Aufstiegschancen. Dass er dabei wohl weniger an Frauen gedacht hat, lehrt uns die Geschichte. An der Schwelle zum 20. Jahrhundert bis in die Zwischenkriegszeit bestand jedenfalls eine relativ hohe Rückkehrquote von US-Migranten in ihre Heimatländer, was nicht für ein Massenphänomen der Berufs- oder Karrieremigration spricht. Ein Drittel aller Migranten wanderten zurück. Selbst in den USA war sozialer Aufstieg durch Mobilität sehr viel seltener als vermutet, wenn auch häufiger als in Europa. (192) Sassen geht davon aus, „dass sich das Phänomen Karrieremigration zum größten Teil auf Lehrerinnen und Lehrer, Kolonialbeamte und andere Berufsgruppen im Staatsdienst beschränkte“ (Sassen: 61). Für den größten Teil der Migrantinnen und Migranten war geographische Mobilität wohl eher mit dem Kampf ums Überleben und ungewissem Ausgang verbunden.
Heute unterscheidet man Einwanderer der ersten und zweiten Generation. In die Schweiz immigrierten Personen aus Italien, Spanien, später aus Portugal, der Türkei, dem ehemaligen Jugoslawien und aus anderen Ländern, um Arbeit und ein Auskom men zu finden, zumeist aus unteren Bildungsschichten stammende Gastarbeiter, überwiegend in niedrigeren Berufspositionen und für tiefere Löhne arbeitend. Es kann von einem Phänomen der Unterschichtung gesprochen werden. (193) Für die zweite Generation zeigt sich im Vergleich mit der einheimischen erwerbstätigen Bevölkerung eine gewisse, wenn auch geringere strukturelle Benachteiligung als noch bei den Eltern. (194) Über die strukturellen Benachteiligungen, über die Lebenssituation und die soziale Lage der zweiten Ausländergeneration in der Schweiz ist recht wenig bekannt. Komparativ angelegte Studien, die verbindliche und allgemeingültige Aussagen und Interpretationen zulassen, sind selten. Die Studie von Meyer-Sabino (195) über italienische Gastarbeiterkinder zeigt, dass diese gegenüber der einheimischen Bevölkerung in verschiedener Hinsicht strukturell benachteiligt sind: Sie sind in Sonderklassen übervertreten, sie wiederholen häufiger eine Schulstufe, sie gehen nach der obligatorischen Schulbildung vermehrt keiner weiteren Ausbildung nach, sie besuchen mit geringerer Wahrscheinlichkeit höhere Schulen. Die gleiche Studie belegt für türkische Angehörige der zweiten Generation noch schlechtere Werte. Die ganze zweiten Generation ist im Vergleich mit der schweizerischen Bevölkerung bezüglich Bildung und beruflicher Stellung benachteiligt. (196) Mit der Frage, inwiefern sie diese Benachteiligung als belastend empfinden und welche Anpassungsformen und Bewältigungsstrategien sie entwickeln, befasst sich die Studie von Hämming und Stolz. (197) Im Sinne von Mertons Konzept der Ziel-Mittel-Diskrepanz (198) gehen sie von einem klassischen anomietheoretischen Ansatz aus. Sie definieren strukturelle Integration als Statusintegration, als volle Teilhabe am gesellschaftlichen Positionssystem, nach Hoffmann-Novotny (1973) als Partizipation an der Gesellschaft. Dabei folgen sie der Annahme von einer noch immer weit verbreiteten Erfolgsorientierung und einer generellen Präferenz für hohe Statuspositionen gegenüber tiefen. Sie kommen zum Schluss, dass die „türkische und die italienische Zweite Generation tatsächlich strukturell desintegriert und benachteiligt ist. Das gilt jedoch nur im Hinblick auf die Bildung und die berufliche Stellung – nicht jedoch bezüglich des Einkommens. Auch ist die Statusdifferenz bzw. -distanz zur Schweizer Vergleichspopulation bei den türkischen Befragten insgesamt größer als bei den ita lienischen“ (Hämming: 194). Daraus resultieren erhöhte Statusfrustration, verstärkte normative Desorientierung und soziale Verunsicherung. Eine „erhöhte Aggressivität, eine verstärkte latente Depressivität sowie ein vermindertes Selbstwertgefühl“ infolge von Deprivations- und Orientierungsanomie treten sowohl bei den Angehörigen der Zweiten Generation als auch bei der Schweizer Kontrollgruppe auf. Neben diesen und anderen Befunden zeigen die Autoren, „dass die Variable ,Nationalität‘ durch wegs einen Einfluss bei der Erklärung migrations- bzw. zweitgenerationsspezifischer Adaptationsmuster behält“ (Hämming: 195).
