Der Kampf ums Recht. Beiträge

Der Kampf ums Recht. Akteure und Interessen im Blick der interdisziplinären Rechtsforschung.

Beiträge von 25 AutorInnen des 2. Kongresses der deutschsprachigen rechtssoziologischen Gesellschaften „Der Kampf ums Recht“ im September 2011 in Wien.

358 S. – 21,0 x 14,5 cm, Preis Fr. 50.- Eur 38.-

Weiterlesen © ProLitteris, Josef Estermann

Weiterlesen: „Was nicht in den Akten steht“

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INHALTSVERZEICHNIS

© ProLitteris, Josef Estermann

Josef Estermann
Der Kampf ums Recht: Zum Verhältnis von Theorie und Empirie in der aktuellen Rechtssoziologie. Eine Einführung in den Tagungsband,  S. 5
Peter Koller
Der Kampf um Recht und Gerechtigkeit: Soziologische und ethische Perspektiven,   S. 13
Gerhard Struck
Der Kampf ums Recht der Justiz in eigenen Angelegenheiten,   S. 33
Rüdiger Lautmann
Justiz – die stille Gewalt: revisited,   S. 48
Winfried Hassemer
„Im Namen des Volkes“? Populismus und Rechtspolitik,   S. 60
Urs Marti Mehr lesen: Urs Marti
Tierbändiger und Hirten. Gesetz und Herrschaft bei Solon und Platon,    S. 81
Kamil Majchrzak
Die Wiederentdeckung des Rechts durch die Restauration des Kapitalismus in Osteuropa,   S. 99
Ralf Seinecke
Rechtspluralismus als Kampf für das Recht – historisch, theoretisch, normativ,   S. 121
Michael Jasch
Gefährderansprachen und Aufenthaltsverbote als Kontrollsanktionen der Polizei,   S. 137
Stefan Machura, Nelson Ramos, Torie Rooney, Shanna Warmald
How Studying Law, Media and Experience Influence Trust in the Courts and the Police. A Comparison of Law and Language Students at Bangor University,   S. 150
Monica Budowski, Susanne Bachmann, Lucia M. Lanfranconi, Anne Kersten Mehr lesen: Budowski …
Kampf um Geschlechtergerechtigkeit bei der Entstehung und Umsetzung von Recht in der Schweiz,   S. 168
Anne Kersten Mehr lesen: Anne Kersten
Geschlecht im öffentlichen Opferhilfe-Diskurs der Schweiz,   S. 173
Lucia M. Lanfranconi Mehr lesen: Lucia M. Lanfranconi
Kampf um Gleichstellung? Umsetzung des Schweizerischen Gleichstellungsgesetzes (GlG) von 1996 bis 2011,   S. 190
Susanne Bachmann Mehr lesen: Susanne Bachmann
Kampf um Teilhabe: Geschlechtsspezifische Implikationen der schweizerischen Gesetzgebung im Bereich der Integration von Zugewanderten,   S. 209
Miryam Eser Davolio Mehr lesen: Miryam Eser Davolio
I
ntegration auf gesetzlichem Weg verlangen? Risiken einer Integrationspolitik im Zuge des „Fördern und Fordern“-Prinzips,   S. 230
Sandra Lewalter
Der Kampf um gleichstellungsorientierte Gesetzgebung – mit Hilfe von Gesetzesfolgenabschätzung?,   S. 243
Ulrike Müller
Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz aus Anwaltssicht. Von Dunkelfeldern, gerichtlicher Zurückhaltung und langfristigen Potenzialen,   S. 261
Knut Papendorf
Schadensregulierung bei fehlerhafter Behandlung von Patienten in Norwegen, S. 281
Kurt Pärli Mehr lesen: Kurt Pärli
Aktivierung von gesundheitlich beeinträchtigten Arbeitnehmenden – Auswirkungen auf Soziale Rechte,   S. 293
Reinhard Damm
Der Kampf um Patientenrechte. Soziale und rechtliche Determinanten des Patientenstatus in der modernen Medizin,   S. 312
Susanne Niemz
(
Assistierter) Suizid als Negierung der Rechtsordnung?   S. 340

Autorinnen und Autoren 354

Josef Estermann

Der Kampf ums Recht: Zum Verhältnis von Theorie und Empirie in der aktuellen Rechtssoziologie. Eine Einführung in den Tagungsband

