Strafgefangene. Selektive Sanktionierung und Klassenjustiz – Kriminalitätstheorie

Josef Estermann

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© ProLitteris, Josef Estermann

EINLEITUNG

Kriminalität als Aussonderungskriterium für Strafgefangene ist ein Phänomen, das sich in seiner Selektivität nur im Zusammenhang mit der Gesellschaftsstruktur verstehen läßt, innerhalb derer sie auftritt. Die Gewährleistung der individuellen Freiheit (der Freiheit, sich im Heimatland frei zu bewegen und sich wo auch immer niederzulassen; die Freiheit, ein Gewerbe zu betreiben oder die Freiheit, seine Arbeitskraft an jeden beliebigen zu verkaufen; die Freiheit, sich alles zu kaufen, wenn man nur das nötige Geld dazu besitzt) bildet die zentrale Grundlage der bürgerlichen Gesellschaft. Der Vollzug der Freiheitsstrafe im Rahmen von judikativen (in gewissen Fällen auch exekutiven) Maßnahmen beinhaltet gerade die Aufhebung dieser Freiheitsrechte, ist in ihrem Wesen zutiefst unbürgerlich. Trotzdem verzichtet der bürgerliche Staat nicht auf deren Anwendung, und zwar aus drei Gründen:

1. Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient neben anderen strafrechtlichen Maßnahmen der symbolischen Aufrechterhaltung der Norm, für deren Verletzung sie verhängt wurde.

2. Der Vollzug der Freiheitsstrafe rekurriert auf ein archaisches Rachebedürfnis, dessen Wesen und Existenz empirisch nicht ausreichend beschrieben wurde oder beschrieben werden kann und dessen Befriedigung der Staat nicht dem Einzelnen überlassen will (Racheersatztheorie).

3. Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient (politisch gesehen) der Erhaltung der bestehenden Gesellschaftsform, d.h. der ihr innewohnenden sozialen und ökonomischen Machtverhältnisse.

Da also der Freiheitsstrafe ein ideologischer Widerspruch innewohnt, bedarf es zu deren Vollzug eines erhöhten Legitimationsbedarfs. Diesem wird unter zwei Aspekten nachgekommen:

1. Dem Begriff des Verbrechens und seines Trägers, dem Verbrecher, wird eine moralische Qualität zugeordnet, die härteste Maßnahmen als angemessen erscheinen läßt. Dieser Umstand zeigt sich in Schlagworten wie „Keine bürgerlichen Rechte für den Feind des bürgerlichen Staats“ oder „Wer gegen die Normen der Gemeinschaft verstößt, kann deren allgemeine Normen nicht für sich in Anspruch nehmen“ (z.B. strafrechtlicher Entzug bürgerlicher Rechte, Art. 51, 53, 54 CHStGB, §§ 45, 70 DstGB).

2. Der Vollzug der Freiheitsstrafe soll nicht nur als Strafe gesehen werden, sondern auch als Versuch der Wiedereingliederung des „Verbrechers“ in die bürgerliche Gesellschaft erscheinen (z.B. Art. 37 CHStGB, § 46 DStGB).

Um sowohl Gründe wie auch Legitimation/Ideologie des Freiheitsentzuges analysieren zu können, bedarf es einer empirischen Analyse der Wirklichkeit des Kriminalisierungsprozesses, einer Beschreibung des Verhaltens und der sozialen Merkmale von Kriminalisierten, Kriminalisierenden und nicht direkt an diesem Prozeß Beteiligten. Dies geschieht im empirischen Teil dieser Arbeit für einen bestimmten Tei1bereich, der untergliedert ist nach den sozialen Merkmalen der kriminalisierten Strafgefangenen, den ihnen vorgeworfenen Normverletzungen und den sie betreffenden Maßnahmen der Instanzen sozialer Kontrolle.

Anhand eines repräsentativen Datensatzes über Schweizer Strafgefangene werden die sozialen und ökonomischen Merkmale sichtbar, die für die Einweisung in Strafanstalten bedeutsam sind. Das erste Kapitel (S. 13-46) soll eine Darstellung und Kritik gängiger ätiologischer, anomietheoretischer, interaktionistischer und materialistischer Theorien der Kriminalisierung einen Überblick über Ursachen und Struktur abweichenden Verhaltens einerseits und Verhalten der Instanzen sozialer Kontrolle andererseits vermitteln. Auf den Seiten 37-46 versuche ich, einen eigenständigen Ansatz zur Analyse der einzelnen Schritte der Kriminalisierung zu entwickeln, der die Indices als Transformationsbedingungen alltäglichen in abweichendes („kriminelles“) Verhalten focussiert. Im zweiten Kapitel (S. 47-57) zeigen Ergebnisse empirischer Untersuchungen Selektionsmerkmale auf, nach denen die Instanzen sozialer Kontrolle bei der Festschreibung von Personen vorgehen, die als abweichend Handelnde gelten sollen. Es ist gegliedert nach den einzelnen Kriminalisierungsinstanzen (Polizei, Staatsanwaltschaft, Gericht). In dieses Kapitel gehen die meisten empirischen Untersuchungen der letzten Jahre im deutschen Sprachraum ein.

Das dritte Kapitel beschreibt die Herkunft des empirischen Materials über Schweizer Strafgefangene, das die Grundlage der folgenden empirischen Auswertung bildet. Das Material wird nach sukzessiven Einzelveröffentlichungen seit Mitte der siebziger Jahre hier erstmals gesamthaft vorgestellt. Herrn Prof. G. Stratenwerth gilt mein besonderer Dank für die Überlassung der Unterlagen. Die Veröffentlichung weiterer stochastischer Korrelationsanalysen und multivariater Auswertungen ist geplant. Im vierten Kapitel folgt eine bloß deskriptivstatistische Beschreibung des Datenmaterials, im ersten Teil der genuinen Merkmale der Strafgefangenen, im zweiten Teil der Kriminalisierungsereignisse, während im fünften Kapitel mittels korrelations-und regressionsanalytischer Methoden eine gezielte Überprüfung interaktionistischer und materialistischer Thesen vorgenommen wird. Dabei stehen im Vordergrund Merkmale der sozioökonomischen Position (Schicht- und Klassenmerkmale), des Alters und der Herkunft sowie Interventionen der Instanzen sozialer Kontrolle (Fürsorge- oder Heimerziehung und Kriminalisierungsereignisse: Verurteilungen, Strafmaß, Gesamtinternierungsdauer). Das sechste, perspektivisch angelegte Kapitel schließt die Arbeit ab. Die Anhänge dokumentieren das Datenmaterial und die Vorgehensweise bei der statistischen Analyse. Die vorliegende Arbeit bildet die Grundlage eines Promotionsverfahrens an der Freien Universität Berlin.

1 KRIMINALITÄTSTHEORIEN

Um gesellschaftliche Wirklichkeit darzustellen, bedarf es neben der empirisch festgestellten ,Erscheinung‘ von Wirklichkeit eines theoretischen Modells, das es ermöglicht, diese Erscheinung innerhalb eines größeren gesellschaftlichen Zusammenhangs zu deuten. Die allgemeine Soziologie stellt Theorien auf und verändert sie, wenn sie die empirisch feststellbare ,offensichtliche‘ Wirklichkeit nicht mehr genügend erklären können. Theorien größerer Reichweite erklären komplexere gesellschaftliche Erscheinungsformen, sind aber in bezug auf die Erklärung· von Einzelphänomenen oft zu unscharf.

Der Marx‘ sehen Theorie zufolge ist Kriminalität bedingt durch bestimmte soziale und ökonomische Machtverhältnisse, die ein diese Verhältnisse stabilisierendes Recht und ihm entsprechende Repressionsorgane hervorbringen. Recht und Repressionsorgan wirken im Sinne dieser Machtverhältnisse in erster Linie auf die der Macht Unterworfenen und kriminalisieren deren unerwünschte Verhaltensweisen. Ober die Gesetzmässigkeiten und phänomenologischen Ausprägungen des Kriminalisierungsprozesses lassen sich aber aufgrund dieser Theorie größter Reichweite kaum Aussagen machen. Eine solche· Theorie ist an und für sich nicht empirisch falsifizierbar, sondern nach Gesichtspunkten einer theoriegeleiteten Analyse der Wirklichkeit evident oder nicht.

Theorieansätze geringerer Reichweite wie Anomietheorie oder Interaktionismus hingegen stellen dem Forscher ein Instrumentarium zur Verfügung, das es ihm ermöglichen soll, Einzelphänomene zu erklären und Thesen empirisch zu überprüfen.

Die theoretischen Grundlagen .dieser Untersuchung basieren auf den kriminologischen und kriminalsoziologischen Kontroversen im deutschen und englischen Sprachraum seit den sechziger Jahren. In den beiden ersten Unterabschnitten dieses Kapitels werden die wichtigsten theoretischen Positionen dargestellt und kritisiert. Im dritten Unterabschnitt wird die Untersuchung selbst theoretisch begründet. Soziologische Theorieansätze finden nur insoweit Beachtung, als sie für die vorliegende Untersuchung relevant sind.

1.1 Objektivistische oder ätiologische Modelle und Anomietheorie

Im Wesentlichen existieren heute zwei Modelle, Kriminalität zu beschreiben und zu erklären. Zwar bestehen bedeutend mehr kriminalsoziologische Ansätze, (1) doch lassen sich fast alle einem der beiden Modelle zuordnen.

Das ältere, bis in die frühen sechziger Jahre vorherrschende, ätiologische Modell betrachtet Kriminalität als eine objektiv gegebene Erscheinung in der Gesellschaft und sieht den Kriminellen klar definiert durch sein von der gesellschaftlichen Norm abweichendes Verhalten.

Dieser Ansatz geht von drei wesentlichen Grundannahmen aus: (A) In der Gesellschaft besteht ein breiter Konsens in bezug auf Normen und Werte, (B) Abweichung von diesen Normen zieht negative Sanktionen nach sich und (C) die Strafe, die dem Abweichenden zugemessen wird, bestätigt der Gesellschaft, daß sie an eine Reihe von Normen gebunden ist. (2)

Ausgehend von diesen Grundannahmen versucht man folgende Fragen zu beantworten: Welche soziokulturellen Bedingungen sind geeignet, Kriminalität zu fördern? Wieso begehen Leute trotz der für sie negativen Sanktionen weiterhin abweichende Handlungen? Wie kann Kriminalität am besten verhindert werden?

Die Stärke dieses Ansatzes liegt in der Schärfe der Definition der abweichenden Handlungen, indem sozusagen das Strafgesetzbuch den Kriminellen hinreichend bestimmt, und in der Einfachheit der gestellten Fragen. Seine Schwäche allerdings liegt bei der Vertretbarkeit der Grundannahmen. In der modernen Gesellschaft besteht kein so breiter Konsens von Normen und Werten wie die Ätiologen voraussetzen. So finden sich z.B. in bezug auf Wehrdienstverweigerung, Drogendelikte, Sexualdelikte und Steuerhinterziehung sehr unterschiedliche Einstellungen. Wegen dieses fehlenden Konsenses und wegen des Umstandes, daß nur einige Abweichler entdeckt und sanktioniert werden, .während andere der Sanktionierung und Entdeckung entgehen können, genügt eine bestimmte Handlung für sich allein noch nicht. den Handelnden als Kriminellen zu erkennen. Der Handelnde wird nur dann als Krimineller definiert, wenn der Tat die Entdeckung folgt (Dunkelziffer) und eine Sanktion verhängt wird (Selektion), eventuell auch,, allerdings nicht im technischen Sinne, wenn ohne Mitwirkung der Instanzen ein breiter Konsens über einen bestimmten Vorgang als kriminelle Handlung zustande kommt. Die meisten Instanzen sozialer Kontrolle arbeiten mit selektiver Sanktionierung, so daß gewisse Gruppen von Leuten mit größerer Wahrscheinlichkeit bestraft werden als andere. (3) Die Arten, Ursachen und Konsequenzen der Abweichung sind weder einfach noch einheitlich. Normabweichung bedingt nicht immer negative Sanktionen. Gelänge z.B. ein Tyrannenmord, würde er von den neuen Autoritäten nicht bestraft werden. Die· Sanktion der Normabweichung ist immer abhängig von momentanen Rahmenbedingungen und gesellschaftlichen Machtverhältnissen.

Der bekannteste Ansatz, der diesen Prämissen folgt, ist der sogenannte Mehr-Faktoren-Ansatz (4), der versucht, möglichst viele Umstände und Einflüsse aufzuzeigen, die zu kriminellen Handlungen führen können. Ein anderer Ansatz, der allerdings heute kaum mehr vertreten und von Strafrechtlern als Kuriosum gewertet wird, ist die Kriminalitätstheorie von C. Lombroso (1890, 1899 und 1902), der abweichendes Verhalten als von Geburt an bestimmt versteht und die Kriminaltät durch die Isolierung dieser genetisch definierten Verbrechertypen verhindern will. Auch dieser Ansatz ist zusammen mit seinen modernen humanmedizinisch begründeten Abkömmlingen (5) dem ätiologischen Modell zuzuordnen, ebenso wie die meisten psychologisch orientierten Kriminalitätstheorien. Das psychologische Erkenntnisinteresse ist häufig nur auf das abweichende Indiviuum gerichtet und geht daher nicht über die Fragestellungen des ätiologischen Modells hinaus.

Die Anomietheorie entspricht nicht in allen Punkten dem ätiologischen Ansatz. (6) Sie geht nicht von der Voraussetzung aus, daß ein breiter gesellschaftlicher Konsens in bezug auf Normen besteht, sondern nimmt an, daß in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen unterschiedliche Normkonzepte existieren. Das Individuum kann nun in die Situation geraten, daß einander widersprechende Normen angewendet oder berücksichtigt werden sollen. So kann z.B. ein Vorgesetzter eine Handlung befehlen, die legalen oder individuellen Normen widerspricht. Anomie entsteht vor allem dann,· wenn gesellschaftlich vermittelte Normen durch persönliche Leistungen nicht erfüllt, verlangte Ziele nicht durch legale Mittel erreicht werden können. Als typisches Beispiel mag der Hilfsarbeiter mit bedeutenden familienrechtlichen Unterstützungspflichten gelten, der sich die allgemein üblichen Konsumgüter nicht auf legalem Weg zu beschaffen weiß. Die Anomietheorie geht insofern über den Faktorenansatz hinaus, als sie das Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft als gesellschaftliche Realität nicht aus dem Blick verliert. Andererseits ist sie jedoch nicht in der Lage zu erklären, wieso nur bestimmte Leute verurteilt und nur bestimmte Normverstöße geahndet werden.

Sowohl die ätiologischen Ansätze wie auch die Anomietheorie analysieren nur die Ebene der abweichenden Handlung selbst, nicht aber diejenige der Erfassung und Sanktionierung bestimmter Personen als abweichend Handelnde.