Hilpert (199) bestätigt den Befund von Hoffmann-Novotny (1973: 240f. 266), der schon früh auf die „neofeudale Absetzung nach unten“ als Reaktion auf strukturelle Spannungen und Anomie der ersten Generation und einer Zurückstufung des Anspruchsniveaus und Akzeptierung der Benachteiligung hingewiesen hat. Danach akzeptieren Angehörige der ersten Generation ihre strukturelle Benachteiligung, d.h. ihre marginalisierte Lage und ihren Status als „billige Arbeitskräfte“, eher.
Ob also geographische Mobilität als Strategie für soziale Mobilität für die Migranten selbst (erste Generation) von Bedeutung ist, muss stark bezweifelt werden. Eine gegenteilige Annahme ließe sich dadurch begründen, dass die strukturelle Integration in der Herkunftsgesellschaft insofern intakt ist, als dass auch potentielle Migranten über ihre ethnische Zugehörigkeit selbstverständlich daran partizipieren. Handelt es sich dabei um eine Gesellschaft, die im Sinne Max Webers nicht offen ist und weder demokratische Instrumente entwickelt hat noch politisch-ökonomische Voraussetzungen zu deren Entwicklung erfüllt, ist es denkbar, dass eine in sich geschichtete Auswanderungsgruppe mit einer tiefen Statusposition in der Aufnahmegesellschaft vorlieb nehmen muss. Aus der Perspektive des Aufnahmelandes präsentieren sich die Migranten als einheitliche (Unter-)Schicht, obwohl sie in der Herkunftsgesellschaft durchaus an differenzierten und höheren Positionen partizipieren können. Dies dürfte besonders dort zutreffen, wo gesellschaftliche Schranken Träger von bestimmten Attributen in der Integration und Partizipation begünstigen bzw. sie davon ausschließen. Dabei ist etwa an die Dominanz einer Ethnie bzw. Religion bezüglich ethnischen oder religiösen Minderheiten in einer von Nationalismus bzw. nicht säkularisierter Religion geprägten Gesellschaft, an Kastensysteme oder eben an das Geschlechterverhältnis in patriarchalischen Gesellschaften zu denken. Die Frage bleibt, inwiefern , Betroffene den Statusverlust durch Migration über Geldflüsse im Aufnahme- bzw. Herkunftsland kompensieren oder wie der Statusgewinn bestimmter Migrantenkolonien durch Desintegration in der Herkunftsgesellschaft bestraft wird. Das Konzept der geographischen Mobilität ist als Strategie zur sozialen Mobilität hinsichtlich Differenz und Integration sowohl im Herkunfts- als auch im Aufnahmeland zu überdenken bzw. zu erforschen.
3.4.12 Zusammenfassende Thesen zu Migration
Für Kategorien von Migranten, die in ihrem Herkunftsland relativ zu ihrer Schichtzugehörigkeit aufgrund eines Attributs wie zum Beispiel „Geschlecht“ auf einer unteren Statusdimension positioniert sind, kann die geographische Mobilität als individuelle Strategie zur sozialen Mobilität begriffen werden, welche von der Schichtzugehörigkeit und der damit verbundenen Kultur abhängig ist.
Ist aufgrund der Schichtzugehörigkeit im Herkunftsland oder weiterer im Zielland statusrelevanter Faktoren wie Ausbildung, Alter usw. mit einer langfristigen oder definitiven Zuweisung auf die unteren Statuspositionen zu rechnen, wird diese zugunsten von leicht zugänglichen, im Herkunfts- sowohl wie auch im Aufnahmeland statusrelevanter Kompensationsfaktoren in Kauf genommen (Gelderwerb, Heirat mit einer „integrierten“ Person).
Je größer die Kluft ist zwischen statusrelevanten Faktoren im Aufnahmeland und der Möglichkeit, solche im Herkunfts- oder im Aufnahmeland zu erwerben, desto stärker werden Kompensationsfaktoren (wie Gelderwerb) gewichtet, bzw. treten jene in den Hintergrund.
Schlepper- und Schlepperorganisationen nützen die Disposition zu Wanderung als Gelegenheit und erleichtern sowohl den Zugang zu Arbeitsmärkten im Graubereich wie auch den Zugang zum Zielland selber.
Der Kompensationsfaktor Geldeinkommen dient der Aufbesserung oder Erhaltung der Statusposition für sich selbst oder für die Familie im Herkunftsland oder dient der Vorbereitung sozialer Mobilität der zweiten Generation.
