Permutationen

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© ProLitteris, Josef Estermann


Mit farbigen Abbildungen des Produktionsprozesses von Lithografien und der Werke selber in hoher Qualität. Einige Original-Lithografien (Auflage: je 6 von 24 permutierten Lithografien auf Rives Bütten) von Vera Rothamel sind noch erhältlich.

40 S. – 29,5 x 21,0 cm

Preis Fr. 60.-  Eur 40.-

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zur Künstlerin

Fotografien des Produktionsprozesses

Waisal und Adem bei der Vorbereitung des Steines

Josef Estermann

Permutationen und Kombinationen – Art and Science

Ein Lithographieprojekt von Vera Rothamel

Kunst und Wissenschaft verbindet das Spannungsverhältnis von kreativer Fantasie und methodischer Exaktheit. Die kreative Fantasie ist der wissenschaftliche Kern der Theoriebildung und der künstlerische Kern der Gestaltung. Die methodische Exaktheit ist Konstitutionsbedingung jeder wissenschaftlichen Disziplin oder jedes Versuchs einer Transdisziplinarität und die notwendige Bedingung jeder Arbeit, welche die Bezeichnung Kunst zu Recht trägt. Transdisziplinarität steht in strenger Abgrenzung zur so genannten Interdisziplinarität, die sich kaum je um die Konstitutionsbedingungen der jeweils beteiligten Disziplinen kümmert und aus diesem Grunde regelmässig zu höchstens partiell gültigen Ergebnissen führt, da die Gemeinsamkeit nur im betrachteten Gegenstand liegt, nicht aber im Blick auf den Gegenstand: Der interdisziplinäre Ansatz verbindet die Disziplinen nur insofern, als am selben Gegenstand beispielsweise die Psychologie psychologisiert, die Ökonomie ökonomisiert und die Rechtswissenschaft normiert. Der transdisziplinäre Ansatz erzeugt einen gemeinsamen Blick der Diziplinen unter Berücksichtigung deren ureigensten Konstitutionsbedingungen.

Die hier vorgestellte lithografische Arbeit von Vera Rothamel, Permutationen und Kombinationen, folgt einem klaren Konzept nicht-gegenständlicher Gestaltung, der Farbe als referenzielle Kategorie des Sehens im Kontext der Entwicklung der Produktivkräfte im beginnenden dritten Jahrtausend, wo die dritte industrielle Revolution, die kybernetische, ihre volle Blüte erreicht. Wie alles Neue nicht bloss die Zerstörung des Alten, sondern gleichzeitig auch dessen Assimilation bedeutet, rekurriert künstlerisches Gestalten auf die Summe des bereits Geschaffenen, des Aktualisierten wie des Unbewussten. Ausgehend von der traditionellen Malerei, der farblichen Gestaltung einer Oberfläche, die auch von unseren historischen und prähistorischen Vorfahren nicht nur gegenständlich begriffen wurde, transformiert die Künstlerin ihre eigene Malerei in Tempera mit traditionellen und modernsten Pigmenten in digitale Daten und diese wieder in die im 19. Jahrhundert entstandene Technologie des chemischen Druckverfahrens des Steindrucks, der Mutter sämtlicher heute industriell verwendeten Verfahren. Der Steindruck ist auch heute noch das Verfahren der Wahl für Künstler, die den ganzen Produktionsprozess in der eigenen Hand halten und nicht nur in der Singularität des Unikats verharren mögen.

Analog-Digital-Analog

Ausgangsmaterial ist eine klassische nichtgegenständliche Malerei der Künstlerin. Mit einer hochauflösenden digitalen Fotokamera erfasst sie einen Ausschnitt. Digitale Kameras erfassen Farb- und Helligkeitswerte in einer Rasterstruktur, welche die ganze Fläche in sogenannten Pixel erfasst, denen ein bestimmter Helligkeitwert im RGB-Farbsystem zuordnet wird. Die Pixel sind durch gleiche Abstände ihres Zentrums definiert, in einer echteckigen Struktur angeordnet und können prinzipiell jeden Farbwert annehmen. Die resultierende Treppenstruktur ist besonders bei Vergrösserungen auffällig und steht im Kontrast zu unserem im Grunde analogen und parametrischen optischen Apparat. Vera Rothamel bearbeitet diese Daten in zwei Schritten: Als erstes werden die RGB-Helligkeitswerte nach Farben in vier Auszüge getrennt. Mittels eines stochastischen Algorithmus lassen sich dann die Pixel-Informationen in Dichtefunktionen für jeden einzelnen Farbauszug umsetzen und kleinste Punkte zufällig entlang dieser Dichtefunktion zufällig verteilen (Frequenzmodulation anstelle der üblichen Amplitudenmodulation). Das Verfahren wurde bereits von den Pointillisten zur Generierung einer besonders lebendig erscheinenden gemalten Oberfläche verwendet. Hier kann man jedoch davon sprechen, dass ein digitaler stochastischer Prozess aus digitalen, in einem fixen regelmässigen Raster festgehaltenen Daten durch den immanenten Zufall analog „natürlich“ rekonstruiert, wenn man so will eine digitale Repräsentation der Analogie darstellt. Die so generierten vier Datenstrukturen werden auf vier Film übertragen, und diese wiederum durch einen photochemischen Prozess auf den lithografischen Stein.