Zusammenfassung

Der erste Teil dieser Einführung stellt einige Thesen zur Bedeutung der empirischen Forschung für die Entwicklung der deutschsprachigen Rechtssoziologie vor und beschreibt das aktuelle Verhältnis zwischen empirisch und theoretisch orientierten Beiträgen. Der zweite Teil gibt einen kurzen Überblick der in diesem Kongressband versammelten Beiträge österreichischer, deutscher, schweizer, britischer, polnischer und norwegischer AutorInnen. Die hier publizierten Beiträge bilden eine Auswahl der Vorträge des zweiten Kongresses der deutschsprachigen rechtssoziologischen Fach­organisationen im September 2011 in Wien mit dem Titel „Der Kampf ums Recht“.

The struggle for law: The relationship between theoretical and empirical approaches in current Sociology of Law. An introduction to this volume

Summary

The first part of this introduction presents some central theories concerning the importance of empirical research in the development of German-language Sociology of Law. It also aims to describe the current relationship between empirically and theoretically based contributions to the topic. The second part offers a short overview of the contributions in this volume, which includes studies by Austrian, German, Swiss, British, Polish and Norwegian researchers. The studies present a selection of papers given at the second congress of the German-Speaking associations of Sociologists of Law, held in September 2011 in Vienna and entitled “The Struggle for Law”.

1. Rechtssoziologie und empirische Forschung

Mit ca. 160 Beiträgen handelte es sich beim Kongress „Der Kampf ums Recht“ im September 2011 in Wien um eine der umfangreichsten deutschsprachigen rechts­soziologischen Veranstaltungen. Aufgrund der Präsentationen lassen sich folgende Hypothesen formulieren:

1. Die Verwendung von Methoden qualitativer Sozialforschung sind in der Rechtsforschung, auch juristischer Provenienz, durchaus verbreitet.

2. Quantitative Methoden werden eher selten verwendet und bleiben in der Regel Forschenden soziologischer Provenienz vorbehalten.

3. Es besteht ein Theorieüberhang gegenüber empirischer Forschung.

4. Deontologisch-normative Aussagen überwiegen gegenüber ontologisch-analy­tischen Aussagen.

Insgesamt zeigt sich eine Bewegung hin zu einer Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz, die nicht zuletzt von Juristinnen getragen wird. Diese Bewegung kann meines Erachtens aber nur an Momentum gewinnen, wenn sozialwissenschaftliche methodische Propädeutika in der Juristinnenausbildung oder mindestens in der Wei­terbildung angeboten werden. Die gelehrte Rechtssoziologie sollte nicht nur rechtsso­ziologische Theorie, sondern auch empirische Rechtsforschung und deren Methoden umfassen. Voraussetzung dafür ist das Bestehen einer wahrgenommenen und leis­tungsfähigen scientific community der empirischen Rechtsforschung.

Jedenfalls scheint ein größeres Interesse von Juristinnen an empirischer Sozialfor­schung zu bestehen als umgekehrt von Soziologen am Recht und dessen Ausformun­gen in der Alltagswelt. Recht erscheint in der Soziologie in erster Linie als Aspekt von Macht und Herrschaft, ein Aspekt, welcher von juristischer Seite über die Forma­lität, die Allgemeinheit und die Unabhängigkeit des Rechtlichen eher zurückgestellt wird. Daraus erklärt sich die Beliebtheit der Systemtheorie an juristischen Fakultäten.

Rechtssoziologie wird an den philosophischen und kameralistischen Fakultäten kaum gelehrt. Anders sieht es eigentlich nur in den Bereichen aus, die sich mit abweichen­dem Verhalten beschäftigen, also Kriminologie und Kriminalsoziologie. Dieses Fach­gebiet ist auch hier am Kongress gut vertreten. Aber Privatrecht, asymmetrische Rechtsverhältnisse oder Verwaltungsrecht beispielsweise tauchen im soziologischen Fokus eher selten auf. Hier agieren fast nur JuristInnen, das Bedürfnis nach empiri­scher Expertise ist jedoch durchaus vorhanden.