Dank den Personenfreizügigkeitsabkommen der Schweiz mit den EU-Mitgliedstaaten genießen Bürgerinnen und Bürger dieser Länder Niederlassungsfreiheit im Land ihrer Wahl. Um eine Stelle anzutreten, genügt eine Erklärung an das lokale Melderegister. In den nächsten Jahren sollen begleitende Maßnahmen bei der Arbeitsaufnahme Lohndumping bei Personen aus dem EU-Raum verhindern. Da „Prostituierte“ keine geschützte Berufsbezeichnung ist, entzieht sich die Prostitutionsmigration aus EG-Ländern behördlicher Kontrolle. Wie von lokalen Behörden zu erfahren ist, zeichnet sich besonders in Grenzgebieten wie Basel, Genf, Tessin und Ostschweiz ein erhöhtes Aufkommen von Prostitutionsmigrantinnen aus den Nachbarländern ab.
Die heutige Anwendung des Rechts überlässt den Marktkräften die Regelung der europäischen Prostitutionswanderung, da eine rechtliche Grundlage fehlt, um europäische Prostituierte von einheimischen zu unterscheiden. Für alle gelten die gleichen Restriktionen aufgrund kantonaler Verordnungen (wie z.B. Zonenpläne etc.) und die gleichen eidgenössischen Gesetze (Art. 195 StGB). Allerdings ist Prostitution nur als „selbständig Erwerbende“ rechtlich unbedenklich, eine Situation, die für viele Einheimische und die meisten Migrantinnen wohl nicht zutrifft. Während sich Niedergelassene an die gleichen Regeln wie Einheimische halten müssen (Steuerabgaben, Krankenkasse, Sozialversicherung etc.), können sich Pendlerinnen oder Kurzaufenthalterinnen diesen Auflagen entziehen, was die Möglichkeit zum illegalen Gelderwerb erhöht.
Heutige Anwendungen des Rechts im Zusammenhang mit Migrationsprostitution und Frauenhandel konzentrieren sich auf Personen aus Nicht-EU-Ländern. Werden diese ohne entsprechende Arbeits- und Niederlassungserlaubnis der Tätigkeit als Prostituierte überführt, werden sie als „unerwünschte Ausländer“ meist sofort ausgewiesen, ohne dass ein Prozess gegen Schlepper und Händler angestrengt wird.
3.5 Der Diskurs um soziale Gerechtigkeit
„Der Mensch also ist es im Grunde nicht, der ein Schicksal hat, sondern das Subjekt des Schicksals ist unbestimmbar. Der Richter kann Schicksal erblicken, wo immer er will; in jeder Strafe muss er blindlings Schicksal mitdiktieren.“ Walter Benjamin (200)
Dass die Anziehungskraft des Westens ungebrochen ist, zeigen wohl seine Kritiker am besten. Gerade die Kritisierbarkeit, die Möglichkeit des partiellen Scheiterns, die blinden Flecken zeichnen die westliche Kultur durch die Entwicklung eines Instrumentariums an demokratischen Einrichtungen, der Einbindung in rechtsstaatliche Maximen und persönlichen Freiheitsrechten zu deren Bearbeitung und Weiterentwicklung aus. Was sich heute als offene, freiheitliche westliche Gesellschaft präsentiert, durchlief aber, wie aus der europäischen und amerikanischen Geschichte hervorgeht, eine lange, wechselvolle, umstrittene und variantenreiche Entwicklungsdynamik, die bis heute anhält. (201)
Mittel- und osteuropäische Staaten wollen sich dieser Dynamik durch einen EU-Beitritt (wieder) anschließen. Differenzen zur westeuropäischen Tradition treten in Form von Bedingungen, die an eine Partizipation geknüpft sind, aus dem politischen, wirtschaftlichen und juristischen Bereich hervor. Durch ihre beschränkte Verhandelbar keit bieten sie der westlichen Kultur eine Herausforderung zu eigener, kritischer Überprüfung und kultureller Profilierung.
Parallel dazu zeigen sich auf der individuellen Ebene Anachronismen und Schwachstellen des moralisch rechtsverbindlichen Systems in seiner westlichen Form, zum Beispiel dort, wo Migrantinnen auf asynchrone Geschlechterverhältnisse treffen – für Migrantinnen und Aufnahmegesellschaft eine Herausforderung.