Die Anomietheorie geht hauptsächlich auf die Arbeiten Emile Durkheims (1965, 1973a und 1973b) zurück. Durkheims Regeln zur Unterscheidung des Normalen und des Pathologischen bilden in seinem Ansatz die Hauptannahmen:

„1. Ein soziales Phänomen ist für einen bestimmten sozialen Typus in einer bestimmten Phase seiner Entwicklung normal, wenn es im Durchschnitt der Gesellschaften dieser Art in der entsprechenden Phase ihrer Evolution auftritt.

2. Die Ergebnisse dieser Methode kann man verifizieren, indem man nachweist, daß bei dem betrachteten sozialen Typus die Allgemeinheit des Phänomens in den allgemeinen Bedingungen des Kollektivlebens begründet ist.“ (Durkheim, 1965, S. 155)

Durkheim kommt unter Anwendung seiner Regeln zu dem Ergebnis, daß Kriminalität bzw. abweichendes Verhalten normal ist, da sie erstens in jeder Gesellschaft auftritt und zweitens die sozial notwendige Abgrenzungsfunktion zum normkonformen Verhalten bildet. Der to­tale Konformismus, d.h. das Fehlen jeder Verhaltensvariation ist sozial gesehen nicht möglich.

„Da es also keine Gesellschaft geben kann, in der die Individuen nicht mehr oder weniger vom kollektiven Typus abweichen, ist es unvermeidlich, daß sich unter diesen Abweichungen auch solche befinden, die einen verbrecherischen Charakter tragen. Denn dieser Charakter· entspringt nicht ihrer inneren Bedeutung, sondern wird ihnen vom Gemeinbewußtsein zuerkannt.“ (Durkheim, 1965, S. 159)

Die Erkenntnis der Normalität des Verbrechens ist gekoppelt an die Erkenntnis seiner Notwendigkeit und Nützlichkeit. Die Bedingungen, an die es geknüpft ist, sind für eine normale Entwicklung von Recht und Moral unentbehrlich. Abgesehen von der Rolle, die biologische oder psychische Merkmale und Bestimmungsgründe spielen könnten, sind es letztlich die sozialen Ursachen allein, die das gesetzmässig notwendige Auftreten abweichenden Verhaltens erklären.

Nicht als normale Erscheinung zu deuten ist nach Durkheim das verstärkte Auftreten von abweichendem Verhalten über eine bestimmte zufällige Schwankung hinaus, oder das plötzliche Verschwinden bestimmter Formen des Verbrechens. In diesen Fällen befindet sich die Gesellschaft selbst in einem „pathologischen“ Übergangsstadium zu einer neuen Form.

Das Verbrechen kann eine nützliche Rolle bei der Entwicklung der Normen spielen:

„Es hält nicht bloß den notwendigen Änderungen den Weg offen, in manchen Fällen bereitet es auch die Änderungen direkt vor. Nicht bloß befinden sich da, wo es existiert, die Kollektivgefühle in einem wandlungsfähigen Zustand, um neue Formen anzunehmen, sondern es trägt auch zuweilen dazu bei, um ihre zukünftige Form im voraus zu bestimmen. Wie oft ist das Verbrechen bloß eine Antizipation der zukünftigen Moral, der erste Schritt zu dem, was sein wird . . . Im Gegensatz zu der herkömmlichen Vorstellung erscheint der Verbrecher nicht mehr als schlechthin unsozial, als eine Art von Parasit, als ein nicht assimilierbarer Fremdkörper im Innern der Gesellschaft; er ist vielmehr ein regulärer Wirkungsfaktor des sozialen Lebens.“ (Durkheim, 1965, S. 160 f)

Durkheim wendet seine Regeln auch auf die Theorie der Strafe an und kritisiert die herkömmliche Auffassung von der Funktion der Strafe:

„Ist das Verbrechen tatsächlich eine soziale Krankheit, so ist die Strafe das Heilmittel und kann nicht anders aufgefaßt werden; alle Diskussionen, die es hervorruft, beziehen sich auch wirklich auf die (vermeintliche, der Verf.) Erkenntnis ihrer Rolle als Heilmittel. Hat das Verbrechen nichts Krankhaftes an sich, so kann auch die Strafe nicht auf Heilung abzielen, und ihre Funktion muß anderswo gesucht werden.“ (Durkheim, 1965, S. 161 f)

Durkheim führt an dieser Stelle die ,eigentliche‘ Funktion der Strafe nicht weiter aus und erwähnt nur, daß sich die Regel der Proportionalität von Strafe und Verbrechen in allen Gesellschaftsformen findet. Die funktionale Analyse der Strafe ergibt, daß sie als soziale Tatsache der Erhaltung der strukturellen Bedingungen dient, aus denen Sie erwachsen ist, und daß sie die Norm, für deren Verletzung sie verhängt wurde, in dem Bewußtsein der Normadressaten verfestigt.

Talcott Parsons (1968a, 1968b und 1968c) entwickelte seit 1937 aufgrund der Arbeiten Durkheims (insbesondere „Les règles“, „Le suicide“ und „De la divison sociale du travail“) das Anomiekonzept entscheidend weiter und machte es im englischen Sprachraum erst breiter bekannt. Folgender Grundsatz bildet den Kern der Anomietheorie: Nicht bloß vertragliche Beziehungen, sondern sämtliche stabilen und sozialen Beziehungen und das individuelle Gleichgewicht von Gruppen- und Gesellschaftsmitgliedern müssen als abhängig vom Bestehen einer normativen Struktur, die moralische Autorität bei den Gesellschaftsmitgliedern innehat, in ihrer Beziehung zum Verhalten des Einzelnen, und ebenso als abhängig von der Befolgung dieser Normen begriffen werden.

Diese Normen regulieren nicht nur die individuelle Wahl der Mittel zu bestimmten Zwecken, auch die Wünsche und Bedürfnisse des Einzelnen sind teilweise durch sie festgelegt. Wenn die kontrollierende normative Struktur sich auflöst oder desorganisiert wird, entsteht eine entsprechende Desorganisation des individuellen Verhaltens: Der Einzelne verliert sich in bedeutungs- und sinnlosen Aktivitäten. Anomie besteht gerade in dem Stadium der Desorganisation, wo die Aufrechterhaltung der individuelles Verhalten regelnden Normen zusammengebrochen ist (Parsons, 1968a, S. 377).

Parsons unterscheidet mit Durkheim zwei unterschiedliche Normkonzepte: Die Regeln der Gesundheit und die Regeln des Gesetzes (1968a, S. 379). Während auf eine Verletzung der Regeln der Gesundheit die Konsequenzen automatisch und ohne menschliches Zutun folgen, ist eine Sanktion als Folge einer festgestellten Verletzung der Regeln des Gesetzes vom Willen von Individuen abhängig, die nicht mit dem Handelnden identisch sind. Wenn jemand nicht mehr ißt, stirbt er, ganz anders ein Mörder oder Kriegsverbrecher, der zum Tode verurteilt wurde. Er stirbt nur, wenn ihn jemand umbringt. Der Kern einer interaktionistischen Kriminalsoziologie ist mit diesen Überlegungen schon angelegt.

Die Anomietheorie geht nicht von einem positivistischen Normverständnis aus. Normen sind nicht als Bedingungen für ein Handeln wie materielle Voraussetzungen zu verstehen; Normbefolgung kann nicht in erster Linie dem individuellen Wunsch nach Vermeidung negativer und von außen auferlegter Konsequenzen verdankt werden. Soziale Kontrolle hat keinen Bedingungscharakter, sondern bewegt sich in der Kategorie normativer Elemente, die durch „willkürliche“ Akte Dritter bestimmt werden (Parsons, 1968a, S. 382 f).

Dementsprechend erfüllen Strafen kaum eine abschreckende Funktion, wie Parsons und vor ihm auch Durkheim empirisch gezeigt haben, sondern beinhalten vielmehr den symbolischen Ausdruck, den Gesellschaftsmitglieder einem Verbrechen zukommen lassen.

„A severe punishment is a mode of reaffirming the sanctity of the norm the criminal has broken. lt is of symbolic, not utilitarian, significance“ (Parsons, 1968a, S. 403)

Parsons schweigt sich allerdings über die durchaus üblichen Normerhaltungsstrategien aus, die oft in gesellschaftlichen und politischen Auseinandersetzungen eine Norm als Ausdruck eines Herrschaftsverhältnisses durch physische Vernichtung des Normbrechers aufrechterhält, nicht im Hinblick auf Strafe sondern auf Elimination, oder möglicherweise als politischer Opponent ganz ähnlich in der Praxis der Sicherheitsverwahrung oder des Konzentrationslagers (vergleiche dazu den Text Schafheutles im Vorwort). Juristen und Polizisten sind zwar keine Soziologen, doch erhellen sie eine Funktion des Strafrechts, die neben der bloß symbolischen liegt, wenn sie von einer Entfernung eines gefährlichen Rechtsbrechers oder Volksschädlings aus der Gesellschaft sprechen. Konzentrationslager bestätigen nicht nur symbolisch eine Norm, sondern sie dienen der zwangsweisen Verwertung der Internierten als Arbeitskraft und deren anschließender Vernichtung.

R. K. Merton (1968a und 1968b), wiederum aufbauend auf den Arbeiten Parsons‘ und Durkheims, (7) systematisiert die Anomietheorie. Sein funktionalistischer Ansatz richtet sich gegen die von Freud und Fromm vertretenen individualpsychologischen Erklärungsmodelle für das Phänomen „Gesellschaft“ oder die Notwendigkeit der Assoziation der Individuen zu Gruppen:

„ … the functional analyst … considers socially deviant behaviour just as much a product of social structure as conformist behaviour.“ (Merton, 1968a, S. 175)

Merton stellt sich gegen den Standpunkt, daß unterschiedliche Raten abweichenden Verhaltens in verschiedenen Gruppen und sozialen Schichten das zufällige Resultat unterschiedlicher Anteile pathologischer Persönlichkeiten in diesen Gruppen und Schichten wäre. Stattdessen könnte mittels funktionalistischer Analyse dargestellt werden, wie die soziale und kulturelle Struktur einen Druck auf Personen mit unterschiedlicher Stellung in dieser Struktur ausübt, der zu abweichendem Verhalten führt. Die Fragestellung richtet sich weniger nach der Definition dieses abweichenden Verhaltens, als nach der Art des Zwangs, den bestimmte soziale Strukturen auf bestimmte Personen ausüben, sich eher abweichend als konform zu verhalten, wobei abweichendes Verhalten in der Regel als psychologisch genauso „normal“ wie konformes Verhalten betrachtet werden muß (Merton, 1968a, S. 186).

Die Analyse bewegt sich in dem Spannungsverhältnis zwischen gesellschaftlichen Zielvorgaben (ends, goals) und individuellen Mitteln zur Erreichung dieser Ziele ( acceptable modes of reaching out for these goals), ohne dabei die sozialen Machtstrukturen aus den Augen zu verlieren.

Die zentrale Hypothese Mertons lautet, daß abweichendes Verhalten soziologisch als ein Symptom des Auseinanderklaffens von kulturell vorgegebenen Zielvorstellungen und sozial strukturierten Mitteln zur Verwirklichung dieser Zielvorstellungen zu verstehen ist (Merton, 1968a, s. 188).

Die Systematisierung dieses Spannungsverhältnisses erfolgt mittels Kategorien möglicher individueller Strategien zu seiner Bewältigung, nämlich Konformität, Innovation (Ablehnung der institutionalisierten Mittel bei Bejahung der kulturellen Ziele), Ritualismus (bloße Konformität mit den institutionalisierten Mitteln), ,,Retreatism“ (Ablehnung sowohl der vorgegebenen Zielvorstellungen wie auch der Mittel) und Rebellion, die sich durch eine Ambivalenz den gesellschaftlichen Zielen und Mitteln gegenüber auszeichnet. Kriminalisierbares Verhalten findet sich in den Kategorien, die eine Ablehnung der institutionalisierten Mittel beinhalten: Innovation, ,,Retreatism“ (Rückzugsverhalten) und Rebellion. Nach Merton (1968a, S. 299) sollte sich die empirische Erforschung abweichenden Verhaltens vor allem folgenden Gesichtspunkten widmen:

1. Inwieweit ist das Individuum den kulturellen Zielen und Verhaltensnormen (zulässige Mittel) ausgesetzt?

2. Inwieweit werden Ziele, Normen und internalisierte Werte akzeptiert?

3. Zugänglichkeit zu den Zielen: Lebenschancen und Opportunität

4. Ausmaß der Diskrepanz zwischen akzeptierten Zielen und ihrer Zugänglichkeit

5. Grad der Anomie

6. Raten abweichenden Verhaltens

Es fällt auf, daß die Frage nach den intersubjektiven Definitionen konformen beziehungsweise abweichenden Verhaltens bei Merton (im Gegensatz dazu ansatzweise bei Parsons) nicht gestellt wird, sondern implizit als automatische Folge der Festschreibung von Mitteln und Zweck erscheint. Wir widmen uns dieser Frage im nächsten Abschnitt.

1.2 Interaktionistische Modelle

Das zweite, modernere Modell, das im deutschen Sprachgebiet seit Ende der sechziger Jahre kontrovers diskutiert wurde, lehnt die Vorstellung, daß Kriminalität sich objektiv feststellen ließe und die Kriminalitätsdefinition über längere Zeiträume und in verschiedenen sozialen Gruppen konstant sei, entschieden ab. Das Interesse des interaktionistischen Modells richtet sich in erster Linie auf die sozialen Unterschiede zwischen den gegen Normen Verstoßenden. So trifft dieser Ansatz auch wesentlich andere Grundannahmen:

1. Wenn Leute miteinander in Beziehung treten (Interaktion) kommunizieren sie mittels Symbolen, die ihnen bekannt sind (Körper- und verbale Sprache, Kleidungsstil usw.). Mittels dieser symbolischen Kommunikation können Individuen einander bestimmen und ihre Handlungen übereinstimmend beschreiben.

2. Abweichung (in diesem Falle Kriminalität) kann am besten in Begriffen des Abweichungsprozesses verstanden werden, und die Bezeichnung eines Menschen als Abweichenden ist ein Symbol, das Menschen, auf die es angewendet wird, von den übrigen unterscheidet und stigmatisiert. Dieser Vorgang wird auch als Labeling bezeichnet, daher ist „Labeling-Ansatz“ der übliche Namen der im deutschen Sprachraum vorherrschenden Spielart dieses zweiten Modells.

3. Die dritte Grundannahme besteht darin, daß Menschen aufgrund solcher Definitionen handeln. Der angeblich Abweichende wird anders als andere Leute behandelt, und er selber reagiert auf die Definitionen, die ihm vermittelt werden (Rubington/Weinberg, 1978, S. 4 f).

Aufgrund dieser Annahmen analysieren Wissenschaftler, die dieses Modell anwenden, gesellschaftliche Definitionen und Perspektiven und ihre Konsequenzen für die gesellschaftliche Interaktion. Einerseits richtet sich die Analyse auf Personen, die jemand als „Abweichler“ oder „Kriminellen“ definieren, andererseits auf Perspektiven und Reaktionen der Leute, die von diesen Definitionen betroffen sind („Reaktionsansatz“ ist ein weiterer Name für eine Spielart der interaktionistischen Kriminalsoziologie).