Recht als soziologischer Gegenstand ist nur durch eine „dichte“ Beschreibung seiner Wirkungen und seiner Relevanz für die Individuen von einer bloßen Deklaration der Norm zu trennen. Wie weit ist Recht überhaupt handlungsleitend? Und wie zuverläs­sig sind unsere Methoden zur Identifizierung von Motiven oder Triebkräften und ihrer Einbettung in die Gesellschaftsstrukturen? Sollte es tatsächlich der Fall sein, dass es sich beim Recht nur um ein sich selbst generierendes und selbstbezügliches System handelt? Dessen Verwendung durch die Herrschaftsstäbe (Weber) jedenfalls ist ein zentraler Bestandteil der Differenzierung von Gesellschaft und der Aufrechter­haltung von Machtstrukturen mittels Legitimation. Unbestritten ist auch die gemein­schaftsstiftende Funktion geteilter Normen (Durkheim). Diese Fakten sind naturwis­senschaftlich gegründeten Messungen und Beobachtungen zugänglich, unabhängig davon, ob wissenschaftlich von einer Kausalität der Rechtsnormen ausgegangen wer­den kann (Rottleuthner/Rottleuthner-Lutter, 2010). Der Sinn des professionellen Han­delns der Stäbe und des reziproken alltagsweltlichen Handelns erschließt sich jeden­falls nicht außerhalb der empirischen Erfassung dieses Handelns selbst.

Es geht hier um den Kampf ums Recht, weniger in dem von Jhering gemeinten Sinne, sondern im Sinne eines Kampfes, weniger pathetisch ausgedrückt, einer Auseinander­setzung um Vorgehensweisen, Methoden und Deutungsmacht in der Rechtsfor­schung zwischen der deontologischen Rechtswissenschaft und der ontologischen Soziologie. Es geht nicht zuletzt auch um eine „Versozialwissenschaftlichung der Jurisprudenz“, daher der diskursive und stilistische Rekurs auf die angelsächsische Law & Society-Bewegung, welche sich allerdings in einem Rechtsraum bewegt, der wegen des vor­herrschenden kasuistischen Rechts stärker auf gesellschaftswissenschaftliche Unter­stützung angewiesen ist. Eine Versozialwissenschaftlichung des Rechts wird also im kontinentalen Rechtsraum eine andere Ausformung erfahren müssen.

Wie weit die Versozialwissenschaftlichung der Rechtsforschung heute im deutsch­sprachigen Raum bereits fortgeschritten ist, lässt sich an der für die Soziologie zen­tralen Verwendung von Methoden der Sozialforschung ablesen. Eine Werkschau der Größenordnung der Tagung in Wien (Abstracts s. Boulanger et. al., 2011) bietet für die Fragestellung genügend reliables, valides und repräsentatives Material.

Nur 22% der 159 Beiträge verwendeten Methoden der empirischen Sozialforschung (7% numerisch-quantitative, 15% hermeneutisch-qualitative). Die restlichen 78% fol­gen mehrheitlich einem juristischen Diskurs der Norminterpretation und -wirklichkeit oder behandeln die soziologische Theorie des Rechts. Empirische Forschung, welche mit einem heute in der Sozialforschung üblichen multimethodischen Ansatz mit qua­litativen Interviews, Textanalysen und numerischen, multivariaten Verfahren arbeitet, war am Kongress kaum vertreten.

Ein Drittel der in diesem Band veröffentlichten 21 Beiträge beruht auf Methoden em­pirischer Sozialforschung. Weitere 15 Kongressbeiträge erscheinen in einem Band zu Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit (Boulanger/Wrase, 2013) sowie in der Zeit­schrift für Rechtssoziologie. Von diesen verwendet ebenfalls ein Drittel Methoden empirischer Sozialforschung. Dies lässt immerhin darauf schließen, dass die Verwen­dung empirischer Methoden die Publikationswahrscheinlichkeit von Kongressbeiträ­gen (mit einer Verdoppelung der Publikationsquote) signifikant erhöht, und zwar mit einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p=0.014, vorbehaltlich einer möglichen Fehl­klassifikation von Beiträgen (getestet, Anteil falsch negativ < 0.1). Ob noch weitere Beiträge an anderer Stelle publiziert wurden, ist hier unbekannt. Jedenfalls ist eine Mindestgröße des Publikationsanteils insgesamt von 36:159, also knapp einem Vier­tel, für einen rechtssoziologischen Kongress, an dem viele nicht promovierte For­scherInnen präsentiert haben, erfreulich hoch und die Verwendung sozialwissen­schaftlicher Methoden beim Programmausschuss und bei der Editorenschaft offen­sichtlich willkommen.