Denn, wie Lüderssen (202) formuliert: „Diktatur oder Chaos. Tertium datur: das Recht – entweder noch Herrschaft oder schon nur mehr Anarchie verbürgend – auf der Basis von Gleichheit und Freiheit. So einfach zu sagen und so schwer zu machen. Denn Gleichheit gibt es nicht.“
Anmerkungen
117 KOK (Bundesweiter Koordinierungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt an Frauen im Migrationsprozess e.V.) (Hg.) (2001): Frauenhandel(n) in Deutschland; Konrad, Helga, Bundesministerin für Frauenangelegenheiten (Hg.) (1996): Frauenhandel, Wien: Bundeskanzleramt; FIZ, Fraueninformationszentrum, Schweiz (Hg.) (1998): Migration von Frauen aus Mittel- und Osteuropa in die Schweiz, Zürich: FIZ; EU-Aktionsprogramm Daphne zur Bekämpfung von Gewalt gegen Kinder, Jugendliebe und Frauen; Solwodi e.V. (2003) (Hg): Grenzüberschreitendes Verbrechen – Grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Schutz, Beratung und Betreuung von Gewalt- und Menschenhandelsopfern. Ein Handbuch für die Praxis, Boppard: Solwodi. Diverse Jahresberichte z.B. in Deutschland und andern Ländern: Solwodi e.V., agisra e.V., La Strada; in Osteuropa: z.B. Animus Association Foundation (2000): Trafficking in Warnen. Question and Answers, Sofia; InterSOS (2000): Survey on Violence Against Warnen and Trafficking in Rural Areas. Tirana; weitere Länderberichte von OECD, IOM, Unicef.
118 Persönliche Mitteilungen von Eglantina Gjermeni, Leiterin des Women Center in Tirana; Edlira Haxhiymeri, Head of Department Sociology, Universität Tirana; Repräsentantin von Frauenfragen der IOM Mission in Albania; Frank Ledwidge, OSCE Presence in Albania; Lamara von Albertini, Juristin, ehern. IOM Repräsentantin in der Ukraine.
119 Solwodi (2003) und Jahresbericht 2000.
120 Persönliche Mitteilung von J. Probst, Abteilung „Sitte“ der Stadtpolizei Zürich.
121 Vgl. Referat der österreichischen NRO-Vertreterin Christina Boidi, LEFÖ, Österreich, gehalten am 24. September 1999 in Zürich anlässlich der FIZ-Tagung zu Frauenhandel, Fraueninformationszentrum für Frauen aus Afrika, Asien und Lateinamerika, Zürich.
122 Die UNO-Menschenrechtskonferenz (Wien 1993) erklärt die Frauenrechte zu Menschenrechten und definiert den „Internationalen Frauenhandel“ als eine Form geschlechtspezifischer Gewalt. Sie verlangt ihre Eliminierung auf wirtschaftlichem Gebiet, durch Entwicklung und mit Hilfe der nationalen Gesetzgebung. Die Weltfrauenkonferenz (Beijing 1995) erweitert die Definition, indem sie Frauenhandel nicht ausschließlich auf Prostitution reduziert, sondern auch andere aktuelle Formen mit einschließt (Heiratshandel, Handel mit Arbeitskräften für „informelle“ Arbeit). In den Resolutionen des Europäischen Parlaments wird das traditionelle Konzept von Frauenhandel zum Zwecke der Prostitution zugunsten einer weiter gefassten Formulierung aufgegeben. Darin sind vor allem Zusammenhänge mit Migration angesprochen. Der Europarat organisiert 1991 ein Seminar über „Zwangsprostitution und Menschenhandel als Verletzung der Menschenrechte und Menschenwürde“ und gründet eine Expertengruppe.
123 Artikel 6 der Konvention verlangt von den Mitgliedstaaten gesetzliche und sonstige Maßnahmen, um alle Formen des Frauenhandels und der Ausbeutung von Frauen zu unterbinden.
124 Frauenhandel bezieht sich auf legale und illegale Auswanderung mit dem Ziel der Prostitution oder zu jeglicher anderer Form der sexuellen Ausbeutung, unabhängig von der Einwilligung der Betroffenen.
125 Darin heißt es: ,,Poverty and unemployment increase opportunities for trafficking in women.“ Das Augenmerk wird auf „new forms of sexual exploitation, such as sex tourism, the recruitement of domestic labour, organized marriages“ gerichtet.
126 Die Weltfrauenkonferenz definiert Frauenhandel als eine Form von geschlechtsspezifischer Gewalt und verlangt deren Eliminierung durch internationale Kooperation, Entwicklung und mit Hilfe nationaler Gesetzgebung.
127 Unter Absatz 130b fordert die Plattform „Maßnahmen zur Ermittlung von Ursachen, die den Frauen- und Mädchenhandel zwecks Prostitution und anderer Formen des Sexgewerbes sowie Zwangsheirat und Zwangsarbeit begünstigen“. Ihr Ziel ist die Eliminierung von Frauenhandel.
