Sozialepidemiologie des Drogenkonsums Kap. 5

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© ProLitteris, Josef Estermann

beschreibung

5 Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse – Empfehlungen

Die vorliegende Studie liefert eine Schätzung der Zahl der Heroin und Kokain kon­sumierenden Personen in der Schweiz für die Jahre 1989 bis 1994. Die Verbindung von qualitativen und quantitativen Ansätzen dient dazu, ein möglichst umfas­sendes, differenziertes Bild der Struktur und des Umfangs der Heroin und Kokain konsumie­renden Bevölkerung zu geben.

Die Gruppengrößenschätzungen sind vor allem das Ergebnis der Auswertung der in der Schweiz greifbaren Repressions- und Mortalitätsdaten. Darüber hinaus werden die Biographien behördlich nicht erfaßter und sozial integrierter Konsumierender untersucht. Daraus resultieren einerseits Erkenntnisse über protektive Faktoren, die eine relative Immunität gegen staatliche Interventionen gewährleisten. Andererseits ermöglicht die Selbsteinschätzung von Erfassungsrisiken, auch diese Gruppe Heroin und Kokain konsumierender Personen zumindest ansatzweise in die Gruppengrößen­schätzungen einzubeziehen.1

Typologie

Die Grundlage der Untersuchung besteht in der Entwicklung einer Typologie ent­lang der Konsummuster der Konsumierenden. Sie ist im zweiten Kapitel der Studie dar­ge­stellt und führt von den Personen, die Erfahrung mit harten, illegalen Drogen haben, über Gelegenheitskonsumierende, aktuell Konsumierende und regelmäßig Konsu­mierende zum Kern der abhängigen Konsumierenden. Mobilität zwischen den ver­schiedenen Konsumverhaltensmustern, und zwar in beliebiger Häufigkeit und in be­liebiger Rich­tung, ist im Karriereverlauf aller Drogenkonsumierenden üblich.

Diese Typologie wird in Beziehung gesetzt zu der Dimension Suszeptibilität ver­sus Immunität in den beiden Bereichen Repression und Medizin. Repressive Erfas­sung und Medizinalisierung im Sinne einer amtlichen Registrierung sind Ausdruck sozia­ler Desintegration per se. Ein Erfassungsrisiko ist jedoch nicht unbedingt an die Ge­brauchsdosis geknüpft, sondern an die Umstände der Beschaffung und des Konsums sowie der konsumierten Substanz.

Gruppengrössenschätzung: Prävalenz

Zum Zwecke der Gruppengrößenschätzung stehen bis anhin flächendeckend für die Schweiz lediglich Daten des Repressionssystems zur Verfügung. Die Ergeb­nisse der bloßen Zählung der polizeilich Erfaßten sind jedoch in erster Linie abhängig von den für deren Erfassung zur Verfügung stehenden Ressourcen.2 Diese erfuhren im Beobachtungszeitraum einen beträchtlichen Zuwachs. Auch im Medizinalisierungs­be­reich ist ein nicht unbedeutender Anstieg der Ressourcen und Angebote zu ver­zeichnen.

Im vierten Kapitel aufgeführte Schätzungen, die gegenüber einer Ausweitung der Repressionskapazitäten in einer sich nicht verändernden Grundgesamtheit relativ insensibel sind, zeigen Gruppengrößen des Kernbereichs der regelmäßigen, mit­un­ter abhängigen Konsumierenden von harten, illegalen Drogen in einem Umfang von 30’000 Personen mit einer Untergrenze von 26’000 und einer Obergrenze von 36’000. Diese Schätzungen beziehen sich auf geschlossene Populationen bei etwa einem Jahr Beobachtungszeit. Innerhalb dieser Grenzen ist im Beobachtungszeit­raum zwischen 1989 und 1994 keine Änderung der Prävalenz oder der Inzidenz mit genügender Sicherheit festzustellen, das heißt, im Beobachtungszeitraum fand kein signifikanter Anstieg der Zahl der Heroin- oder Kokainkonsumierenden statt.

Um Aussagen über alle Konsumierenden machen zu können, sind weitere Daten­sätze beigezogen worden, wie diejenigen der Drogentodesfälle und Untersuchun­gen über nicht medizinisch betreute und nicht von der Repression betroffene Per­sonen. Diese Untersuchungen und Datensätze beziehen sich auch auf integrierte, mäßig Konsu­mierende. Sie führen zu Gruppengrößenschätzungen von deutlich mehr als 50’000 Personen, und zwar schon zu Beginn des Beobachtungszeitraums. In dieser Zahl sind teilweise auch nicht regelmäßig Konsumierende eingeschlossen. Ein An­stieg der Gruppengröße, gemessen mit bestimmten Verfahren, ist unter Umständen auf die Ausweitung der Repression wie auch der Medizinalisierung auf bisher unbe­lastete, integrierte Personengruppen zurückzuführen. Nur ein Teil die­ser Population ist sozial auffällig, bedarf der medizinischen Betreuung oder ist poli­zeilich regi­striert.