Es ist allerdings auch zutreffend und bedauerlich, dass vor allem die quantitativen Verfahren im Bereich der Rechtsforschung nicht einen ausgezeichneten Ruf ge­nießen. Sie laufen gemeinhin unter dem Titel „Statistik“, meist mit dem Attribut „amtlich“, und dieser Titel ist verfolgt von der maliziösen Fama „Ich glaube nur Sta­tistiken, die ich selber gefälscht habe“. Die hinterhältige Verzerrungsunterstellung entbehrt jedoch nicht jeglicher Grundlage. Wie steht es denn beispielsweise mit den Polizeistatistiken, den Statistiken des Vormundschaftswesens (nach neuer Terminolo­gie allgemeine Beistandschaft in der Schweiz, Sachwalterschaft in Österreich), der Justiz- und Urteilsstatistik allgemein? Es handelt sich in der Regel um schlecht be­treute, unprofessionell gesammelte aggregierte Daten mit unscharfer Kategorienbil­dung. Deren Veröffentlichung erfolgt häufig schlecht kommentiert oder begleitet von einem apodiktischen Tenor, etwa von der Art: „In diesem Jahr wurde ein deutlicher Anstieg von 10’884 auf 11’271 Betrugsfälle re­gistriert.“

Dem prinzipiell behebbaren Problem der Erhebungsqualität folgt das Problem der ebenfalls behebbaren mangelnden wissenschaftlichen Aufarbeitung und Plausibilisie­rung, und diesen beiden folgt das schlimmste: Die unreflektierte (oder auch böswillig verschleiernde) Verwendung dieser Daten im Kontext des Normativen und des Politi­schen, also der interessegeleitete Gebrauch zur Erreichung eines Zweckes. Und hier entfaltet der Winston Churchill zugeschriebene Spruch „There are lies, damned lies, and statistics“ seine unglückselige Wirkung: Schlimmer als eine mangelnde Daten­qualität ist eine theorielose und der wissenschaftlichen Rigidität entbehrende Inter­pretation. Ich bin nicht der Ansicht, dass sich die empirische Forschung (und gerade die sich mit Normativität befassende Rechtswirklichkeitsforschung) dem Verwen­dungszusammenhang in gesellschaftlichen Auseinandersetzungen zu entschlagen hät­te.

Aber die Crux liegt bei den beiden oben benannten Attributen. Werden die im Kontext zu den Daten bestehenden jeweiligen Interessenlagen nicht benannt und re­flektiert, resultiert eine Fälschung zweiter Ordnung. Was die Problematik der Produk­tion der Daten angeht, genügt die Durchsetzung eines wissenschaftlichen Erhebungs­standards und im Falle zweifelhafter Daten deren wissenschaftliche Rekonstruktion. Und um hier noch ein dem Churchillschen entgegengesetztes Diktum anzuführen: „Eine wahre Struktur setzt sich auch gegenüber den widrigsten Modellbedingungen durch“. Dies impliziert, dass insbesondere (häufig auch ideologisch geprägte) Theori­en größter Reichweite obsolet werden, wenn sie sich als kontrafaktisch erweisen und dass selbst ein falsch spezifiziertes Modell über eine zugrunde liegenden Datenstruk­tur, welche, sofern sie methodisch rigide erhoben wurde und gesellschaftliche Wirk­lichkeit tatsächlich abbildet, diese Wirklichkeitsabbildung und die dahinter stehende Wirklichkeit nicht aufheben kann.

Was den Wahrheitsbegriff angeht, empfehle ich als Grundlage den von Popper explizierten „kritischen Realismus“ und entschlage mich der Aufgabe „Wahrheit“ und „Wirklichkeit“ zu definieren. Kongresse wie „Der Kampf ums Recht“ bieten das Forum zur Prüfung der Bewährungsfähigkeit von Theorien und empirisch gefundenen Fakten.

Insgesamt bleibt festzuhalten, dass die Verwendung von Methoden empirischer Sozi­alforschung in unserem Feld nach wie vor hinter einem genuin juristischen Zugang zurückbleibt, sich insofern die normative Rechtswissenschaft als Leitdisziplin immer noch durchsetzen kann. Dies mag auch ein Grund sein für die öfter beklagte institu­tionelle Trennung der „soziologischen“ von der „juristischen“ Rechtssoziologie in der Bundesrepublik Deutschland. Soziologinnen und Soziologen scheinen sich ungern der Gefahr auszusetzen, dass die methodischen Anforderungen ihrer Disziplin in einer ju­ristisch dominierten Fachgesellschaft angefochten werden könnten (Rasehorn, 2001: 281ff).