128 Die Kommission des Europäischen Parlaments verlangt, dass „das illegale Veranlassen einer Person, in ein anderes Land zu reisen, [. ..} um diese durch Täuschung, Zwang oder Ausnutzung ihrer verwundbaren Situation (…) auszunutzen“ unter Strafe fällt.
129 International Organisation of Migration (IOM). In einer Mitteilung wird „die Erteilung einer befristeten Aufenthaltserlaubnis für Opfer des Frauenhandels, die bereit sind, als Zeugen auszusagen“ gefordert.
130 Das Dokument fordert nebst einer klaren, eindeutigen Politik gegen Frauenhandel, ,,alle Formen von Frauenhandel einzubeziehen“. Wichtig bei der Bekämpfung ist den Autoren und Autorinnen des Dokuments die Identifizierung der verletzten Rechte sowie die Vermeidung von Begriffskonfusionen. Frauenhandel soll bekämpft werden, indem Rechte der Frauen abgesichert werden. Ein Verhaltenskodex zur Wiedergutmachung für Opfer des Frauenhandels ist im Dokument enthalten.
131 Die Haager Ministerkonferenz legt in ihrem Code of Conduct eine Arbeitsdefinition von Frauenhandel vor (gainful sexual exploitation) und begreift. Frauenhandel im Kontext von Gewalt gegen Frauen. Sie erkennt Frauenhandel als „eklatante Verletzung der Frauenrechte“ an.
132 Nebst Organisationen wie UNO, UNHCR, OECD, IOM partizipieren auf Ministerebene fast alle Länder der Region und die USA. Ziel ist, Stabilität in der Region mit geeigneten Maßnahmen zu unterstützen. Die Aufgabenbereiche Migration, Asylum, Refugees, Regional Initiative werden zu MARRI zusammengefasst und Vorstände für die verschiedenen Bereiche bestimmt. Regelmäßig tagen sogenannte ,,Regional Tables“. Das Amt des Anti Trafficking Chair hat zur Zeit Helga Konrad, Wien, inne.
133 Der Zusammenschluss der europäischen Polizei (Europol) hat sich auf den Begriff Trafficking in Human Beings (THB) geeinigt, der verschiedene Straftaten im Zusammenhang mit Migration umfasst: Prostitution, Zwangsarbeit, Formen von Kindsadoption, Menschenschmuggel, Kinderpornographie, Organschmuggel u.a..
134 Das Supplement des UN-Protokolls gegen Transnational Organized Crime umfasst „the recruitment, transportation, transfer, harbouring or receipt of persons, by means of coercion, abduction, fraud, deception, abuse of power, of a position of vulnerability, of the giving or recieving of payments (TIP) […] to achieve the consent of a person […], for the purpose of exploitation. Exploitation includes […] the exploitation of the prostitution of others, forced labour or services, servitude.“
135 Empfehlung des Europarats Nr. R 11 besagt: ,,Hearing in mind that Europe has recently experienced a considerable growth of activities connected with THB for the purpose of sexual exploitation, often linked to organised crime [..] includes the exploitation andlor transport or migration – legal or illegal- of persons, even with their consent“.
136 Der Rahmenbeschluss definiert „Menschenhandel als strukturelles Problem mit weitreichenden Folgen für das soziale, wirtschaftliche und organisatorische Gefüge unserer Gesellschaften“. Die EU ist seit 1996 aktiv in der Bekämpfung von Menschenhandel in Kooperation mit NGO und Strafverfolgungsbehörden. Sie hat z.B. das Programm „Daphne“ lanciert.
137 Die Regelung postuliert eine enge rechtliche und polizeiliche Zusammenarbeit und sieht einen einheitlichen Strafrahmen für alle EU-Länder in der Bekämpfung von Frauenhandel vor (Neue Zürcher Zeitung vom 29.7.2003).
138 Botsch. 1086.
139 Stratenwerth (1995): BT I, § 9, N 18.
140 Trechsel, Stefan (1997): Schweizerisches Strafgesetzbuch. Kurzkommentar, 2.A., S. 732.
141 Rechtsprechung mit eingehender Begründung des Schweizerischen Bundesgerichts BGE 96 IV 118ff.
142 Jenny, Guido (1997): Art. 196 N 5; Stratenwerth, Günther (1995): § 9, N 19.
143 Rehberg, Jörg und Schmid, Niklaus (1997): S. 414.
144 Heller, Heinz (1998): Schwarzarbeit: Das Recht der Illegalen. Diss. Zürich.
145 Hürlimann, Brigitte (2004): Prostitution – ihre Regelung im schweizerischen Recht und die Frage der Sittenwidrigkeit. Freiburg: Diss.