Die Schwächen dieses Modells bestehen darin, daß durch die Betonung des Verhältnisses zwischen Betroffenen und Definierenden die Analyse der Normsetzungsmechanismen nur schwer Platz findet, ebenso wie die Analyse von gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ökonomischer Situation.

Eine weitere Schwierigkeit besteht in der empirischen Verifzierbarkeit der Theorie. Die zu beobachtenden Handlungen, Wertvorstellungen und Transformationsprozesse sind so komplex, daß die erhobenen Daten jeweils nur eingeschränkte Teilaspekte gesellschaftlicher Wirklichkeit darzustellen vermögen. Weitergehende allgemeine Erklärungsmodelle und grundlegende theoretische Fragen lassen sich mittels empirischer Verifikations-/Falsifikationsschemata auf quantitativer Grundlage nur schwer analysieren.

Im folgenden werden verschiedene Spielarten des interaktionistischen Ansatzes (8) in der Kriminalsoziologie dargestellt. Aus der Kritik dieser Spielarten ergibt sich der theoretische Ansatz der vorliegenden Untersuchung, den ich im Abschnitt 1.3 darstelle.

Die meistdiskutierte Variante des Interaktionismus in der Kriminalsoziologie im deutschen Sprachraum ist die von Fritz Sack (1968, 1969, 1972, 1973 und 1977) vertretene Theorie, die er selbst als marxistisch-interaktionistische Theorie der Kriminalität bezeichnet. Zugrundegelegt ist die Rezeption der sprachanalytischen Arbeiten des Rechtsphilosophen H.L.A. Hart (1951 und 1968) und die Auseinandersetzung mit Max Webers Verstehens- und Motivationsbegriffs durch Alfred Schütz (1960 und 1964), die in den kriminalsoziologischen Arbeiten von Harvey Sacks (1963 und 1972) und H.S. Becker (1963 und 1964) eine zentrale Rolle spielt.

Sack geht davon aus, daß die Kontroverse zwischen Sozialwissenschaftlern, Juristinnen und Psychologen über die zutreffende Definition des Verbrechens und des Verbrechers der Grundlage entbehrt. Der empirische Ausgangspunkt aller dieser Disziplinen ist derselbe. Alle Aussagen über Verbrechen können nur auf einer Analyse von Personen beruhen, die von anderen dazu legitimierten Personen (z.B. Richtern) für verbotene Handlungen verantwortlich gemacht werden. Dieser Vorgang unterliegt bestimmten Regeln und ist an ein gesellschaftlich legitimiertes Ritual gebunden (z.B. Verhaftung, Urteil). Die Definitionsfrage läßt sich also nur empirisch durch die Beschreibung der Entscheidungen und des Handelns der Personen beantworten, die darüber zu befinden haben, ob eine bestimmte Handlung unter einen Sachverhalt oder unter eine Rechtsnorm zu subsumieren sei oder nicht. Genauso empirisch geht die Juristin vor, wenn sie anhand von Strafgesetzbuch, Kommentaren, Gerichtsurteilen und Alltagswissen einen Rechtsfall löst. Die wissenschaftlichen Instrumente der Juristen sind Rekonstruktionsanweisungen verschiedenster Art. Die Frage nach der Definition des Verbrechens, nach dem Gegenstand der damit befaßten Wissenschaften und ihren theoretischen Erklärungen darf nicht länger als wissenschaftstheoretisch-nominalistische, sondern muß als empirische betrachtet werden. Genauso lernen Juristen, Polizistinnen und auch Laien anhand von „Fällen“ (empirisch beschriebene oder erlebte Handlungs- und Motivationsabläufe), was denn eigentlich eine Vergewaltigung, ein Diebstahl oder ein Betrug sei. In diesem Zusammenhang kritisiert Sack den ätiologischen Ansatz oder die „alte“ Kriminalsoziologie, weil sie die Frage nach der Kongruenz der theoretischen Kriterien der Wissenschaft mit den Handlungskriterien der Praktikerin nicht stellt oder als irrelevant betrachtet. Der reflektierenden Juristinhingegen ist es durchaus klar, daß das Handwerkszeug, das ihm zur Verfügung steht, keineswegs identisch ist mit der Art und Weise, wie es verwendet oder eingesetzt wird. Eine Kriminalsoziologie, die diesen Umstand nicht berücksichtigt, muß sich den Vorwurf wissenschaftlicher Naivität gefallen lassen.

Der Prozeß der Normverletzung, die Feststellung, daß eine Norm verletzt worden ist und die Reaktion auf eine solche Feststellung ist ein komplexer Vorgang, bei dem eine Reihe von Personen und Variablen eine Rolle spielen. Es besteht eine zeitliche, räumliche und situationsbedingte Distanz „zwischen einer gesellschaftlich verbindlichen Aussage über das Vorliegen einer kriminellen Tat oder der kriminellen Eigenschaft des Täters auf der einen Seite und dem eine solche Aussage veranlassenden Geschehen oder Vorgang auf der anderen Seite“ (Sack, 1972, S. 18).

Sack ist der Meinung, daß im Verlaufe dieses komplexen Vorgangs Rekonstruktionen und Transformationen von Tathergängen aus einem Bezugsrahmen in einen anderen stattfinden „die alle letztlich darauf hinzielen, eine Verbindung herzustellen zwischen einem physikalischen Ereignis einerseits und subjektiven Dispositionen, Absichten, Intentionen, physischen bzw. mentalen Zuständen einer Person andererseits. Erst die gelungene Verbindung dieser beiden Elemente konstituiert das norm- bzw. rechtsrelevante Geschehnis.“ (Sack, 1972, S. 18) Diese analytische Trennung ist deshalb schwer nachzuvollziehen, weil sie sich auf sprachlicher Ebene nicht wiederfindet. Die beiden Aspekte (physikalisches Ereignis und mentaler Vorgang) sind in einer Sprachfigur zusammengefaßt. Als Beispiel führt Sack den Begriff „stehlen“ an, der die sprachliche Repräsentation nicht eines physikalischen Hergangs, sondern eines sinnvollen sozialen Handelns ist.

An diesem Punkt stützt sich Sack auf die Arbeiten des Rechtsphilosophen H.L.A. Hart, der deskriptive und askriptive Sprachspiele unterscheidet (1951, S. 145 ff). Hart kommt zum Schluß, daß die Begriffe des Rechts und die Feststellungen eines Gerichts über das Vorliegen einer strafbaren Tat nicht deskriptiv, d.h. beschreibend-feststellender Art, sondern askriptiv, d. h. zuschreibend-konstitutiver Art sind. Sack wirft der „bisherigen“ Kriminologie vor, daß sie die Ereignisse von Zuschreibungsprozessen als gültige Produkte von Beschreibungsprozessen übernimmt und nicht berücksichtigt, daß die strafrechtlichen Verfahren nicht zum Ziel haben, verifizierbare Behauptungen aufzustellen, sondern „ … die Eigenschaft (Kriminalität, Delinquenz), über die das spätere Urteil eine deskriptive Aussage macht, tatsächlich erst begründen und ins Leben rufen.“ (Sack, 1972, S. 21) Natürlich heißt das nicht, daß Urteile ohne Bezug zu Sachverhalten zustande kommen. Ein gerichtliches Urteil kann die Behauptung über das Vorliegen einer strafbaren Handlung verifizieren oder falsifizieren.

So betrachtet können empirisch festgestellte Beziehungen zwischen kriminellem Verhalten einerseits und Eigenschaften und soziale Umwelt des „Verbrechers“ andererseits nicht als Voraussetzungen des inkriminierten Verhaltens, sondern nur als empirische Aussagen über die Art der Verknüpfung von physikalischem Geschehen mit mentalen Vorgängen gelten. Diese Beziehungen sind nach Ansicht Sacks „Transformationsbedingungen physikalischer Prozesse in intentionales Handeln“ (Sack, 1972, S. 22).

Solche Transformationen und Rekonstruktionen vorzunehmen ist zwar kein spezifisches Charakteristikum der Vorgehensweise von Gerichten und sonstigen Personen und Instanzen sozialer Kontrolle, doch liegt es in der gesellschaftlich legitimierten Kompetenz bestimmter Personengruppen, das Merkmal Kriminalität dem Verhalten Einzelner oder bestimmter Personengruppen zuzuordnen.

Ich kritisiere nun zwei wesentliche Punkte von Sacks Rezeption des Interkationismus in der Kriminalsoziologie. In erster Linie ist zu bezweifeln, ob die durch den Begriff „askriptiv“ gegebene Charakterisierung von Rechtsbegriffen und Urteilsfindung tauglich ist. (9) Sollte „askriptiv“ im Gegensatz zu „deskriptiv“ zu klären sein, müßte die Möglichkeit bestehen, ein physikalisches Ereignis, dessen Subjekt ein Mensch ist, überhaupt deskriptiv (beschreibend) darzustellen, so daß demgegenüber eine askriptive (zuschreibende) Darstellung abgegrenzt werden kann. Das ist aber nicht der Fall.

Ist ein Mensch Subjekt eines physikalischen Ereignisses, ist eine Beschreibung dieses Ereignisses ohne mentale Konnotation unmöglich. Jede Beschreibung menschlichen Handelns, selbst diejenige eines Autisten, ist in diesem Sinne eine Beschreibung sinnvollen sozialen Handelns (Weber). Der Satz „Er nahm ein Buch aus dem Regal“ verweist ebenso, wenn auch nicht in der selben Art und Weise, auf eine Intention oder einen mentalen Zustand (z.B. Bewußtsein) wie der Satz „Er stahl ein Buch aus dem Regal“. Es ist nicht zweckmäßig, eine analytische Trennung da zu vollziehen, wo sie sich in der Sprache selbst nicht findet. (10)

Ist „askriptiv“ eine bestimmte Bedeutung eines Satzes über seinen propositionalen Gehalt hinaus, nämlich was dieser Satz bewirkt oder was der Sprecher mit diesem Satz getan hat (illokutionäre Rolle des Satzes), kann das nur heissen, daß der Satz „Er stahl ein Buch aus dem Regal“ aus dem Munde des Richters etwas anderes bedeutet als aus dem Munde des Nachbarn. Das trifft zwar zu, aber der Begriff „askriptiv“ sollte Aufschluß darüber geben, wie denn die Transformation eines Vorgangs zur Aussage über das Vorliegen einer kriminellen Tat vor sich geht. Die Feststellung, daß Rechtsbegriffe und Urteile zuschreibender Natur seien, hilft uns an diesem Punkt nicht weiter.

Der zweite Kritikpunkt besteht darin, daß Sack kaum ausführt, welche marxistischen Prämissen in seine Theorie eingehen. Sie analysiert nämlich nur die Definitionsprozesse, die ein bestimmtes Handeln in ein kriminelles transformieren, unter dem Aspekt der Definitionskriterien der Instanzen sozialer Kontrolle, nicht aber die ökonomischen und sozialen Bedingungen im Zusammenhang mit einem bestimmten Handeln, das mittels bestimmter Normen und Verhalten der Instanzen zu kriminellem Handeln transformiert werden kann. Deshalb ist es dem Interaktionismus Sack’scher Prägung nicht möglich, die gesellschaftlichen, ökonomischen und sozialen Bedingungen und die darauf beruhenden Normsetzungsprozesse als zentrale Variablen in die Theorie einzubauen. Diese Variablen bedürfen aber in jeder marxistischen, d.h. Nach den Kriterien eines dialektischen Materialismus arbeitenden Theorie der vorgängigen Klärung.

Der Hinweis, daß die Betrachtung des Definitionsprozesses von kriminellem Verhalten als askriptiver Vorgang, der von den Instanzen sozialer Kontrolle nach schichtgebundenen Mustern selektiv betrieben wird, der marxistischen Auffassung von Klassenjustiz entspreche, mag zwar stimmen. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß die ökonomischen Verhältnisse als Determinanten von Verhalten und Normsetzung dem Zugriff des sogenannten „marxistisch-interaktionistischen Ansatzes“ entzogen sind. Mit einem marxistischen Ansatz müßte z.B. die These erfaßt werden können, daß die akute Existenzgefährdung eines Gelegenheitsarbeiters oder Fürsorgeempfängers ihn unter bestimmten Bedingungen zu einem Verhalten treibt, das wiederum unter bestimmten Bedingungen von den Instanzen sozialer Kontrolle mittels Transformation und Stigmatisierung kriminalisiert wird.

Umgekehrt heißt das jedoch nicht, daß ein wirklich marxistischer Ansatz mit den Prämissen eines interaktionistischen Ansatzes unvereinbar wäre. Im Gegenteil ist eine Klärung des Definitionsprozesses von kriminellem Verhalten, seinen Transformationsbedingungen und der kriminellen Karriere ohne die interaktionistische oder auch ethnomethodologische Theorie nur sehr beschränkt und ungenügend möglich.

Karl-Dieter Opp (1972, S. 32 ff) kritisiert anhand des Sack’schen Ansatzes die interaktionistische Kriminalsoziologie in erster Linie deshalb, weil sie die Analyse kriminellen Handelns auf das Verhältnis zwischen dem zu Kriminalisierenden und den Instanzen sozialer Kontrolle (nach Sack sogar auf das Handeln der Instanzen allein) beschränkt. Er ist der Ansicht, daß die Frage nach den Ursachen abweichenden Verhaltens durchaus sinnvoll gestellt werden könnte. Selbst wenn die Eigenschaft, kriminell zu sein, nur aufgrund eines Definitionsprozesses zustande kommt, muß die Definition nach bestimmten Merkmalen oder Eigenschaften (z.B. Soziale, biologische oder handlungsbezogene) vorgenommen werden. Theorien, die Aussagen über Ursachen· von Kriminalität ermöglichen, können empirisch wahr oder falsch sein. Opp kritisiert Sack’s Standpunkt, wonach die Definition von Kriminalität nicht nominalistisch, d.h. Nicht nur durch juristische Begrifflichkeiten erklärt werden dürfe, sondern durch Begrifflichkeiten der Normverletzung, ihrer Feststellung und der Reaktion darauf. Er ist der Ansicht, daß die juristische Definition als Endprodukt eines vielschichtigen Vorgangs es ermögliche, dieses Endprodukt zu erklären und damit zweckmäßiger sei als eine „Reaktions-Definition“. Dabei mißversteht er allerdings die interaktionistische Position, die juristische Begrifflichkeiten durchaus als Element der Definition kriminellen Verhaltens begreift, wenn auch nicht als hinreichende Definitionsbedingungen.