Nun die zentrale künstlerische Entscheidung: Die (ästhetisch bestimmte und durch die klassische Farbenlehre inspirierte) Wahl von vier Farben für die im vorgehenden Verfahren getrennten Auszüge und der (nicht ästhetisch sondern mathematisch bestimmte) Wille zur konsequenten Permutation dieser vier Farben hinsichtlich der vier Auszüge.

Stochastik und Permutation: Die Zahlen

Auf die stochastische Reproduktion der Analogie durch einen Zufallsgenerator, oder wenn man so will, das computergenerierte pointilliste Spritzen kleinster Farbtupfer auf einen Film folgt klassische Numerik und Kombinatorik, die bereits chinesischen Mathematikern der Han-Dynastie und Archimedes von Syrakus bekannt war, im Abendland aber erst durch Pascal und Leibnitz wieder entdeckt wurde. Die Regeln der Permutation jeder der vier Farben zu jedem der n=4 Steine ergeben 4! (Fakultät von 4, 2*3*4 = 24) unterschiedliche Resultate, die in Ihrer differenzierten Ausprägung nicht vorhergesagt werden können und sich alle deutlich von der ursprünglich durch eine Digitalkamera abgebildeten Originalmalerei unterscheiden. Jedes der 24 verschiedenen Resultate wird sechsmal (3!) gedruckt, was eine Gesamtzahl von 144 Exemplaren ergibt. Im Laufe des Druckprozesses entstehen 24 (4!) Drucke, die jeweils singulär eine Farbe mit einem Stein kombinieren, 72 (3n!) verschiedene Kombinationen von je 2 Steinen mit 2 Farben und 48 (2n!) verschiedene Kombinationen von je 3 Steinen mit 3 Farben. Im Druckvorgang entspricht dies vier Farbenwechseln und 24 Steinwechseln. Eine Ausweitung auf fünf Farbauszüge und fünf Steine ergäbe für die Permutation 5!, also 120 Steinwechsel, ein Projekt, welches noch anzugehen wäre.

Die Zahl 24 lässt sich schreiben: 233, wenn man will also digitale Kameraaufnahme, digitale stochastische Bearbeitung, digitale Abbildung des Ergebnisse auf den analogen Film, analoger Druckprozess. Die Zahl 144 lässt sich schreiben 222 32 , es ist ein Gross, ein Dutzend Dutzende, 122 und gleichzeitig die grösste Zahl, die auf der Basis 10 das Produkt der Summe seiner Ziffern (9) und des Produkts seiner Ziffern (16) darstellt (9*16=144). Ausserdem ist 144 die zwölfte der Fibonacci-Zahlen, die die Grundlage für den Goldenen Schnitt und von Corbusiers Modulor bilden (1,1,2,3,5,8,13,21,34,55,89,144) und die grösste Fibonacci Zahl, die gleichzeitig eine Quadratzahl ist. Und wer bis jetzt nicht überzeugt ist, dass 6 (3!) die Zahl der Abzüge pro jeweils identischer Permutation, 24 (4!) die Zahl der produzierten unterschiedlichen Blätter und 144 notwendigerweise die Grösse der vorliegenden Auflage sein muss: Marcion von Sinope wurde im Jahr 144 unserer Zeitrechnung exkommuniziert. Zweifel über die Existenz des Demiurgen, des Erschaffers der Welten, der nicht der Gott des neuen Testamentes sein kann, weil er eine grausame und mangelhafte Welt schuf, liessen sich bis heute trotzdem nicht ausräumen. Ebenfalls nicht zufällig ist, dass das vorliegende Werk im Jahre 2007 (Summe der Ziffern 32) erscheint, 210 Jahre (Summe der Ziffern 3, Fibonacci-Index 22, Produkt der Ziffern 2 bzw. 2!) nach der Erfindung der Lithografiepresse durch Aloys Senefelder im Jahre 1797 (Summe der Ziffern 24 = 4! = 22!).

Künstlerische und wissenschaftliche Grundgedanken

Die Künstlerin hat die Struktur des Werkes a priori entwickelt, also bevor sie eine Entscheidung darüber getroffen, welcher Ausschnitt von welchem ihrer Bilder zu verwenden sei und welche Parameter die Farbtrennung für die vier Filme bestimmen. Ebenfalls vorab festgelegt hat sie die vier Druckfarben, nur die genaue Abmischung erfolgte während des Lithographierprozesses. Sie erinnert sich der Lehre des kürzlich Jahr verstorbenen Prof. Helmut Lortz der Berliner Hochschule der Künste, welcher forderte, dass Produktionsprozesse systematisch zu variieren und auszuprobieren sind und nicht überkommene ästhetische (Vor-)Urteile den künstlerischen Produktionsprozess bestimmen sollen. So entspricht die Kunst einer Dialektik von Handwerk und Ästhetik, die Wissenschaft einer Dialektik von Handwerk und Kritik.

Dies entspricht zutiefst einer wissenschaftlichen Vorgehensweise: Die theoriegeleitete systematische Suche, die Bereitschaft, überkommene Paradigmata mit neuem Wissenstand aufzugeben, die Verwendung neuester Technologie und ältester Techniken. Wissenschaft und Kunst schreiten nicht auf ausgetretenen Pfaden fort, sondern mit dem Mut diese zu verlassen, und der Bereitschaft, Scheitern in Kauf zu nehmen, die Bereitschaft zum hoffnungsvollen Experiment. Die interessantesten Ergebnisse sind nicht die, welche man erwartet, sondern die, welche man nicht erwartet, aber als gültige erkennt. Die Gültigkeit in der Kunst beruht ihrerseits auf dem ästhetischen Urteil.

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