146 BGE 68 IV 40ff.
147 Argumentation in BGE 6S.765/1999/hev vom 24. Januar 2000.
148 In Deutschland ist seit Dezember 2002 ein Gesetz in Kraft, das Prostitution als Arbeit anerkennt.
149 In der Schweiz z.B. Aids-Hilfe Schweiz, FIZ Zürich, Aspasie Genf; in den USA z.B. COYOTE.
150 Vgl. FIZ: Jahresbericht 2000; FIZ (Hg.) (1998): Migration von Frauen aus Mittel- und Osteu ropa; Jahresberichte der GAATW, gegr. 1994: The Global Alliance against Traffic in Warnen
– GAATW, Chiangmai.
151 Niesner, Elvira, Anonuevo, Estrella, Aparicio, Marta, Sonsiengchai-Frenzl, Petchara (1997): Ein Traum vom besseren Leben. Migrantinnenerfahrungen, soziale Unterstützung und neue Strategien gegen Frauenhandel, S. l 5f.
152 Den Begriff Sklaverei definieren Niesner et al. als eine staatlich legalisierte Leibeigenschaft, die mit Verkaufsrecht, Tötungsrecht sowie der Kontrolle über Fortpflanzung einhergeht. Zwangsarbeit steht für den staatlich verfügten Zwang zur Arbeit während einer Strafvollzugsmaßnahme.
153 Altink, Sietske (1995): Stolen Lives. Trading Women into Sex and Slavery; Phongpaicht, Pasuk (1997): Trafficking in People in Thailand.
154 Vgl. dazu Shannon, Sarah (1997): Prostitution and the Mafia: The Involvement ofOrganized Crime in the Global Sex Trade.
155 Estermann, Josef (2002): Organisierte Kriminalität in der Schweiz.
156 Kontos, Silvia (1983): Öffentliche und private Frauen – zum prekären Verhältnis von Prostitution und Feminismus.
157 Vgl. dazu z.B. die Eingaben der Nationalrätinnen Cecile Bühlmann, Grüne Partei, Luzern, Motion zur Bekämpfung des Menschenhandels, 97.3149 und Ruth-Gaby Vermot-Mangold, Sozialdemokratische Partei, Neuchatel, Frauenhandel (Fra.) 04.5057.
158 Nach Schätzungen der EU arbeiten jährlich eine halbe Million Migrantinnen gegen ihren Willen in der Prostitution. Gemäß einer Daphne-Umfrage in Deutschland, Frankreich und Luxemburg stammen zwischen 62 und 82% der Migrantinnen im Sexgewerbe mittlerweile aus Osteuropa (Solwodi, 2003).
159 Siehe Unicef-Rapport (1999); unveröffentlichte Berichte und Materialien im Rahmen des NFP 40: Juchler, Jakob (2001) Bericht über Polen und Russland; Materialien von Michal Arend über die Tschechei (2000); Materialien über Russland von Gala Avakiants (1999); Materialien zu Albanien von Rahe! Zschokke (2000).
160 „Ehre“ hat sich wohl im Begriff der Berufsethik im Max Weberschen Sinn eingeschrieben, wo er individualisiert und sanktionierbar ist.
161 Auch Zweck-Ehen genannt (Probst, Stadtpolizei Zürich, Fachgruppe Milieu/Sexualdelikte). Vgl. polizeiinterne Statistik der Sittenpolizei Stadt Zürich, wonach sich zunehmend frisch mit einem Schweizer oder niedergelassenen Ehemann verheiratete Prostituierte registrieren lassen; auch Interview mit Ex-Prostituierten sowie Aussagen von Prostitutionsmigrantinnen in Gerichtsprotokollen sowie Gerichtsurteile, wo ausländische Ehefrauen als Salonbetreiberinnen, Anwerberinnen und Vermittlerinnen in Erscheinung treten.
162 Anwälte haben in demokratischen Gesellschaften selbstverständlich das Recht, die Interpretationsbreite der Gesetze zugunsten ihrer Mandanten und Mandantinnen voll auszuschöpfen und sie hinsichtlich des Verhaltens gegenüber den Strafverfolgungsbehörden entsprechend zu beraten.
163 Z.B. Aspasie, Genf; Xenia, Bern; Apis, Basel, Graubünden, Luzern, Schwyz, Tessin, Zürich; Herrmann (für männliche Prostituierte) Zürich; Pro.ko.re, Schweiz; Obrist, Brigitte (1995): Geschützte Freier. Aidsprävention im Sexgewerbe. Eine Situationsanalyse; Koster, Dora (1988): Orchideen und darnach.