Karl F. Schumann (1973 und 1981) lehnt den radikalen interaktionistischen Ansatz ab, der Abweichung allein durch die Definition abweichenden Verhaltens erklären will. Er stellt zu recht fest, daß die soziale Lage nicht nur einen direkten Einfluß auf die strafrechtliche Selektion und die soziale Mobilität hat, sondern wesentlich auch auf Normen, die Metaregeln ihrer Anwendung und spezifische Verhaltensmuster. Er sieht drei Wege der Auseinandersetzung mit dem labeling approach, nämlich Theorieexplikation (Klärung von Widersprüchen und kaum entwickelten Annahmen), Relativierung (vergleichendes Studium konkurrierender Annahmen) und Überwindung (rigorose Änderung des Bezugsrahmens der Theorie) (Schumann, 1973, S. 87). Dabei soll ein Hauptaugenmerk auf das Verhältnis zwischen labeling approach und den Theorien der Verbrechensverursachung liegen, was in der vorliegenden Arbeit durch die Gegenüberstellung von Durkheim, Parsons und Merton einerseits und den neueren Ansätzen interaktionistischer Kriminalsoziologie andererseits, sowie anhand der materialistischen Kritik am Interaktionismus geschieht. Ich schließe mich der Ansicht Schumanns in bezug auf den Mangel einer Beschreibung der Perspektiven der Betroffenen innerhalb der interaktionistischen Kriminalsoziologie an:

„Sie (die „neue“ Kriminologie, d. V.) ignoriert die Wissenssysteme der Abweichler. Bislang ist noch keine Beschreibung der Justiz aus der Sicht des Angeklagten, keine Beschreibung der Lebenschancen, wie sie sich aus der Sicht Vorbestrafter darstellen, kein gründlich recherchiertes Buch über das Bild, das sich Jugendliche von Recht, Macht und Moral in unserer Gesellschaft machen, vorgelegt worden. Die Optik des Abweichers hat sich der deutschen Kriminologie bislang nicht recht erschlossen.“ (Schumann, 1973, S. 95)

Schumann bleibt jedoch einer sozialtechnologisch orientierten Wissenschaftspolitik verhaftet, da sein Modell der Integration der interaktionistischen Kriminalsoziologie wohl die Bedingungsverhältnisse zwischen sozialer Lage, Normen und Metaregeln und krimineller Selektion erfaßt (vgl. 1973, S. 85), nicht aber die Wirksamkeit der Realität des Strafvollzuges und des symbolischen Gehalts des Urteils auf die Erhaltung oder Produktion von Verhaltensnormen und Machtverhältnissen berücksichtigt. In dieser Hinsicht bleibt sein Integrationsansatz genauso „alt“, wie er es der „neuen“ Kriminalsoziologie zu sein vorwirft.

Haferkamp (1972, 1974 und 1975a) sucht die interaktionistische Kriminalsoziologie mit ätiologischen bzw. anomietheoretischen Ansätzen zu verknüpfen. Er schlägt vor, die Bedingungen des Definitionsprozesses getrennt aufzuzeigen. Er unterscheidet zwischen Situationsproduktion und Situationsdefinition analog der Sack’schen Unterscheidung zwischen physikalischem Ereignis und mentalem Zustand. Während Sack behauptet, ein physikalisches Ereignis werde erst in Verbindung mit einem mentalen Zustand zum sozialen Handeln und damit für die Sozialwissenschaften faßbar, meint Haferkamp Situationsproduktion und Situationsdefinition mittels wissenschaftlicher Kriterien trennen zu können (Haferkamp, 1972, S. 110). Diese Trennbarkeit soll dadurch belegt werden, daß delinquentes Verhalten nicht aus der Perspektive der Kontrollinstanzen, sondern aus derjenigen der Situationsproduzenten untersucht wird (vgl. Haferkamp, 1975a).

Die oben angeführte Kritik an den Begriffspaaren askriptiv-deskriptiv und physikalisches Ereignis-mentaler Zustand gilt analog für das Haferkamp’sche Begriffspaar Situationsproduktion-Situationsdefinition. Die rechtsrelevante Definition eines Handelns als „abweichend“ geschieht in ganz anderen sozialen Zusammenhängen und Interaktionen als die Produktion der Situation, die später als abweichend definiert wird. Es handelt sich dabei nicht bloß um die eine oder die andere Seite der Medaille als trennbare Elemente, sondern um zwei verschiedene Sachverhalte, die mittels bestimmter Transformationsbedingungen verknüpft werden.

Eine Alternative zu dem auf Hart zurückgreifenden Ansatz hat Peter Macnaughton-Smith (1968, S. 189 ff) entwickelt. Danach müssen für die erfolgreiche Zuschreibung (Verurteilung oder Inhaftierung) neben den tatsächlichen, handlungsbezogenen Gegebenheiten (juristische Tatbestandsmerkmale) als „primar code“ auch gewisse Merkmale eines „second code“ gegeben sein, wie z.B. bestimmte Lebensumstände oder Verhaltensweisen, eine bestimmte Art der Kleidung und der Sprache der zu definierenden Person, die die Zuschreibung der Handlung plausibel machen. Daß ein Fabrikbesitzer Dieb sein soll ist unwahrscheinlich, ganz im Gegensatz zum Landstreicher ohne festen Wohnsitz. Die Kritik des. Begriffspaares primar code – second code erfolgt später im dritten Kapitel.

Dorothee Peters (1970, 1971 und 1973) analysiert anhand des Instrumentariums der interaktionistischen Kriminalsoziologie die theoretisch postulierte und empirisch feststellbare unterschiedliche Behandlung der verschiedenen Klassen und Schichten durch die Instanzen sozialer Kontrolle im Kriminalisierungsprozeß. Nach Peters hängt die Definition einer Handlung als kriminell von den sozialen und ökonomischen Merkmalen dessen ab, der beurteilt wird. Dadurch kann die Überrepräsentation der unteren Schichten unter den sogenannten Kriminellen erklärt werden. Es gilt nun in erster Linie nachzuweisen, ob und wie die Wahrnehmung des sozioökonomischen Status durch den Richter (oder allgemein durch die Instanzen sozialer Kontrolle) die Definition einer Handlung als kriminell mitbestimmt bzw. ob die Definitionsinhalte nach dem Status des Betroffenen variieren. Peters untersucht allerdings nicht, inwieweit schon strafrechtliche Normen je nach dem Status des potentiell Betroffenen unterschiedliche Ausprägungen erhalten, also neben der Klassenjustiz ein Klassenrecht existiert. Dies könnte mittels einer Analyse der unterschiedlichen Fassung und Anwendung insbesondere der subjektiven Seite von Straftatbeständen (so etwa im Vergleich der §§ 242 und 263 StGB) geleistet werden.

Das Strafverfahren ist die entscheidende Phase im Kriminalisierungsprozeß, da hier die Definition einer Handlung als kriminell durch ein Verfahren legitimiert wird, das auf die allgemeine soziale Geltung der Definition angelegt ist. Durch das Urteil wird einem Individuum das Label eines Kriminellen verliehen, was einen Statusverlust bedeutet. Vorstrafen wiederum sind zentrale Selektionskriterien im Vorfeld des gerichtlichen Verfahrens.

Der Ermessensspielraum des Richters beginnt bei der Zuschreibung rechtlich relevanter Tatbestandsmerkmale, da Kriminalität keine Qualität der Handlung, sondern eine solche ihrer Definition ist. Erst vor Gericht wird die zu beurteilende Handlung endgültig rekonstruiert. Bei der Subsumtion eines Sachverhalts unter die strafrechtliche Norm werden außerverfahrensmäßige Kriterien der Bewertung für den Entscheidungsprozeß herangezogen. Eine Handlung liefert z.B. „Zueignungsabsicht“ nicht als ihre Interpretation mit. Der Richter konstruiert dieses Merkmal durch Schluß von der Situation des Täters auf seine Intention und sucht in der Handlung selbst Indikatoren für diese Intention, z.B. ein lange vorbereiteter Plan zur Durchführung dieser Handlung. Er beurteilt deren Vorwerfbarkeit und die Zurechnungsfähigkeit des Handelnden. Er prüft, ob der Strafzweck durch Geldstrafe erreicht werden kann, eine Freiheitsstrafe ausgesprochen werden muß oder ob der Verurteilte bei Aussetzung der Strafe sich in Zukunft bewähren würde. Die vom Strafrecht geforderte richterliche Beurteilung der sozialen Situation des zu Verurteilenden führt über die daraus abgeleitete Einschätzung der Tatmotivation, der Strafwirkung, des zukünftigen Verhaltens usw. zu einer bestimmten Sanktion.

Je stärker der Richter die soziale Situation des zu Beurteilenden für ungeregelt hält, desto eher wird er, z.B. bei der Beurteilung eines Diebstahls Zueignungsabsicht annehmen und das zukünftige Wohlverhalten in Frage stellen. Paßt die soziale Situation des Täters nicht zur Vorstellung des Richters von einem „normalen Dieb“, so wird häufig schon die Tatbestandsmäßigkeit der Handlung fragwürdig. In diesem Falle finden sich zwei Formen der Typisierung. Die rekonstruierte Handlung kann pathologisiert werden: Zurechnungsunfähigkeit aufgrund von Alkoholgenuß, Kleptomanie, akuten psychischen Störungen, bei Frauen auch Schwangerschaft und Klimakterium. Die zweite Möglichkeit der Entkriminalisierung besteht in der Typisierung als Gelegenheitstat: ,.Er konnte der Verlockung nicht widerstehen und hatte kein Unrechtsbewußtsein“ oder „Der Vorsatz wurde erst im Nachhinein gefaßt“.

Voraussetzung für die Verurteilung ist die Tatbestandsmäßigkeit und die Vorwerfbarkeit einer Handlung. Tatbestandsmäßigkeit ergibt sich für den Richter nicht zuletzt aus der sozialen Situation, in der er die Handlung lokalisiert und die ihm dann den Schluß auf den Vorsatz des Täters erlaubt oder nicht. Begründet die Situation den Vorsatz – etwa die wirtschaftliche Not den Diebstahl – erscheint die Vorwerfbarkeit gesichert, und zwar umso mehr, je eindeutiger der Zusammenhang zwischen Handlungsintention und Situation dem Richter erscheint. Daraus leitet Peters ab, daß umso härter sanktioniert würde, je „verstehbarer“ die Handlung wird. So gesehen interpretieren Richter unzulängliche soziale Situation als Lebensführungsschuld, ein bekanntes, mit der protestantischen Ethik (Weber) zusammenhängendes Muster.

Peters Untersuchung bestätigt die Hypothese, daß Merkmale der sozialen Situation, die die soziale Identität des Handelnden für andere Personen ausmachen, die Definition seiner Handlung als kriminelle Handlung, seiner Person als kriminell und damit seiner Sanktionierung beeinflussen. Aufgrund der Resultate kann eine neue Hypothese aufgestellt werden, nämlich daß die höhere Rate der Unterschichtskriminalität (im Vergleich zu der Kriminalität anderer Schichten) nicht unmittelbar aus unterschichtsspezifischen Verhaltensmustern zu erklären ist. Entscheidend ist vielmehr die Verarbeitung unterschichtsspezifischen Verhaltens oder sozioökonomischer Merkmale durch die am Kriminalisierungsprozeß beteiligten Institutionen sozialer Kontrolle.

Wolfgang Keckeisens Rekonstruktion des „labeling approach“ kann als eigenständige Variante der interaktionistischen Kriminalsoziologie betrachtet werden (Keckeisen, 1974, S. 1 ff). Keckeisen formuliert das Erklärungsideal des interaktionistischen Paradigmas in der Kriminalsoziologie so:

„Devianz als soziale Tatsache ist dann erklärt, wenn sie als situativ bestimmte, erfolgreiche Zuschreibung eines Status/Attributs durch andere, insbesondere durch Kontrollinstitutionen, rekonstruiert werden kann; die Regeln, denen die Definition folgt, und die Mittel, deren sich die Kontrollinstanzen zur Durchsetzung der Definition bedienen, bedürfen dabei ebenso der Erklärung, wie die Kontrollinstanzen selber.“ (Keckeisen, 1974, S. 32)

Aus dem interaktionistischen Paradigma läßt sich logisch ableiten, daß das Verhalten des Definitionsadressaten an sich Devianz nicht begründet.

„Es (das Verhalten, d. V.) geht – im Rahmen dieses Paradigmas als Element in den situativen Kontext der Definition ein.“ (Keckeisen, 1974, S. 32)

Das Ergebnis der interaktionistischen Untersuchungen liegt nach Keckeisen in erster Linie in der Behauptung, daß Devianz als soziale Tatsache in der Interaktion zwischen dem Adressaten der Norm und denen, die auf sein Verhalten reagieren und damit Devianz in dieser Interaktion erzeugen, begründet ist. (11)

„Das könnte zweierlei heissen: Erstens könnte die Erzeugung einer Bedeutung gemeint sein, eines Urteils über eine Person oder eine Verhaltensweise, das in der Verständigung mit anderen, besonders aber in Interaktion mit der betroffenen Person, der diese Bedeutung beigemessen werden soll, ermittelt wird, zweitens könnte die Herstellung einer sozialen Situation gemeint sein, in der einem andern ( durch übereinstimmende Definition) ein devianter Status zugeschrieben, und er entsprechend behandelt wird, so daß er, in der Konsequenz, auf die neue Situation „entsprechend“ zu reagieren genötigt wäre.“ (Keckeisen, 1974, S. 37)

Hier übersieht Keckeisen, daß Devianz aufgrund einer rekonstruierten Handlung zugeschrieben wird, der eine Transformation einer wie auch immer gearteten „alltäglichen Handlung“ vorausgeht. Es handelt sich also nicht um die Erzeugung eines Urteils über eine Verhaltensweise, sondern um die Erzeugung eines Urteils über eine rekonstruierte Handlung. Die dem Definitionsprozeß zugrunde liegende alltägliche Handlung oder Verhaltensweise selbst ist nicht oder nur mittelbar Objekt der Erzeugung der Bedeutung „Devianz“.

Keckeisens Dualismus der Fragestellung ist begründet in den unterschiedlichen Ansätzen der Autoren, die Abweichung unter interaktionistischer oder ethnomethodologischer Perspektive analysieren: Cicourel, Hart, Sacks und Garfinkel sind phänomenologisch oder sprachanalytisch orientiert, ihre Untersuchungen wenden sich dem ersten Problemkreis zu. Becker, Lemert oder Goffman hingegen richten ihr Augenmerk auf die Konsequenz der Definition und die kriminelle Karriere. Das Karriere-Modell geht davon aus, daß abweichendes Verhalten nur das Verhalten ist, das Menschen so etikettieren. Die öffentliche Etikettierung hat Konsequenzen sowohl für die gesellschaftlichen Teilnahmemöglichkeiten des Betroffenen wie auch für dessen Selbstbild. So kann sekundäre Devianz oder kriminelle Karriere erklärt werden, schwerlich aber primäre Devianz oder die erstmalige Kriminalisierung. An diesem Punkt setzen Sprachanalyse, Phänomenologie und Ethnomethodologie ein: Das Konstitutionsproblem von Devianz wird Gegenstand der Forschung. Da es kein objektives, von der alltäglichen Praxis unabhängiges, das Vorliegen von Abweichung deduktiv bestimmendes Kriterium für Devianz gibt, können nur die Alltagspraxis selber und die dabei angewendeten Methoden Abweichung erklären.