Der Standard der Rechtsforschung im deutschsprachigen Raum liegt noch viel näher bei der deontologischen Jurisprudenz als bei den empirischen Sozialwissenschaften, was wohl dazu führt, dass viele Forschende sich nicht angeregt fühlen, ein Abstract nach naturwissenschaftlichen Standards zu formulieren, also gegliedert nach objecti­ve methods – results – conclusions. Nach diesem Standard gälte es, den Gegenstand zu benennen, die Methoden der Herangehensweise zu formulieren, Ergebnisse zu präsentieren und Schlüsse zu ziehen. Dies ist die Herangehensweise einer theoriege­leiteten Empirie. Für nicht-naturwissenschaftliche Beiträge wird in internationalen Kongresskontexten auch die Gliederung in problem – project discussion – results – lessons learned zugelassen. In juristischen Kontexten hingegen folgen Abstracts häu­fig der Formel problem – question – possible/desirable answer.

Wie weit die inter- beziehungsweise transdisziplinäre Integration oder Verbindung der beiden Leitdisziplinen, der ohne Zweifel hauptleitenden Rechtswissenschaft und der Soziologie als quasi co-leitenden, gediehen ist, lässt sich an den insgesamt 159 Beiträgen zum Wiener Kongress selber ablesen. Thomas Raiser kritisierte in seiner Rezension eines der Sammelbände des vorhergehenden Kongresses im Jahre 2008 in Luzern mit dem Titel „Wie wirkt Recht?“ (Cottier u.a. [Hg.], 2010, Estermann [Hg.], 2009, Kreissl [Hg.], 2009) nicht ohne Grund das Konzept der Werkschau: „Oft lässt sich dem Titel nicht oder nur ungenau entnehmen, worüber die Referentin oder der Referent sprechen wird. Zudem ist die Qualität der Beiträge nicht gesichert. Nicht zuletzt sind Beschränkungen der Redezeit und der anschließenden Diskussion nötig, die es in nahezu keinem Fall zulassen, in die Tiefe vorzudringen oder ein Thema gar auszuschöpfen. Um die Kritik zuzuspitzen: der Stil der Tagung folgt dem Prinzip „multa, non multum“, während guter deutscher Tradition ein „multum, non multa“ doch eher entsprechen würde.“ (Raiser, 2011: 167f)

Diese Kritik ist ernst zu nehmen. Trotzdem haben wir den Stil der Tagung beibehal­ten und so die angesprochenen Mängel bewusst in Kauf genommen. Gerade in dem hier gewählten Stil spiegelt sich der Wille der Gesellschaftswissenschaft als Natur­wissenschaft, mit einer theoriegeleiteten und empirischen Vorgehensweise das Risiko einzugehen, den großen Wurf zu verfehlen und eine gewisse Bescheidenheit zu üben. Die einzelne Forschende nimmt in Kauf, eventuell non multum beizutragen und treibt trotzdem den Wissensbestand vorwärts, wenn auch nur mit einer oder zwei eventuell kleinen Wahrheiten. Der Ertrag genereller und übergreifender Forschungsansätze in den Geisteswissenschaften ist auch nicht unbedingt größer.

Es geht im Grunde um nichts Geringeres als um die Ausbildung eines disziplinen­übergreifenden Forschungsfeldes, nämlich der Rechtswirklichkeitsforschung, oder in älterer Diktion, der Rechtstatsachenforschung. Dies konzidiert auch Raiser (2012: 168): „Daher sollte der Aufruf, eine „transdisziplinäre Verbindung“ beider Diszipli­nen zu etablieren, besser als bisher beherzigt werden. Leider gelang auf der Luzerner Tagung auch der folgerichtige nächste Schritt noch nicht, die beiden nebeneinander operierenden deutschen rechtssoziologischen Vereinigungen unter einem gemeinsa­men Dach zu versammeln. Wer dagegen Widerstand leistet, macht sich nicht klar, dass er/sie selbst der verbreiteten Tendenz Vorschub leistet, die Rechtssoziologie im Konzert sowohl der Gesellschaftswissenschaften als auch der Jurisprudenz zu margi­nalisieren.“

Die Gefahr der Marginalisierung war und ist allerdings gegeben. Wir haben am Kon­gress mit der Veranstaltung über die Justiz, die stille Gewalt, der Diskussion um die „Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz“ der siebziger Jahre Raum gegeben (Lautmann, in diesem Band: 48-59). Und wir wissen auch, wie weit diese vor jenen Toren stehen blieb.