164 Dazu etwa Charles, Paula (1997): Schwarze Frau – Weisser Prinz; und (1995): ,,Go, Josephine, go“. Die Autorin aus der Karibik beschreibt ihre Erfahrungen als Go-Go Tänzerin und Prostituierte in Zürich.
165 Das Schweizer Gesetz über den Aufenthalt von Ausländern und Niedergelassene (ANAG).
166 Hoffmann-Novotny, H.-J. (2001): Internationale Migration und das Fremde in der Schweiz, in: Hoffmann-Novotny, H.-J. (Hg.): Das Fremde in der Schweiz.
167 Persönliche Mitteilung (1975) eines türkisch/kurdischen Intellektuellen, der aufgrund von Bedrohungen durch die „Grauen Wölfe“, einer in Deutschland und der Schweiz aktiven rechtsgerichteten türkischen Diaspora-Organisation, nach Paris weiterwandem musste; persönliche Mitteilung (2003) eines für den internationalen Gerichtshof in Den Haag tätigen kosovarischen Menschenrechts-Aktivisten, der aufgrund akuter Bedrohung durch mazedonische und kosovarische Diaspora-Organisationen sein Domizil in der Schweiz aufgeben musste.
168 Dazu auch die Green-Card-Debatte in Deutschland, wonach geförderte und geforderte Eliteeinwanderer entweder ein Hochschuldiplom aufweisen oder ersatzweise ein Jahreseinkommen von über 50’000 Euro an ihrer letzten Stelle erzielt haben sollen.
169 Sassen, Saskia (1996): Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa.
170 So zum Beispiel die Kategorie der Saisonwanderungen, der ältesten Form der europäischen Arbeitsmigration; die großen Routen der Wanderarbeiter; der Begriff der Kettenmigration, die einen Migrationstyp beschreibt, der Landsleuten durch bereits Ansässige die Niederlassung erleichtert; die Kolonisierungsmigration in Europa und Übersee durch Siedler; die Zirkulärmigration und die Pendlerbewegungen u.a.
171 Dazu etwa: Efionayi-Mäder, Denise et al. (2001): Asyldestination Europa. Eine Geographie der Asylbewegungen; Wicker, H.-R. et al. (Hg.) (1996): Das Fremde in der Gesellschaft: Migration, Ethnizität und Staat; Morokvasic, Mirjana, de Tinguy, Anne (1993): Between East and West. A New Migratory Space, in: Morokvasic, M. and Rudolph, H. (eds): Bridging States and Markets; Lucassen, Jan (1987): Migrant Labour in Europe 1600-1900. The Drift to the North Sea.
172 Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (1999) (,,Bergier-Bericht“): Die Schweiz und die Flüchtlinge zur Zeit des Nationalsozialismus; Bericht Koller (1996) und Ludwig.
173 Keller, Stefan (1997): Grüningers Fall.
174 Dies ist in Italien, Spanien und Portugal der Fall. Polen unterzeichnete 1993 einen Vertrag über die Rückführung von 10’000 Menschen pro Jahr, allerdings im Austausch mit massiven Finanzhilfen und erwartet bis zu 50’000 Asylsuchende pro Jahr aus verschiedenen Ländern.
175 Jährliche Aufuahmegrenze der Tschechei: 12’000, gestellte Asylanträge im Jahr 1991: 1200, vgl. dazu Sassen, Saskia (1996): Migranten … , S. 124.
176 Lucassen, Jan and Lucassen, Leo (1997): Migration, Migration History, History: Old Paradigms and New Perspectives.
177 Sassen (1996: 118). Dabei spielt die unterschiedliche Gestaltung des Staatsbürgerrechts eine Rolle. Während die Schweiz und Deutschland nach dem ius sanguinis z.B. Rückkehrer und ihre Nachkommen privilegieren, kennt bspw. Frankreich das ius soli, nach dem in Frankreich geborene Kinder das französische Staatsbürgerrecht erhalten.
178 Sassen erwähnt, dass in den USA die geschätzte Zahl von fünf bis sechs Millionen illegaler Einwanderer stark nach unten korrigiert werden musste, als die Auswertung von Maßnahmen, die nach der Änderung des Einwanderungsgesetzes von 1986 eingeführt wurden, indirekte Resultate lieferten.
179 Die Literatur zur Mafia ist umfangreich. Reuter, Peter (1986): Disorganized Crime. Illegal Markets and the Mafia; Raith, Werner (1983): Die ehrenwerte Firma. Der Weg der italienischen Mafia vom Paten zur Industrie.