„Weil soziale Situationen nicht dem Muster mechanischer Bedingungszusammenhänge folgen, sondern wesentlich intentional strukturiert sind, lassen sich diskursive Momente aus ihnen nicht vollständig tilgen, was soviel heißt, daß die Behauptung, eine soziale Norm sei verletzt worden, prinzipiell zum Gegenstand von Anfechtung und Begründung wird. Die Argumente – in Gestalt von ,Anschuldigung‘ (charge) und ,Rechtfertigung‘ (account) – beziehen sich nicht (oder nicht hauptsächlich) auf die ,brute facts‘, die rohen Daten, sondern sie haben subjektive Involviertheit, die Verantwortlichkeit des Angeschuldigten zum Gegenstand.“ (Keckeisen, 1974, S. 45 f).

Strafrechtliche Normen abstrahieren weitgehend von den Bedingungen, die die Handlungssituation bestimmen. Sie vermögen weder die Summe der unter die Norm zu subsumierenden Fälle noch die Summe der möglichen Ausnahmen a priori festzulegen. Als Beispiel mag eine Änderung der Rechtsprechung unter Beibehaltung der Rechtsnorm dienen. Dabei wird eine bestimmte rekonstruierte Handlung, die vorher nicht unter die Strafnorm subsumiert wurde, der Norm zugeordnet oder umgekehrt. Der Bedeutungsgehalt einer Norm bestimmt sich also nicht allein durch die semantische Analyse der Norm, sondern durch die Analyse der Anwendung der Norm. Die Norm selber läßt noch nicht erkennen, wie die Instanzen handeln, wenn sie sie anwenden, oder wie Personen handeln, die sie befolgen.

Keckeisen greift wie auch Sack auf die Sprachspielanalyse von Hart zurück und erklärt, daß „Richter richten“ und nicht beispielsweise empirische Sozialforschung betreiben.

„Weil Urteile, d.h. die Anwendung von Devianzkategorien in real sich vollziehenden gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, nicht aus einer Kombination von allgemeinen Normen und Fakten deduktiv gefolgert werden können, können Urteile in einem logischen Sinne nicht ,wahr‘ oder ,falsch‘ sein.“ (Keckeisen, 1974, S. 48)

Das Modell von Hart wurde schon oben kritisiert. Urteile können sehr wohl ,wahr‘ sein, zwar nicht aufgrund einer deduktiven Folgerung, sondern aufgrund einer induktiven Feststellung des Zutreffens rechtsrelevanter Sachverhalte. Allerdings bezieht sich die ,Wahrheit‘ nicht auf die reale Handlung, sondern auf die im Verfahren rekonstruierte Handlung, und insofern ist Keckeisen zuzustimmen.

Die Zuschreibung einer kriminellen Handlung bezieht sich stets auf die Intentionalität des Handelnden. Strafrechtliche Begriffe wie Absicht, Fahrlässigkeit oder Arglist weisen auf diesen Umstand hin. Wird der Handelnde nicht ,verantwortlich‘ gemacht, scheitert zwar die Zuschreibung einer kriminellen Handlung, nicht unbedingt aber die Zuschreibung einer psychopathologischen Handlung (z.B. Kleptomanie im Gegensatz zu Diebstahl), was entweder zu einem Sanktionswegfall oder aber zur Psychiatrisierung führen kann. (12) Für die Zuschreibung von Verantwortlichkeit müssen zwei Bedingungen erfüllt sein. Erstens muß die Situation dem Handelnden Alternativen ermöglichen (konnte er überhaupt anders handeln?) und zweitens muß dem Handelnden ein Bewußtsein über seine Handlung zugeschrieben werden können (wußte er was er tat als er es tat?).

Bei der Analyse des Definitionsprozesses kriminellen Handelns folgt Keckeisen weitgehend den Arbeiten von Cicourel ( 1968, 1970a, 1970b, 1972a und 1972b) und Garfinkel (1967). Cicourel unterscheidet ,surface rules‘, Normen, die allgemeine Gültigkeit haben, und ,basic rules‘, Regeln, die jeder Interaktion von Individuen zugrunde liegen (Interpretationsregeln). Dazu ein Beispiel: Sind mehrere Leute in einem Lebensmittelgeschäft um zu kaufen oder zu verkaufen, gilt die allgemeine Norm des Warentausches. Das eine Individuum gibt Geld gegen Ware, das andere Ware gegen Geld. Eine Norm im Sinne von ,surface rule‘ bestünde nun darin: Wenn ein potentieller Käufer eine Ware an sich nimmt und zur Kasse geht, oder um eine bestimmte Ware bittet, erwartet jedermann, daß der Kunde dafür bezahlt. (13)

Eine zentrale Interpretationsregel ist die Regel der reziproken Perspektiven (Cicourel, 1972a). In jeder Interaktion unterstelle ich, daß mein Gegenüber Zeichen so interpretiert, wie ich sie interpretieren würde, stünde ich an seiner Stelle. Ich vermute, daß seine Äußerungen prinzipiell verständlich sind. Selbst wenn ich sie nicht zu deuten weiß, unterstelle ich ihnen einen Sinn. Diese Interpretationsregel gibt Aufschluß über die Interaktion zwischen Richter und Angeklagtem im strafrechtlichen Verfahren. Durch unterschiedliche kulturelle Bedingungen, Herkunft und Schichtangehörigkeit hervorgerufene Unterschiede in der Sprache und in nonverbalen Äußerungsformen können zu unterschiedlichen Interpretationen von Äußerungen des jeweiligen Gegenübers führen, die die Situation des Aushandelns der Handlungsrekonstruktion zuungunsten des Schwächeren beeinflussen. In solchen Situationen wird ein gelungener Perspektivenwechsel unterstellt, der praktisch nicht stattgefunden hat (vgl. auch Liebknecht, 1907, S. 39).

Die Frage „Wie geht es Ihnen?“ hat bei einem zufälligen Zusammentreffen auf der Straße eine andere Bedeutung als bei einem Krankenbesuch. In unseren Äußerungen beziehen wir uns immer auf ein vorausgesetztes, nicht thematisiertes oder aktualisertes Wissen. Wir greifen auf das Vorverständnis für eine Situation zurück, ohne dies ausdrücklich zu erwähnen (Schütz, 1964). Deshalb können Äußerungen und Handlungen im Nachhinein einen anderen Sinn bekommen oder, obwohl sie zunächst nicht verstanden werden, im Vertrauen auf ihre spätere Klärung im Gedächtnis bewahrt bleiben. So etwa die polizeiliche Kategorie des Verdachts. Ausgehend von einem unruhigen Blick während der Befragung und einem langen Strafregister kann er sich mit Hilfe mannigfaltiger Einzelheiten verdichten zum dringenden Tatverdacht als Grund für einen Haftbefehl. (14)

,Wirklichkeit‘ (hier z.B. der Akt der Verhaftung) kann nur mittels Typisierungen (z.B. Verdachtsmomente) mit allgemein gültigen Normen m Zusammenhang gebracht werden. Diese Typisierungen können sich auch nach Normalitätserwartungen richten, die aus nichtsprachlichen Erfahrungen gewonnen wurden und auch nicht sprachlich formuliert werden können (Sacks, 1972). Mindestens in diesem Falle ist die Begründung der Wirklichkeit bzw. des Verdachts Rationalisierung ex post.

„Immer wenn ein Handelnder darlegen soll, daß eine Erklärung/ Rechtfertigung (account) für eine aktuelle Situation zutrifft, benützt er die Praxis von ,wie man weiß‘, ,es sei denn, daß‘ und ,sei es, wie es will‘ um die Rationalität seiner Handlung darzulegen.“ (Garfinkel, 1967, S. 3) (15)

Typisierungen und die Verwendung von indexikalischen Ausdrücken (Garfinkel), d.h. Ausdrücken, die nur im Zusammenhang mit dem Kontext und dem Vorverständnis, das dem Gegenüber unterstellt wird verständlich sind, bedingen, daß typische delinquente Handlungsmuster, Motivationszusammenhänge und Entwicklungen zum Wissensbestand der Instanzen sozialer Kontrolle gehören, der es ihnen ermöglicht, bestimmte Personen als Kriminelle zu definieren.

Karrieren sind im nachhinein konstruierte Handlungs- und Entwicklungsabläufe, die durch Vertreter der Instanzen sozialer Kontrolle den Betroffenen zugeordnet werden (Cicourel, 1968). Insofern „erzeugen“ die Instanzen die Karriere. Das trifft sowohl für eine einmalige Definition einer Person als kriminell handelnde, wie für die Entstehung einer bestimmten Handlungsorientierung bei dem Betroffenen zu. Die einmalige Definition ist jedoch nicht an eine entsprechende reale Handlung des Betroffenen gebunden. Die Entwicklung von typischen delinquenten Handlungsmustern als Zuordnungskriterien bringt es mit sich, daß durch die Sanktion selbst eine Kategorie geschaffen wird (Vorstrafe), die hinreichende Bedingung und Indiz (siehe Abschnitt 1. 2.3) für das Vorliegen eines delinquenten Handlungsmusters sein kann, So werden vorbestraften Jugendlichen Verhaltensweisen abgefordert und Auflagen erteilt, die für Nicht-Vorbestrafte keine Rolle spielen. Für die Betroffenen gelten verschärfte Normalitätskriterien (Lemert, 1967),

Für die quantitative Seite von Delinquenz, der Masse von auftretender, offiziell sanktionierter oder registrierter Abweichung, ergibt sich aus der interaktionistischen Analyse, daß sie in erster Linie von den Kapazitäten der Kontrollinstanzen abhängt und nicht von der Masse des Auftretens bestimmter Handlungsabläufe bei den übrigen Gesellschaftsmitgliedern (Rubington/Weinberg, 1978; Erikson, 1966; Bittner, 1967). (16) Die oft geäußerte Argumentation, daß Kriminalität steige und daher die Kapazitäten der Kontrollinstanzen erhöht werden müßten, um die Kriminalität niederzukämpfen, ist schlechthin aberwitzig. In Abwandlung des Wortes von Karl Kraus könnte man sagen, daß repressive soziale Kontrolle die Krankheit ist, für deren Heilung sie sich hält.

Lothar Kuhlen (1978) kritisiert den „radikalen Reaktionsansatz“, als dessen Vertreter er Helge und Dorothee Peters (1970, 1973, 1976), die ethnomethodologisch orientierten englischsprachigen Autoren wie Cicourel (1968, 1970a, 1972a, 1975), Sacks (1963), Garfinkel (1967, 1973, 1976) oder Zimmerman (1974, 1976) und in wesentlichen Punkten auch Sack (1968, 1972, 1973) bezeichnet. Die zentrale These des radikalen Reaktionsansatzes lautet nach Kuhlen „daß Devianz durch bestimmte Reaktionen von Instanzen sozialer Kontrolle, nämlich durch Etikettierung von Personen oder Handlungen als abweichend, erst konstituiert werde“ (Kuhlen, 1978, S. 1). Die radikale, kompromißlose Anwendung dieser These würde bedeuten, daß die Kategorien ,Dunkelfeld‘ (abweichendes Verhalten ohne Reaktion der Instanzen) und ,Justizirrtum‘ (Reaktion ohne wirkliches abweichendes Verhalten) nicht bestehen könnten, da sie abweichendes, gegen Strafrecht verstossendes Handeln erst durch die Reaktion der Instanzen konstituiert. Die Kritik richtet sich nicht in erster Linie gegen die Autoren, die die kriminelle Karriere unter interaktionistischer Perspektive betrachten (Becker, Lemert etc.), sondern gegen diejenigen, die unter phänomenologischer oder interaktionistischer Perspektive die Konstitutionsbedingungen abweichenden Verhaltens im Definitionsprozeß betrachten (vgl. oben). Dem radikalen Reaktionsansatz liegt die Annahme zugrunde (die Kuhlen widerlegen will) „daß sich nicht wissenschaftlich ermitteln läßt, ob Handlungen objektiv, d.h. unabhängig davon, ob sie als kriminell etikettiert wurden, gegen geltendes Strafrecht verstossen“ (Kuhlen, 1978, S. 28). Neben den durchaus zutreffenden Argumenten, daß der ,askriptive‘ Charakter von Urteilen und Rechtsnormen keine grundlegende Analyse des Definitionsprozesses ermöglicht (S. 36), daß sich die Normen und die zu subsumierenden Handlungen nicht aus der Analyse ausblenden lassen (S. 35 und S. 52 f), und daß (im Anschluß an Opp’s Kritik, vgl. oben) Bezeichnungen wie Diebstahl eine bestimmte· Bedeutung haben, die sich „unabhängig von richterlicher Etikettierung ermitteln läßt“ (S. 40), finden sich wesentliche Mißverständnisse der ethnomethodolo­ gischen Theorie:

„ (Die Ethnomethodologie mündet) … in subjektivistische Konzeption von sozialer Wirklichkeit, die deren ,objektivem‘ Charakter nicht Rechnung zu tragen vermögen. Es ist nur die, rechts- und kriminalsoziologisch wichtigste, Konsequenz einer solchen Konzeption, wenn die Objektivität von Rechtsnormen bestritten und damit die Möglichkeit preisgegeben wird, zwischen objektiv strafbaren und subjektiv, d.h. von bestimmten, auf ein Verhalten reagierenden Personen als strafbar eingestuften, Handlungen zu unterscheiden.“ (Kuhlen, 1978, S. 3)

Kuhlen ist der Ansicht, die Argumentation ethnomethodologisch orientierter Soziologeninnen, die „zur völligen Ausblendung strafbaren Verhaltens und zur ausschließlichen Untersuchung der ,Beschreibung‘ solchen Verhaltens durch den Richter und andere ,mundane Denker‘ führt“ (Kuhlen, 1978, S. 52 f), sei nicht überzeugend. Seine Kritik richtet sich gegen das Postulat, wonach das „Interesse an der Frage, inwieweit Beschreibungen wirklich Beschreibungen von etwas sind“ (Zimmerman/Wieder, 1976 S. 109) zunächst nicht beachtet werden soll. Im Gegenteil seien gerade die realen Auswirkungen in der Außenwelt neben den Bemühungen der Menschen „unablässig damit beschäftigt (zu sein) sich gegenseitig zu beschreiben und zu erklären, was sie in der Vergangenheit getan haben, in der Gegenwart gerade tun und in der Zukunft tun wollen“ (Zimmerman/Wieder, 1976, S. 105) Gegenstand der Soziologie.