2. Zu diesem Band

Für die Veröffentlichung im Tagungsband haben wir die Thematiken rechtssoziologi­sche Theorie und Geschichte, Rechtspluralismus und Institutionen sozialer Kontrolle, Gleichstellung und Diskriminierung sowie Recht im Medizinbereich ausgewählt.

Zu Beginn nimmt Peter Koller das Kongressmotto „Der Kampf ums Recht“ auf und stellt den Thesen Jherings die Positionen Mengers gegenüber. Gerhard Struck beschreibt den Kampf des deutschen Richterstandes um das und mit dem Recht. Rüdiger Lautmann reflektiert den Entstehungsprozess seiner epochalen Darstellung der Justiz als stiller Gewalt und zieht die Linie in die Gegenwart der Rechtssoziolo­gie. Winfried Hassemer problematisiert den Populismus als Gefahr für die Demokra­tie und die Bedeutung der Verfassung aus einer spezifisch bundesrepublikanischen Perspektive. Urs Marti zeigt die Bedeutung von Solon als verkannten Vorläufer einer materialistischen Position, welche im Gegensatz zu Plato Recht und Politik als Inter­essenkonflikt zwischen den verschiedenen Klassen einer Gesellschaft begreift. Kamil Majchrzak schließlich beschreibt aus marxistischer Perspektive am Beispiel der Rechtsentwicklung in Polen die Bedeutung der ökonomischen und gesellschaftlichen Entwicklung für Recht und Rechtsanwendung.

Im zweiten Themenblock, welcher Rechtspluralismus und Kriminologie fokussiert, arbeitet Ralf Seinecke den Begriff des Rechtspluralismus auf und plädiert für die Zurückdrängung eines Rechtsmonopols des Staates. Michael Jasch kritisiert die Aus­weitung präventiver polizeilicher Interventionen bezüglich der Freiheitsrechte der Betroffenen. Stefan Machura analysiert mittels multivariater Verfahren die Einstel­lungen von Studierenden gegenüber Polizei und Justiz in Abhängigkeit vom Konsum verschiedener fiktionalen Fernsehreihen, welche Polizei und Justiz thematisieren.

Der dritte, umfangreichste Themenblock zu Gleichstellungsfragen im weitesten Sin­ne, wird eingeleitet von Monica Budowski und enthält unter anderem drei von ihr betreute Dissertationen zu genderrelevanten Gesetzeswirkungen und -genesen in der Schweiz. In der ersten zeigt Anne Kersten die genderspezifische Relevanz von geschlechtsneutral formulierten Gesetzen anhand einer Diskursanalyse. In der zwei­ten setzt sich Lucia Lanfranconi mit der Bedeutung des Diskriminierungsbehebungs­diskurses gegenüber dem Wirtschaftsnutzendiskurs im Rahmen des Schweizer Gleichstellungsgesetzes auseinander. Susanne Bachmann arbeitet in dem dritten hier vorgestellten Dissertationsvorhaben geschlechtsspezifische Differenzen bei der Schweizer Integrationsgesetzgebung heraus. Mirjam Eser Davolio beschäftigt sich ebenfalls mit dem Schweizer Integrationsgesetz und problematisiert dessen Zwangs­charakter. Die beiden folgenden Beiträge beschäftigen sich mit der bundesdeutschen Rechtswirklichkeit: Sandra Lewalter beschreibt die Implementation von Gesetzge­bungsnormierungen und ihre Auswirkungen auf die genderspezifische Ausgestaltung von Gesetzen. Die empirische Studie von Ulrike Müller schließlich untersucht Anwendung und Entwicklung des Antidikriminierungsrechts in der Rechtswirklich­keit.