180 Estermann, Josef (2002a): Organisierte Kriminalität in der Schweiz.
181 Besozzi, Claudio (1997): Organisierte Kriminalität und empirische Forschung.
182 Hartfiel, Günter und Hillmann, Karl-Heinz (1972): Wörterbuch der Soziologie.
183 Persönliche Mitteilung der Leitung eines Rückkehrerinnen-Projekts für Opfer von Frauenhandel in Vlora, einer Hafenstadt in Albanien. Leider existieren dazu keine verlässlichen statistischen Daten. Das Konzept der assisted returns begleitet Personen, die an Rechtsstellen gelangen, und überweist sie zur Vorbereitung der Rückkehr an die CIVPOL, KFOR oder die Carabinieri.
184 Counter Trafficking Activities (2001) IOM Skopje.
185 Je 7% (N=328) gaben an, mithilfe eines Kunden oder anderer Personen einen Ausweg gefun den zu haben, der Rest ließ die Frage unbeantwortet. Die Angaben basieren auf Fragebogen, die die Personen als „assisted returns“-Fälle ausfüllen, IOM Skopje, (2001).
186 Siehe dazu auch: Country Report (2001): Combat ofTrafficking in Women for the Purpose of Forced Prostitution. Bosnia and Herzegovina; Womankind Worldwide (2000): Future Strat egy in Albania, Kosovo, Macedonia, Serbia and Montenegro, London: Womankind Worldwide.
187 Zahlreiche Publikationen und Projekte. Für die Schweiz: DEZA, Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit des Eidg. Departements für auswärtige Angelegenheiten, Abteilung für die Zusammenarbeit mit Osteuropa und der GUS (AZO) (2001): Eine Dokumentation, Bern: EDA; DEZA-Strategie Albanien: 2001-2004. DEZA: August 2001; IOM (2001): Voluntary Return oflrregular Migrants Stranded in Albania, Tirana: IOM Mission in Albania.
188 Persönliche Mitteilung von Frank Ledwidge (2001), OSCE Presence in Albania, Tirana: „Informell gibt es eine Tarifliste für Verbrechen. Nur wer kein Geld hat, sitzt wegen Mordes oder Frauenhandels im Gefängnis“ (aus dem Englischen durch die Autorin). Dazu auch: Review of Albanian Legislation on Trafficking in Human Beings (April 2001), Tirana: OSCE, Office of the legal counselor.
189 So bspw. Juchler, Jakob (2001): Zum Kontext der postsozialistischen Länder.
190 Gesondertes Verfahren des Fallkomplexes einer thailändischen Salonbesitzerin (vgl. Kap. 5.6.2): Der Flughafenpolizeibeamte X ließ sich bestechen, thailändische Prostituierte mit abgelaufenem Touristenvisum unbehelligt ausreisen zu lassen und wurde wegen Amtsmissbrauchs und mehrfacher passiven Bestechung verurteilt. Fallbeschreibung siehe Zschokke, Rahel und Estermann, Josef (2002): Menschenhandel und Frauenhandel, in: Estermann, Josef: Organisierte Kriminalität, S. 149f.
191 Moch, Leslie, P. (1988): Government Policy and Women’s Experience: The Case of Teachers in France.
192 Kälble, Markus (1978): Historische Mobilitätsforschung: Westeuropa und die USA im 19. und 20. Jahrhundert.
193 Hoffmann-Novotny, H.-J. (1973): Soziologie des Fremdarbeiterproblems. Eine theoretische und empirische Analyse am Beispiel der Schweiz.
194 Haug, Werner (1995): Vom Einwandererland zur multikulturellen Gesellschaft. Grundlagen für eine schweizerische Migrationspolitik.
195 Meyer-Sabino, Giovanna (1987): La generazione della sfida quotidiano. Studio della condizione dei giovani italiani in Svizzera.
196 Haug, Werner (1995), Tabellen der Volkszählung 1990, Internet: www.bfs.admin.ch.
197 Hämming, Oliver und Stolz, Jürg (2001): Strukturelle (Des-)Integration, Anomie und Adapti onsformen bei der Zweiten Generation, in: Hoffmann-Novotny, H.-J. (Hg.): Das Fremde in der Schweiz.
198 Merton, Robert, K. (1966): Social Theory and Social Structure.
199 Hilpert, Komelia (1997): Ausländer zwischen Integration und Marginalisierung. Zur Bedeu tung kommunaler Quartierbildung und Traditionalisierung von Integrationsdefiziten beim Wechsel der Generationen.
200 Benjamin, Walter (1965): Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze, S.72.
201 Elias, Norbert (1976b): Über den Prozess der Zivilisation. Soziogenetische und psychogeneti sche Untersuchungen, zweiter Band: Wandlungen der Gesellschaft. Entwurf zu einer Theorie der Zivilisation.
202 Lüderssen, Klaus (1996): Genesis und Geltung in der Jurisprudenz.