Bei seiner Kritik übersieht Kuhlen, daß der Forschungsgegenstand ethnomethodologischer Kriminalsoziologie nicht ein bestimmtes Verhalten ist, sondern die Rekonstruktion eines bestimmten Verhaltens als kriminelles. (17) Wenn die Instanzen sozialer Kontrolle die gesellschaftlich zugewiesene Kompetenz haben, ein rekonstruiertes Verhalten als strafbar zu bezeichnen und entsprechend vordefinierte Sanktionen zu verhängen, was durch die Grundsätze von Strafrechtslehre und positivem Strafrecht abgesichert ist, kann sich eine wissenschaftliche Analyse des so zustande gekommenen ,strafbaren Verhaltens‘ nur auf diesen Definitionsprozeß beziehen. Strafbares Verhalten ist im Gerichtssaal dargestelltes, sanktioniertes Verhalten.

Daß die reale Außenwelt, ökonomische Bedingungen oder physikalische Auswirkungen menschlichen Handelns existieren, ist auch für Ethnomethodologen keine Frage. Daß z.B. eine Handlung stattgefunden haben kann, die dann als widerrechtliche, strafbare Überführung eines Gegenstandes von einem Ort zum andern unter Aneignungsabsicht beschrieben wird; oder daß sich ein Handelnder durchaus bewußt sein kann, daß er gerade etwas tut, was ihn ins Gefängnis bringen könnte, würde ihn ein Polizist dabei beobachten, wird von den Vertretern interaktionistischer und ethnomethodologischer Positionen nicht bestritten. Der Satz von der Konstitution kriminellen Verhaltens im Definitionsprozeß bedeutet doch wohl nicht, daß die Instanzen durch bloße Definition eine zeitlich zurückliegende physikalische Veränderung der Außenwelt vornehmen würden.

So betrachtet, können die Kategorien ,Dunkelfeld‘ und ,Justizirrtum‘ durchaus bestehen. Das Dunkelfeld bildet die Klasse der Fälle, die nach Ansicht des Dunkelfeldforschers, des „interessierten Beobachters“ oder des Handelnden selbst die Chance hätten oder gehabt hätten, bei Zutreffen wesentlicher Rahmenbedingungen (Entdeckung, Verfolgung, Fehlen von Rechtfertigungsinstrumenten usw.) durch Instanzen sozialer Kontrolle als kriminell definiert zu werden. Justizirrtümer sind die Klasse von Fällen, wo die gerichtliche Zuschreibung eines kriminellen Verhaltens auf der Feststellung von Sachverhalten beruht, die von anderen Individuen als nicht zutreffend bezeichnet werden, nach ihrem Wissen also falsch sind. Die Kategorien des Dunkelfeldes und des Justizirrtums können nur dann nicht bestehen, wenn man fälschlicherweise die Erzeugung einer realen, zu definierenden Handlung durch Reaktion der Instanzen annimmt. Im Definitionsprozeß wird immer eine Definition und nie ein physikalisches Ereignis produziert. Wenn die Dunkelfeldforscher allerdings meinen und vorgeben, sie würden „kriminelles Handeln“ erforschen, irren sie sich. (18)

Kuhlens Kritik ist in dem Punkt berechtigt, wo er der interaktionistischen Kriminalsoziologie vorwirft, daß sie wesentliche Ansprüche nicht einlöst oder nicht einlösen kann. Die Forscher, die dieser Richtung verpflichtet sind, explizit insbesondere Dorothee Peters (1970 und 1973) wollen die Normanwendungsregeln bei der Definition abweichenden Verhaltens aufdecken. Es ist zwar plausibel, daß soziale und ökonomische Merkmale des Betroffenen bei der Definition seiner Handlungen eine zentrale Rolle spielen, doch wurde bis dahin innerhalb der interaktionistischen Kriminalsoziologie nicht geklärt, wie sich gesellschaftliche Realität konstituiert; so können die Merkmale des Handelnden, die dazu führen, daß seine Handlungen als strafrechtlich zu verfolgende definiert werden, nicht exakt beschrieben werden. Der Beitrag von ethnomethodologisch orientierten Wissenschaftlerinnen zu dieser Frage bleibt allerdings abzuwarten. Besonders neuere Versuche (vgl. z. B. Koeck, 1976), eine „kritische Ethnomethodologie“ zu begründen, die eine Revision oder Richtigstellung des Begriffs der „ethnomethodologischen Indifferenz“ gesellschaftlichen und individuellen Zielvorstellungen, ökonomischen Bedingungen und Machtverhältnissen gegenüber vornehmen, beinhalten fruchtbare Ansatzpunkte zur Analyse der Konstitution gesellschaftlicher Realität in Verbindung mit einer Kritik der politischen Ökonomie und anomietheoretischer Überlegungen.

Die bisherige Darstellung des interaktionistischen Ansatzes erweckt den Eindruck, daß die von der Kriminalisierung Betroffenen nur als Objekte und nicht als beteiligte Parteien des Definitionsprozesses in Erscheinung treten. Die Frage nach Macht und Herrschaft im Definitionsprozeß läßt sich jedoch ohne Einbeziehung der Betroffenen als Subjekte des Prozesses nicht klären.

„Devianzdefinitionen bedürfen zu ihrer empirischen gesellschaftlichen Geltung nicht der Zustimmung durch die Betroffenen, sie sind auf Konsens nicht notwendig angewiesen. … der Form nach ist das ,bargaining‘ – das Handeln um rechtliche oder moralische Klassifikationen und die damit gesetzten Maßnahmen – Auseinandersetzung zwischen gegensätzlichen Interessen. Tatsächlich aber sind die Chancen, den ,Kontrakt‘ zu bestimmen, keineswegs gleich verteilt. Selten dominiert die ,Beschwerdemacht‘ (Feest) des Angeschuldigten über die ,Definitionsmacht‘ der Kontrollinstanzen: häufig verschwindet die Verhandlung über das, was geschehen ist, fast spurlos in einem Akt verständnisloser Überwältigung.“ (Keckeisen, 1947, S. 92)

Keckeisen ist der Ansicht, daß der theoretische Status der gesellschaftlichen Macht im interaktionistischen Ansatz nicht geklärt ist.

„Weil der Ausgangspunkt der phänomenologischen Soziologie … die Einheit von sozialer Erkenntnis und gesellschaftlicher Praxis, d.h. die Rückführbarkeit des Gesellschaftlichen als Gesellschaftlichem auf normative Beziehungen im weitesten Sinne basic rules, common culture, general rules – ist, ist gesellschaftliche Macht dem konzipierten Gegenstand dieses Ansatzes nicht vollständig bzw. nur in Derivaten integrierbar. Denn Macht ist in normativen Bestimmungen nicht ohne Rest auflösbar.“ (Keckeisen, 1974, S. 93)

Es sind aber gerade diese zu analysierenden normativen Beziehungen, die Macht in Erscheinung treten lassen und mittels derer Macht ausgeübt werden kann. Die Verschleierung von Macht durch „allgemeines Recht“, das die unterschiedlichen sozialen und ökonomischen Ressourcen der Individuen nicht berücksichtigt ( Rottleuthner, 1981), läßt sich durch Analyse der normativen Regeln (general rules oder surface rules) für die Anwendung von Basisregeln auflösen. Das Machtgefälle und die damit zusammenhängende unterschiedliche Schicht- bzw. Klassenzugehörigkeit von Kontrollagenten und Betroffenen (Liebknecht, 1907, S. 30 ff, und 1910, S. 24 ff sowie Kaupen, 1969) sind Elemente der „common culture“, in die auch ökonomische Verhältnisse, Besitz von Produktionsmitteln usw. mit eingehen.

Macht spielt unter drei Aspekten in der interaktionistischen Analyse eine Rolle: (A) in der direkten Interaktion zwischen dem Vertreter der Instanzen sozialer Kontrolle und dem Betroffenen, (B) in der Einflußnahme bestimmter Individuen und Gruppen auf die Akte der Instanzen sozialer Kontrolle und (C) in der Einflußnahme auf die Formulierung und Durchsetzung von Rechtsnormen und anderen allgemeinen Normen.

Bei der direkten Interaktion spielt vor allem das Wissen um Ziele und Argumentationsformen des Gegenübers eine Rolle. Wer die Entscheidungskompetenz bzw. Definitionsmacht seines Gegenübers (z.B. Richterin, Staatsanwalt, Polizistin oder Sozialarbeiter) nicht erkennt, seine Sprache nicht beherrscht und seine Beurteilungskriterien nicht kennt und so auf die drohende Definition nicht mit entsprechenden Argumenten (ad A) oder Gegenstrategien außerhalb der gerade stattfindenden Interaktion (Beschwerdemacht, ad B) reagieren kann, ist der Definition mehr oder weniger ,machtlos‘ unterworfen. Dasselbe gilt, wenn der Definierende im Gegensatz zum Betroffenen in der Lage ist, physische Gewalt auszuüben.

Die Möglichkeit der Einflußnahme auf die Akte der Instanzen ist gegeben durch Einflußnahme gesellschaftlicher Gruppen und Interessen auf die Organisation von Kontrollprozessen, durch Mobilisierung von Machtressourcen seitens des Betroffenen, um auf den Prozeß der Rechtsanwendung im Einzelfall einzuwirken und durch organisierte Gegenmacht der Betroffenen im Definitionsprozeß (Keckeisen, 1974). Alle diese Möglichkeiten stehen sozial Bessergestellten eher zur Verfügung als Arbeitern oder vor allem Angehörigen des Subproletariats.

„Die Möglichkeit bestimmter gesellschaftlicher Gruppen, mit individuell verfügbaren Machtressourcen auf Kontrollprozesse einzuwirken, legt den Kontrollinstanzen strategische Konsequenzen nahe: Je höher die gesellschaftliche Reputation und Macht, die die Kontrollagenten den einzelnen Adressaten und ihren sozialen Beziehungen unterstellen, desto eher sehen sie, auch bei hinreichender ,Evidenz‘, von der Verhängung eines offiziellen Devianzlabels ab. Sie schreiben dem Fall nur bedingte offizielle Relevanz (,öffentliches Interesse‘) zu und versuchen, die Korrektur der Abweichung in die private Beziehungsstruktur zu ,re-kanalisieren‘, indem sie den Delinquenten zu privater Entschädigung und/oder privater Therapie zu bewegen suchen.“ (Keckeisen, 1974, S. 106)

Für die unterprivilegierten Gruppen hingegen ist die Möglichkeit der Bildung einer organisierten Gegenmacht, d. h. die Abweichung zu politisieren und Konfliktfähigkeit zu schaffen, beispielsweise durch gewerkschaftliche Organisation der Betroffenen am erfolgversprechendsten (vgl. Horowitz/Liebowitz, 1968 und Mathiesen, 1979 und 1981).

Die Analyse des Zusammenhangs von Macht und Normsetzung beruht in der interaktionistischen Theorie auf zwei Grundannahmen. Erstens wird postuliert, daß in der Gesellschaft ein kultureller Pluralismus herrscht, d.h. daß verschiedene Gruppen nebeneinander bestehen, die unterschiedliche kulturelle Systeme und Wertorientierungen haben und zweitens, daß die Macht zwischen diesen Gruppen ungleich verteilt ist.

„Demnach gehören gesamtgesellschaftliche Normen, insbesondere Rechtsnormen als Normen mit allgemeinem Geltungsanspruch genuin nicht der Gesamtgesellschaft zu, sondern werden von den Gruppen, die mächtig genug sind, zu allgemein gültigen erklärt und mit Hilfe eines Sanktionsapparates durchgesetzt.“ (Keckeisen, 1974, S. 110)

Kriminalisierung richtet sich also nicht so sehr gegen Individuen und Einzelpersonen, sondern gegen bestimmte Gruppen, deren kulturelle Werte und Verhaltensweisen als relevante Merkmale des kriminellen Typus festgesetzt werden (Turk, 1964; Foucault, 1976). Dabei können die Gesetze sowohl als Ausdruck der kulturellen Werte der herrschenden Gruppe wie auch funktional als Mittel im Machtkampf zwischen den gesellschaftlich relevanten Gruppen begriffen werden. Dieser Differenz von symbolischer und instrumenteller Funktion von Rechtsnormen entspricht die Differenz der Adressaten. Mittels der symbolischen Funktion wird in erster Linie die prinzipiell normkonforme ,Bevölkerung‘ angesprochen, mittels der instrumentellen der definierte Normbrecher selber. Die Rechtslehre kennt diesen Dualismus der Funktionen des Strafrechts unter den Begriffen Generalprävention und Spezialprävention, wobei Generalprävention sich allerdings auch auf die instrumentelle Funktion bezieht.

1.3 Theorieansätze der Untersuchung

Das objektivistische oder ätiologische Modell, das Kriminalität als objektiv gegeben betrachtet, untersucht in erster Linie die psychischen und sozialen Merkmale des sogenannten Kriminellen, oder die Ereignisse und Umstände, die den kriminellen Akt hervorgebracht haben.

Das interaktionistische Modell, das da von ausgeht, daß abweichendes Verhalten zwischenmenschlich bzw. gesellschaftlich konstituiert wird, untersucht die Definitionen und Aktionen sowohl der abweichend Handelnden wie auch derjenigen, die „labeln“ oder Stigmata (Goffman, 1967) verteilen als Interaktion zwischen dem Definierenden und dem Definierten.

Das interaktionistische Modell geht insofern weiter als das objektivistische, als es das Verhältnis zwischen dem abweichend Handelnden, und denjenigen, die gewisse Handlungen als abweichend definieren, in die Analyse miteinbezieht.

Da der interaktibnistische Ansatz mehr Erklärungsmöglichkeiten für den Ablauf des Kriminalisierungsprozesses bietet und außerdem auf weniger zweifelhaften Prämissen beruht als der objektivistische oder ätiologische, folgt diese Untersuchung, soweit sie sich auf den Kriminalisierungsprozeß bezieht, dem interaktionistischen Modell. Bei der Erklärung individuellen Handelns berücksichtige ich die Ansätze der Anomietheorie und die Überlegungen Durkheims. Die ökonomischen Grundlagen der Normsetzungsprozesse, der Instanzen sozialer Kontrolle und der Lebensbedingungen der von Kriminalisierung Betroffenen lassen sich jedoch nur mittels einer materialistischen Gesellschaftstheorie erklären.

Auf die verschiedenen Versuche marxistisch orientierter Autoren (19), die interaktionische Kriminalsoziologie zu kritisieren und „vom Kopf auf die materialistischen Füße zu stellen“ möchte ich hier nicht näher eingehen. Die wichtigsten Arbeiten dieser Richtung (Ahlheim u.a.: Gefesselte Jugend, 1971; Werkentin u.a.: Kriminologie als Polizeiwissenschaft, 1972; Malinowski: Soziale Kontrolle, 1975) sind in ihrer theoretischen Kritik beachtlich, doch können daraus kaum Modelle und Konsequenzen für eine empirische Forschung abgeleitet werden.