Die vier Beiträge des letzten Themenbereichs beschäftigen sich mit Recht und Medizin/Gesundheit. Knut Papendorf beleuchtet das Wirken des norwegischen Pati­entenklageamtes, einer in der Schweiz, in Österreich und der Bundesrepublik Deutschland nicht institutionalisierten gerichtlichen Behörde und die Möglichkeit der Durchsetzung von Entschädigungsforderungen durch Patienten nach Fehlbehandlun­gen. Kurt Pärli beschreibt die Auswirkungen des „Präsentismus“, also der bei zuneh­mendem Druck in der Arbeitswelt bestehende Tendenz, dass Arbeitnehmende trotz Krankheit und fehlender Leistungsfähigkeit zur Arbeit erscheinen und das Grund­rechtsverständnis im Schweizer Sozial- und Arbeitsrecht. Reinhard Damm gibt einen Überblick zum Stand des Medizinrechts in der Bundesrepublik. Susanne Niemz nimmt im letzten Beitrag die Diskussionen um die sogenannte Sterbehilfe auf, eben­falls mit dem Schwerpunkt Bundesrepublik Deutschland.

Nicht zuletzt möchte ich all jenen danken, die mit ihrer Arbeit als Reviewer, im Lek­torat, durch visuelle Gestaltung, in der Herstellung und bei der Mittelbeschaffung die­se Publikation ermöglicht haben, insbesondere Boris Boller, Sarah Erni, Reiner Koll, Vera Rothamel, Wolfgang Stangl und Rahel Zschokke.

3. Zum Nachfolgekongress

Der dritte Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologischen Vereinigungen ist für das Jahr 2014 an der Humboldt-Universität in Berlin geplant.

Literatur

Boulanger, Christian/ Cottier, Michelle/ Estermann, Josef/ Holzleithner, Elisabeth/ Klose, Alexander/ Machura, Stefan/ Stangl, Wolfgang/ Wrase, Michael (Hg.) (2011): Der Kampf ums Recht. Akteure und Interessen im Blick der interdisziplinären Rechtsforschung. Abstracts des Zweiten Kongresses der deutschsprachigen Rechtsso­ziologie-Vereinigungen, Wien 2011, Beckenried, Wien.

Boulanger, Christian/ Cottier, Michelle/ Estermann, Josef/ Kreissl, Reinhard/ Machu­ra, Stefan/ Scheffer, Thomas/ Wrase, Michael (Hg.) (2008): Wie wirkt Recht?Inter­disziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechtswirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung. Abstracts des Ersten Kongresses der deutschsprachigen Rechtsso­ziologie-Vereinigungen, Luzern 2009, Beckenried.

Boulanger, Christian/ Wrase, Michael (Hg.) (erscheint 2013): Kampf und Konsens im Verfassungsrecht – interdisziplinäre und vergleichende Perspektive auf die Rolle und Funktion von Verfassungsgerichten, Baden-Baden.

Cottier, Michelle/ Estermann, Josef/ Wrase, Michael (Hg.) (2010): Wie wirkt Recht? Ausgewählte Beiträge zum ersten gemeinsamen Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen, Luzern 2008, Baden-Baden.

Estermann, Josef (Hg.) (2009): Interdisziplinäre Rechtsforschung zwischen Rechts­wirklichkeit, Rechtsanalyse und Rechtsgestaltung. Beiträge zum Kongress „Wie wirkt Recht?“, Luzern 2008, Bern.

Kreissl, Reinhard (Hg.) (2009): Citizen by proxy und Individualrechte. Über das Rechtssubjekte und seine Stellvertreter, Münster.

Popper, Karl R.: Logik der Forschung, 2. Auflage, durchgesehen und erweitert durch die Ergänzungen der englischen Ausgabe, Tübingen 1966 (1. Auflage Wien 1935, engl. The Logic of Scientific Discovery, London 1959)

Popper, Karl R.: Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973.

Raiser, Thomas (2011): Rezension zu „Wie wirkt Recht?“, Zeitschrift für Rechtsso­ziologie, Heft 1, 32. Jg.: 167-172.

Rasehorn, Theo (2001): Die Sektion Rechtssoziologie ist kein Max-Planck-Institut! Gesellschafts- und forschungspolitische Anmerkungen. Zeitschrift für Rechtssoziolo­gie 22 (2001), Heft 2: 281-291.

Rottleuthner, Hubert/ Rottleuthner-Lutter, Margret (2010): Recht und Kausalität, in Cottier et al. (Hg.). Wie wirkt Recht? Ausgewählte Beiträge zum ersten gemeinsamen Kongress der deutschsprachigen Rechtssoziologie-Vereinigungen, Luzern 2008, Baden-Baden: 17-42.
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