Marxistische Kritik setzt in erster Linie da ein, wo der Interaktionismus abweichendes Verhalten nur als Korrelat der Definitionsprozesse betrachtet. Den Analysen von Marx (1842 und 1843) und Liebknecht (1907, 1910, 1911 uhd 1914) zufolge ist der Verstoß gegen Eigentumsnormen in der kapitalistischen Gesellschaft in der ökonomischen Lage der Lohnabhängigen begründet, die oft keine legale Aneignung der notwendigen Güter zuläßt. Tatsächlich werden in erster Linie Verstöße gegen die Eigentumsordnung mit Gefängnisstrafen geahndet und es besteht ein enger Zusammenhang zwischen ökonomischer Situation und Bewegung der wie auch immer gemessenen Kriminalitätsraten (Liebknecht, 1910, S. 9 f und Quinney, 1977, S. 133 f): Je schlechter die Versorgungslage der Arbeiter, desto mehr wird gestohlen oder desto mehr Leute werden eingesperrt. Der Normverstoß existiert neben seiner Definition und wird nicht erst durch sie konstitutiert.

In der materialistischen Gesellschaftstheorie spielt der Begriff der Klassenjustiz eine zentrale Rolle. Dieser Begriff wird auch in der interaktionistischen Theorie z.B. bei Sack (1972, S. 15 und S. 20 ff) und Keckeisen (1974, S. 111) mehr oder weniger explizit angesprochen.

Klassenjustiz bedeutet einerseits, daß Arbeiter oder Unterschichtsangehörige in Gerichtsverfahren schlechtere Chancen haben als andere, sozial bessergestellte Gesellschaftsmitglieder, also bei gleicher Lage des Falles benachteiligt werden. Unabhängig davon müssen jedoch die auf die ,Lage des Falles‘ wirkenden sozioökonomischen Ressourcen (Bildung, Rechtskenntnis, Geld usw.) einbezogen werden, da die absolute Gleichbehandlung bei ungleichen Ressourcen zu einer faktischen Ungleichbehandlung führt. Andererseits bedeutet Klassenjustiz, daß die Klasse, aus der sich die Richter rekrutieren, über die andere richtet. Der erste Punkt kann als Beschreibung der Rechtspraxis, der zweite als deren Erklärung dienen. (20)

Liebknecht (1907, S. 38 ff) unterscheidet vier Äußerungsformen der Klassenjustiz, nämlich (A) die unterschiedliche Behandlung von Arbeitern und politisch Mißliebigen einerseits und Besitzbürgern andererseits, (B) die einseitige Auffassung des Prozeßmaterials und die einseitige Würdigung des Tatbestands aufgrund des unterschiedlichen kulturellen und ökonomischen Hintergrunds von Richter und Angeklagtem, (C) die Auslegung der Gesetze im Sinne der Klasseninteressen und (D) die außerordentliche Härte der Strafen gegen politisch und sozial Mißliebige.

Der Begriff müßte aber auf den ganzen Kriminalisierungsprozeß ausgeweitet werden können, da die Kriminalisierung nicht auf die

Ebene des Gerichts beschränkt ist, sondern alle Instanzen sozialer Kontrolle daran beteiligt sind. Die polizeiliche Ermittlungstätigkeit bereitet hier Schwierigkeiten, da sie von Angehörigen eben derselben Klasse getragen wird, für die das Benachteiligungspostulat gilt. Die Polizeibeamten nehmen allerdings als unproduktive Arbeiter eine andere Position ein als die übrigen Arbeiter. Aus diesem Umstand ließen sich gewisse Einstellungen und Verhaltensweisen in diesem Sektor der Instanzen sozialer Kontrolle erklären, z.B. daß Polizisten oft nicht abgeneigt sind „auch mal einem Bonzen eins auszuwischen“ (Äußerung eines Streifenbeamten der Polizei).

Dem staatstheoretischen Ansatz zufolge, der in den siebziger Jahren vertreten wurde, ist die Justiz in einem Klassenstaat schon per definitionem Klassenjustiz. (21) Der Ansatz bereitet aber Schwierigkeiten bei der Analyse der Funktionsweise von Klassenjustiz, da sie, solange eine Klassengesellschaft existiert, ganz beliebige Formen annehmen kann, ohne an ihrer Eigenschaft als Klassenjustiz etwas zu verändern. Der staatstheoretische Ansatz müßte konsequenterweise eine Justizanalyse zur Erklärung von Klassenjustiz ablehnen.

Eine materialistische Analyse darf nicht nur die Handlungsebene, d.h. die Produktion des Kriminellen durch die Justiz und andere Instanzen sozialer Kontrolle betrachten, sondern muß auch die Rechtsnormen als Ausfluß von bestimmten gesellschaftlichen Interessen untersuchen. Klassenjustiz und Klassenrecht sind unabdingbar miteinander verbunden.

Eine Hauptthese der Rechtsanalyse von Marx (1842, 1843a und 1843b) lautet, daß das bürgerliche Recht von Merkmalen sozialer und biologischer Natur, die die gesellschaftliche Wirklichkeit ausmachen, abstrahiert. Damit verschleiert das Formalrecht die faktischen Machtpositionen. Wenn also eine Analyse innerhalb des Beschreibungsrahmens des geltenden Rechts bleibt, ist sie nicht in der Lage, die Recht und Rechtspraxis bedingende gesellschaftliche Wirklichkeit zu erfassen. Des weiteren wird behauptet, daß sich gerade wegen der Abstraktion von Herrschaftsverhältnissen (z.B. ungleiche Machtverteilung, biologische Merkmale, unterschiedliche Handlungskompetenz) diese in der Rechtspraxis durchsetzen.

In der vorliegenden Untersuchung sollen theoretische Analysen und Empirie auf zwei· Ebenen vermittelt werden. Erstens versuche ich im Rahmen des beschränkten Datenmaterials, Bestimmungsfaktoren des Kriminalisierungsprozesses zu beschreiben. Zweitens überprüfe ich die theoretischen Ansätze, indem ich zusammenhänge und Schlüsse, die entweder theoretisch abgeleitet oder in anderen Untersuchungen festgestellt wurden, mit dem vorliegenden Datenmaterial in Zusammenhang bringe.

1.3.1 Der Definitionsprozeß

Das Resultat der erfolgreichen Definition eines Menschen als Straffälligen ist seine Kriminalisierung.

Das Interaktionsverhältnis zwischen dem Vertreter der Instanzen sozialer Kontrolle (Polizist, Staatsanwältin, Richterin) und der den Institutionen Unterworfenen ist durch die Definitionsmacht auf Seiten des Vertreters und der Argumentations- und Beschwerdemacht auf der Seite des Betroffenen (Bürgerin, Verhafteter, Angeschuldigter, Angeklagte, Verurteilte, Strafgefangener) bestimmt (vgl. Abbildung 1). Die Definitionsmacht beruht auf der durch gesetzliche Normen festgelegten und institutionell, gesellschaftlich und ökonomisch verankerten Kompetenz, der Betroffenen einen bestimmten Status (Unschuldiger, Verbrecherin) zuzuschreiben.

Dieser Definitionsmacht entgegen steht die Argumentationsmacht des Betroffenen, die drohende Definition abzuweisen, also argumentativ die mögliche Zuschreibung eines negativen Status (z.B. Diebin) als falsch oder ungerecht erscheinen zu lassen. Die Beschwerdemacht besteht in der Möglichkeit des Betroffenen, durch institutionell vorgegebene oder informelle Wege eine bereits erfolgte Zuschreibung rückgängig zu machen (Rekurs, Beschwerde bei Vorgesetzten). Erscheint dem Vertreter der Instanzen die Beschwerdemacht des Betroffenen groß, besteht eher die Möglichkeit, daß er seine Definitionsmacht nicht voll ausschöpft, d.h. daß er eher bereit ist, auf die Definition eines Verhaltens als abweichend zu verzichten. (22) Argumentations- und Beschwerdemacht einer Person sind abhängig von ihrer Ausbildung, ihrem beruflichen, gesellschaftlichen oder politischen Status und ihrer Herkunft.

Die individuellen Leistungen im Interaktionsprozeß, dessen Ziel es ist, bestimmte abweichende Handlungen bestimmten Personen zuzuschreiben, zerfallen in Interpretationsleistungen und Rekonstruktionsleistungen. Die eigentliche Handlung, um die es in diesem Prozeß geht, steht außerhalb des Prozesses und unterliegt einer Transformation in eine justiziable Darstellung der Handlung. Sie wird im Zusammenspiel der verschiedenen Parteien rekonstruiert. An der Rekonstruktion beteiligt sind Zeugen, der Betroffene selbst und materielle Beweismittel. Die Interpretationsleistungen werden einerseits vom Vertreter der Instanzen sozialer Kontrolle, andererseits vom Betroffenen selbst erbracht. Der Betroffene interpretiert seine außerhalb des Interaktionsprozesses stehende Handlung, oder „das, was geschehen ist“. Dabei beteiligt er sich an der Rekonstruktion der Handlung innerhalb des Prozesses. Die Richter oder Polizistinnen (23) hingegen interpretieren die rekonstruierte Handlung, es sei denn, sie wären zufällig Zeugen gewesen. Die Interpretationen beziehen sich also in der Regel auf verschiedene Sachverhalte. Der Vertreter der Instanzen interpretiert in zweiter Linie soziale, psychische und ökonomische Lebensbedingungen der Betroffenen, aus denen er (A) Kriterien für das Vorliegen juristisch relevanter Sachverhalte (z.B. Zurechnungsfähigkeit), (B) Kriterien für die Glaubwürdigkeit der Rekonstruktion der Handlung durch den Betroffenen und (C) Kriterien für die Wahrscheinlichkeit des Übereinstimmens der rekonstruierten Handlung mit der zu rekonstruierenden, also der Wahrscheinlichkeit des Resultats in bezug auf diese Hintergrundsmerkmale gewinnt. Sämtliche interpretierten Merkmale, mittels derer die ursprüngliche Handlung in eine rekonstruierte justiziable Handlung transformiert wird, nenne ich Indices. (24)

Abbildung 1

Außerhalb des eigentlichen Interaktionsprozesses bestehen verschiedene Bewirkungs- und Bestimmungsverhältnisse. Die Handlung wird bewirkt durch den Betroffenen (sofern er wirklich gehandelt hat), seine Hintergrundsmerkmale und durch die Summe sämtlicher gesellschaftlicher und naturbedingter Zustände. Der Betroffene wiederum wird bestimmt durch seine sozialen, psychischen und ökonomischen Lebensbedingungen und bestimmt sie umgekehrt durch sein Sein und Handeln; dasselbe Verhältnis besteht zwischen dem Vertreter der Instanzen und seinen institutionellen, gesellschaftlichen und legalen Bestimmungen.

1.3.2 Determinanten des Definitionsprozesses

Im Gegensatz zu Macnaughton-Smith (1968) unterscheide ich nicht zwischen dem „primar code“ als juristische Tatbestandsmerkmale und dem „second code“ (übrige Bedingungen für eine erfolgreiche Zuschreibung des Kriminellenstatus). Das Vorliegen der juristischen Tatbestandsmerkmale ist notwendige, die Tatbestandsmerkmale in ihrer Gesamtheit hinreichende Bedingung für die erfolgreiche Zuschreibung des Kriminellenstatus. Die juristischen Tatbestandsmerkmale enthalten aber immer Verweise auf „übrige Bedingungen“, auf das Alltagswissen. Sie bestehen in ihrer Anwendung nicht per se sondern nur in bezug auf außerrechtliche oder mindestens außerhalb des Strafgesetzes stehende Merkmale. So müssen z.B. für die erfolgreiche Zuschreibung „Dieb“ die Tatbestandsmerkmale (A) Wegnahme einer (B) fremden beweglichen Sache in der (C) Absicht, sich dieselbe anzueignen gegeben sein. Was nun aber Wegnahme heißt, was eine Sache zur ,fremden‘ macht und wie eine Aneignungsabsicht gestaltet sein könnte, wird im Strafgesetz nicht definiert. Das ist auch nicht notwendig, weil angenommen wird, daß Adressaten und Praktiker des Strafrechts wüßten, was gemeint ist.

Für das Vorliegen der Tatbestandsmerkmale gibt es Indices. Indices sind hinreichende Bedingungen für das Vorliegen einzelner juristischer Tatbestandsmerkmale. Sie sind weder Element der Strafrechtsnorm, noch sind sie unbedingt Element der inkriminierten Handlung. So ist z.B. die Zeugenaussage, daß eine bestimmte Sache sich im Besitz eines Dritten befunden hat, ein Index/Indiz dafür, daß es sich um eine fremde Sache handelt; der Umstand, daß sich diese Sache zur Zeit seiner Verhaftung im Besitze des zu Verurteilenden befunden hat, ein Index/Indiz für die Wegnahme; die Tatsache, daß der zu Verurteilende Hilfsarbeiter ohne Anstellung ist, mag ein Index (nicht ein Indiz) für die Zueignungsabsicht sein.

Indices sind Merkmale, mittels derer die Transformation von Handlungszusammenhängen und Sachverhalten ex post in kriminelles Handeln und die Zuschreibung des Kriminellenstatus erfolgt.

Der hier vorgestellte Ansatz ist im Gegensatz zu der von Sack vorgeschlagenen Unterscheidung von askriptiven und deskriptiven Prozessen logisch konsistent und trennscharf. Im Gegensatz zu der von Macnaughton-Smith getroffenen Unterscheidung zwischen „primar code“ und „second code“ wird der Umstand berücksichtigt, daß die „handlungsbezogenen Gegebenheiten“ der Transformation in juristische Tatbestandsmerkmale bedürfen. Die Indices konstituieren die Tatbestandsmerkmale erst: Das Recht verweist auf Sachverhalte, die nicht durch das Gesetz bestimmt sind, sondern mittels Subsumtion einer gesetzlichen Norm zugeordnet werden. (25) Die tatsächlichen, handlungsbezogenen Gegebenheiten sind von ihren nichtrechtlichen Rahmenbedingungen, die nach Macnaughton-Smith den second code ausmachen (z.B. bestimmtes Verhalten und bestimmte Lebensbedingungen) faktisch, d. h. in der Praxis der Instanzen sozialer Kontrolle nicht voneinander zu trennen.

Interessant ist nun herauszufinden, welche Merkmale Kriminalisierung fördern und welche jemanden gegen Strafverfolgung mehr oder weniger immunisieren: die Frage nach den Transformationsbedingungen sinnvollen sozialen Handelns in kriminelles Verhalten.

Ausgehend von der Erkenntnis, daß die Stellung eines Individuums in der Gesellschaft ein zentrales Merkmal für den Ablauf von Definitions- und Reaktionsprozessen ist und daß die Instanzen sozialer Kontrolle wiederum einen wesentlichen Beitrag zum Verlauf des Kriminalisierungsprozesses leisten, sind in der vorliegenden Untersuchung (Kapitel 3 ff) zwei Gruppen von Informationen· erhoben worden. Die einen beschreiben die soziale Position des Strafgefangenen (Herkunft, Ausbildung, Beruf, Geschlecht usw.), die andern die Ereignisse, bei denen der Strafgefangene in Kontakt mit den Instanzen kam (Heimeinweisung, Verurteilungen, Delikte, Alter zur Zeit der verschiedenen Ereignisse, Dauer der Internierung usw.). Zu Recht ließe sich einwenden, daß auch noch andere Merkmale für die Kriminalisierung wesentlich wären, so psychische und entwicklungsbedingte Merkmale (Zeitpunkt der ersten Trennung von den Eltern, psychische Auffälligkeit usw.). Dem ist entgegenzuhalten, daß solche Merkmale in der Regel mit den sozioökonomischen zusammenhängen und im hier angesprochenen Thesenkontext eine untergeordnete, abgeleitete Rolle spielen. Zudem ist Datenmaterial über psychische Merkmale von Strafgefangenen kaum vorhanden. Die Untersuchung beschränkt sich darauf, den Erklärungswert von sozioökonomischen und institutionsbezogenen Merkmalen im Kriminalisierungsprozeß festzustellen.

1.3.3 Der Ablauf des Definitionsprozesses

Die gegen das Strafrecht verstossende Handlung allein genügt nicht, den Handelnden zum Kriminellen zu machen, die Reaktion Dritter ist zusätzliche notwendige Bedingung (vgl. Abbildung 2). Auf dem Weg zum Gefängnis gibt es eine Stufenleiter von Bezeichnungen, die zum Teil im Strafprozeßrecht festgelegt sind (Angeschuldigter, Angeklagter, Verurteilter).

Es gilt nun diese Stufenleiter auch sozialwissenschaftlich darzustellen, um eine Begriffsverwirrung zu vermeiden. Die Abbildung 2 umfaßt eine Reihe von möglichen Ergebnissen abweichenden Verhaltens im Bereich des Strafrechts. Dabei bleibt die ,zu kriminalisierende Handlung‘ konstant, während sich die Rahmenbedingungen verändern. Die Liste ist nicht vollständig, gibt aber die wichtigsten Typen wieder.

Die sozialen Definitionen sind nur beispielhaft angeführt, ebenso die direkten Folgen. Eine höhere Stufe enthält in der Regel die Folgen der niedrigeren Stufen. Die Definitionen sozialer und juristischer Art schließen sich gegenseitig nicht aus und gelten entweder während einer kürzeren (Angeschuldigter, Angeklagter) oder längeren Zeitdauer (Strafgefangener) oder möglicherweise zeitlebens (Vorbestrafter, Krimineller, Zuchthäusler, „Knacki“).

Dieselbe Handlung kann je nach Interpretations- und Lebenszusammenhang und je nach der Reaktion Dritter die unterschiedlichsten Konsequenzen haben. Da auf den ersten Blick identische Handlungen ungleich interpretiert, transformiert und geahndet werden, spricht man von selektiver Sanktionierung. Welche Interpretation oder Sanktionierung der Handlung folgt, ist jedoch nicht zufällig. Soziokulturelle und sozioökonomische Faktoren sind aller Wahrscheinlichkeit nach Bestimmungsgründe der selektiven Sanktionierung.

Den Instanzen sozialer Kontrolle ist dieser Umstand bekannt. Es wird oft davon gesprochen, daß „nur die Schlimmsten“ zu Freiheitsstrafen verurteilt werden sollen, daß „Unverbesserliche“ hart angefaßt werden müssen, daß potentielle Straftäter abgeschreckt würden usw. Das Strafrecht verlangt explizit eine Beurteilung des Angeklagten in bezug auf seine Gefährlichkeit, seine Sozialschädlichkeit und seine Einstellung zu der inkriminierten Handlung.

Im Resultat des Definitionsprozesses ist also ein großer Anteil von Faktoren enthalten, die mit der bloßen Beschreibung der Handlung nichts zu tun haben. Das Resultat beinhaltet eine Transformation von Sachverhalten und Merkmalen und deren Rahmenbedingungen in kriminelles Verhalten.

Abbildung 2

An dieser Stelle ist es angebracht, den Begriff der Karriere zu erläutern. Bei einigen Autoren (26) wird der Begriff auch dazu verwendet, den Transformationsprozeß einer Handlung in ein Gerichtsurteil zu bezeichnen. So wird der Begriff hier nicht verwendet, sondern als Karriere einer Person vom „normalen“Menschen zum „Kriminellen“ und schließlich zum „Wiederholungstäter“ und „Unverbesserlichen“.

Einerseits läßt sich die kriminelle Karriere vom Ausgangspunkt der Definition des Betroffenen als Kriminellen beschreiben. Diese Definition bringt eine bestimmte Reaktion des Definierten mit sich: Änderung seines Selbstbildes und Änderung seiner Verhaltensmuster (Keckeisen, 1974, S. 37 ff; Becker, 1963; Goffman, 1967 und 1972). Diese Änderungen bilden wiederum die Voraussetzungen für weitere Kriminalisierung: Die kriminelle Karriere hat begonnen.

Eine zweite Art der Beschreibung geht ebenfalls von der Definition des Betroffenen als Kriminellen aus. Die Definition beinhaltet die Festschreibung einer Person und gewisser Merkmale als empirisches Beispiel abweichenden Verhaltens. Diese bestimmten Merkmale oder Indices (Lebensumstände, Verhaltensweisen und äußerliche Merkmale) sind für die Instanzen sozialer Kontrolle hinreichende Bedingungen der Kriminalisierung: Sie machen die Zurechnung (27) der abweichenden Handlung plausibel. Daß z.B. ein Fabrikbesitzer Dieb sein soll, ist unwahrscheinlich, ganz im Gegensatz zum Landstreicher. Das Wissen um diese Wahrscheinlichkeit bringt die Instanzen sozialer Kontrolle dazu, bestimmte Delikte entsprechenden Personengruppen zuzuordnen und hier verstärkt zu fahnden (Macnaughton-Smith, 1968, S. 189 ff; Feest/Blankenburg, 1972, S. 35 ff). Da Abweichung von Normen „normal“ ist, wird die Fahndung innerhalb dieser Personengruppe auch zum Erfolg führen, was das Wissen um die Wahrscheinlichkeit, daß „diese Leute diese Delikte begehen“ wiederum bestätigt und die an diese Personengruppe gebundenen Indices zur Bedingung einer erfolgreichen Zuschreibung macht. Diese Festschreibung des bevorzugten Kontrollobjekts mit bestimmten Merkmalen erhöht die Wahrscheinlichkeit einer weiteren Kriminalisierung.

Drittens kann man von der sozialen Lage des Betroffenen ausgehen. Die soziale Lage, ökonomische Ressourcen und biologische, psychologische oder soziale Merkmale machen eine Person mehr oder weniger anfällig für negative Definitionen. Wird eine anfällige Person als abweichend bzw. kriminell handelnde definiert, werden gleichzeitig ihre ökonomischen Möglichkeiten beschnitten: Die Möglichkeit des Verkaufs ihrer Arbeitskraft wird eingeschränkt. Ihre durch vorgängige Definition und als Träger ,krimineller‘ Eigenschaften bedingte Stellung als bevorzugtes Kontrollobjekt verknüpft sich mit der ökonomischen Notwendigkeit, sich in der ,Grauzone‘ der durch die Verhältnisse zugestandenen Möglichkeiten ihren Lebensunterhalt zu beschaffen und bildet die Voraussetzung für die kriminelle Karriere.

Von diesen Mechanismen werden vor allem Angehörige der Unterschicht betroffen, was in dieser Arbeit darzustellen sein wird.

Anmerkungen

1 Eine ziemlich vollständige Übersicht findet sich bei Kurzeja, 1976

2 vgl. Rubington/Weinberg, 1978, S. 3 f

3 vgl. z.B. Feest/Lautmann, 1971, S. 31 ff und S. 93 ff, Feest/Blankenburg, 1972, S. 114 ff, Voss, 1979 und Peters, 1970 und 1973

4 vgl. z.B. Stutte, 1958, Burt, 1960 und Glueck, 1950. Auch der Kriminologe Kaiser (1971, 1972 und 1976) kann als Vertreter des Mehr-Faktoren-Ansatzes bezeichnet werden (dazu Treiber, 1979, S. 135 f).

5 vergl. z.B. Hooton, 1933 und 1939 und Jürgens, 1961

6 vergl. Merton, 1968a und 1968b sowie Durkheim, 1965. Für die Zuordnung der Anomietheorie ist das Paradigmakonzept Kuhns (Kuhn 1967) maßgebend.

7 Parsons‘ anomietheoretische Überlegungen erschienen erstmals 1937, Merton publizierte 1938 einen Artikel „Social Structure and Anomie“. Wir können von einer weitgehend gleichzeitigen, sich gegenseitig befruchtenden theoretischen Entwicklung ausgehen, die vor allem auf der sozialwissenschaftlichen Rezeption europäischer Autoren und der Auseinandersetzung mit Freud, Fromm, Durkheim und Pareto fußt. (Vergleiche auch Merton, 1968a, S. 175 f)

8 „Interaktionistischer“ Ansatz ist hier so zu verstehen, daß damit nicht nur Interaktionismus oder symbolischer Interaktionismus bezeichnet wird, sondern auch Phänomenologie und Ethnomethodologie, obwohl zwischen Ethnomethodologie und Interaktionismus bedeutende theoretische Differenzen bestehen (vgl. Garfinkel, 1967).

9 Eine grundlegende Kritik des Begriffspaars askriptiv-deskriptiv findet sich bei Jörn Kühl, 1981, S. 214 – 219

10 vgl. dazu Wittgenstein, 1977, S. 53 ff, Nr. 60 und 63: Die analysierte Form des Satzes birgt keinen quantitativ oder qualitativ höheren Erklärungswert.

11 Im folgenden wird der Definitionsprozeß mit Hauptaugenmerk auf die Vorgehensweise der Instanzen sozialer Kontrolle beschrieben. Am Ende dieses Abschnitts tritt die Rolle des Betroffenen im Definitionsprozeß in den Vordergrund.

12 Keckeisen (1974, S. 50 f) erwähnt nicht, daß die Psychiatrisierung auch als Alternative des Strafrechts besteht. Strafrichter können auch im Falle der Nichtzuschreibung von Verantwortlichkeit mittels des Maßnahmerechts sanktionieren. Die Folgen können in diesem Falle für den Betroffenen noch einschneidender sein.

13 Ich möchte hier auf den Rechtsbegriff der konkludenten Handlung hinweisen. Mit diesem Begriff bezeichnet die Rechtsdogmatik eine Handlung, von der die Juristin glaubt, daß die Individuen allgemein von ihr annehmen, daß sie einen bestimmten Sinn hat. So gilt die Entnahme von Ware aus einem Verkaufsregal als Willenserklärung zum Kauf der Ware. Gerade das Vertragsrecht ist gesättigt mit interaktionistischen Betrachtungsweisen. Ein Strafrichter verfügt hingegen nicht über ein so ausgefeiltes Instrumentarium. Dafür hat er die Freiheit, eine in den Gerichtssaal transformierte zerbrochene Fensterscheibe unter den Tatbestand der Sachbeschädigung, des versuchten Einbruchdiebstahls oder des schweren Landfriedensbruchs zu subsumieren, oder aber eine nicht strafbare fahrläßige Sachbeschädigung festzustellen.· Machterhaltung ist offenbar auf große Variabilität der Rechtsfolgen angewiesen. Die Spannweite der möglichen Konsequenzen für den Betroffenen reicht vom Ersatz des Schadens bis zur langjährigen Freiheitsstrafe. Die Richterin muß sie „nur“ per Urteil legitimieren. Was ein legitimes Urteil sei, gilt es allerdings auszuhandeln.

14 Fernsehkrimis oder Kriminalromane zeigen in der Regel genau diese ,Verdichtung des Verdachts‘. Am Schluß steht üblicherweise die Überführung in der Form des Geständnisses: die Perspektiven von Täter und Verfogerin stimmen überein.

15 Garfinkel verwendet die Kategorien „et cetera“, „unless“ und „let it pass“.

16 Vgl. dazu aber die oben beschriebenen Ergebnisse Durkheims zum pathologischen Zustand einer Gesellschaft bei quantitativen Änderungen der Arten abweichenden Verhaltens.

17 Selbstverständlich ist diese Rekonstruktion selber ein Verhalten der Instanzen und der Betroffenen. Insofern wird abweichendes Verhalten nicht allein durch die Instanzen konstituiert.

18 Die Kontroversen um die interaktionistischen, phänomenologischen oder ethonmethodologischen Ansätze in der Kriminalsoziologie haben seit Mitte der sechziger Jahre abertausende von Seiten bedruckten Papiers in Anspruch genommen und der Autor ist sich nicht zu schade darum, diese Flut noch zu vergrößern. Der Umfang der Kontroversen ist aber nicht nur der Borniertheit einiger Vertreter ätiologischer Ansätze zuzuschreiben, sondern nicht zuletzt der Ungenauigkeit der von den Interaktionisten verwendeten Begrifflichkeiten. „Devianz“ oder „abweichendes Verhalten“ bedeutet manchmal die reale zu definierende Handlung, manchmal das Vorliegen bestimmter Motivationszusammenhänge oder die Zuschreibung des Vorliegens von Motivationen etc. Häufig ist den Autoren die Verschiedenheit dieser Sachverhalte überhaupt nicht klar und sie schreiben über die zu definierende und meinen die rekonstruierte Handlung oder umgekehrt.

19 vgl. dazu Fischer, 1977, S. 105 ff

20 vgl. Rottleuthner, 1982, S. 162 ff

21 vgl. Däubler, 1975, S. 26

22 vgl. Feest/Lautmann, 1971 und Feest/Blankenburg, 1972

23 Die Art und Weise der Interpretation und Rekonstruktion der Handlung verändert sich je nach der Stellung des Vertreters der Instanzen. Polizist, Staatsanwalt oder Richter können durchaus unterschiedliche Rekonstruktionskriterien anwenden: Indices gewin­ nen je nach der Ebene des Definitionsprozesses einen anderen Stellenwert.

24 Während der Begriff des Indizes, speziell des Indizienbeweises, gemeinhin nur die Konstitution der objektiven Seite strafbarer Handlungen meint (als Hinweis darauf, daß sie/er das und das getan hat, obwohl sie/er es abstreitet), meinen Indices auch Konstitutionsbedingungen der subjektiven Seite des Straftatbestandes wie z.B. Aneignungsabsicht einerseits und der Zuschreibungen wie „im Grunde rechtstreuer Bürger“, „gemeingefährlicher Rechtsbrecher“ oder „Gewohnheitsverbrecher“ usw. aufgrund der Perzeption von Merkmalen/Sachverhalten außerhalb der zu transformierenden Handlung andererseits.

25 Subsumtion kann durch die verschiedenen Instanzen in unterschiedlicher Weise erfolgen, einzelne Indices also verschiedene Stellenwerte einnehmen.

26 Sack, 1972, S. 18; Keckeisen, 1974, S. 37 f; Becker, 1963

27 zum juristischen Begriff der Zurechnung vgl. Hardwig, 1957