Eine unerwartete polizeiliche Erfassung oder aber eine medizinische Betreuung kommen jedoch auch bei integrierten Konsumierenden vor, so daß die Erfas­sungs­wahrscheinlichkeit auch in der quasi immunen Population über einem Pro­zent per annum liegt. Es besteht kein Grund zur Annahme, daß diese Population wesentlich kleiner ist als der nach den vorliegenden Resultaten ungefähr 30’000 Personen um­fassende Kern der abhängigen Konsumierenden mit schwer kompul­siven Mustern des Drogengebrauchs. Dieser «Kern» ergibt eine wohnbevölkerungsbezogene Präva­lenz von vier Promille regelmäßiger Heroin- oder Kokainkonsumierender, Inzidenz und Remission mit einbezogen. Männer sind mit knapp acht Promille stärker vertre­ten als Frauen mit etwa zwei Promille. Zur Zeit mit an die zwei Prozent am stärksten belastet sind die Jahr­gänge um 1970, also die Menschen Mitte Zwanzig, während die fünfziger Jahrgänge kaum mehr ein halbes Prozent erreichen. Im sehr niedrigen Promillebereich findet sich die Prävalenz bei unter Zwanzigjährigen und bei über Fünfundvierzigjährigen.

Gruppengrössenschätzung: Inzidenz, Remission und mortalität

Sowohl die Inzidenz wie auch die Remission3 bewegen sich in der Größenordnung von über 3’000 bis über 6’000 Personen jährlich, wobei echte Inzidenzen von Wie­dereinstiegen nach langer Pause schwer zu unterscheiden sind. Sofern keine Ver­laufsdaten vorliegen, kann nicht ent­schieden werden, ob es sich um inzidente Fälle im engeren Sinne handelt oder ob eine Wiederaufnahme des Konsums nach längerer Abstinenz vorliegt. Über einen Fünfjahreszeitraum betrachtet, liegen die Einstiegs- und Ausstiegsraten zwischen 10% und 20%, über einen Jahreszeitraum betrachtet zwischen 20% und 30%. Inzidenz und Remission sind wegen der im Beobachtungs­zeitraum veränderten Erfassungsintensität schwierig exakt zu schätzen. Die Schätz­verfahren für offene Populationen ergeben eine wohnbevölkerungsbezogene Präva­lenz von drei Promille. Inzidenz und Remission liegen in diesem Falle bei knapp einem Promille. Pro Jahr beginnt also nicht ganz jeder tausendste Mensch in der Schweiz mit dem regelmäßigen Konsum von Heroin oder Kokain. Am höchsten ist die Inzidenz bei den Menschen um die zwanzig. Remissionen sind am wahr­schein­lichsten bei Leuten um die vierzig und mehr, wobei schon bei den Dreissig­jährigen die Remissionsrate die Inzidenzrate erreicht oder übertrifft. Die Mortalität liegt in absoluten Zahlen mit um die 700 Fällen oder mehr jährlich mit über zwei Prozent der Kernpopulation sehr hoch. Dies entspricht einer etwa zwanzigfachen Über­sterblich­keit gegenüber der altersgleichen Bevölkerung, womit risikoreicher Drogen­konsum bei den Zwanzig- bis knapp über Dreissigjährigen eine der wichtigsten Todesur­sa­chen darstellt. Doch die über fünf Jahre gemessene jährliche Remissionsrate liegt mit deutlich mehr als zehn Prozent bei den über Dreissigjährigen deutlich höher, so daß bei einer medianen Konsumdauer von zehn Jahren die Prognose doch nicht so schlecht ist, wie vielfach angenommen wird.

Regionale Verteilung

Jene Kantone, in denen ein wesentlicher Teil der Bevölkerung in größeren städti­schen Agglomerationen lebt, haben eine etwas höhere Prävalenz von Heroin- oder Ko­kainkonsumierenden. Dies entspricht der Rolle der Agglomerationen als Markt­plätze. Aus dem Repressionssystem abgeleitete Daten spiegeln die straf­rechtliche Norm wider, daß ein Verfahren am Ort des Delikts und nicht am Wohnort des Be­schuldigten durchzuführen ist. Der Einkauf birgt eine größere Gefahr der Erfassung als der Konsum in der privaten Sphäre. Durch diese Mecha­nismen erscheinen die Städte stärker belastet.

Andererseits zeigt sich auch, daß Kantone mit wenigen Anzeigen durchaus hohe Anteile von Konsumierenden haben können. So unterscheidet sich bei­spielsweise die Prävalenz von St. Gallen und Basel Land nicht, obwohl St. Gallen bevölke­rungsrelativ mehr als doppelt so viele Anzeigen meldet. Im all­gemeinen gruppieren sich die eher ländlich geprägten Kantone um niedrige Anzeige- und Benutzerpräva­lenz, während in urbanen Kantonen hohe Anzeige- mit hoher Benutzerprävalenz ein­hergeht. Die Differenz zwischen Stadt und Land ist allerdings nicht einmal dop­pelt so groß. Zwischen den Sprachregio­nen sind keine deutlichen Unterschiede zu erkennen.

Im internationalen Vergleich ist die Schweiz, zusammen mit Spanien, Italien und Frankreich, ein hochprävalentes Land, was die offiziell angegebene beziehungsweise wissenschaftlich gemessene Anzahl von Heroin- und Kokainkonsumierenden betrifft. Die Prävalenz in Deutschland liegt mit öfters angegebenen 100’000 Konsumierenden um das dreifache niedriger. Dies läßt sich mindestens zum Teil durch unterschiedli­che Meßmethoden erklären. Hingegen liegt die wissenschaftlich gemessene Präva­lenz im ehemaligen Westberlin nahe an derjenigen, die hier für die Schweiz gefun­den wurde.

Protektive Faktoren

Die biographischen Daten bestätigen weitgehende Immunität sozial integrierter Kon­sumierender gegen eine institutionelle Erfassung. Angebote auf freiwilliger Basis im medizinischen Sektor, die nicht mit einer behördlichen Erfassung ver­bunden sind, finden bei ihnen eine gewisse Akzeptanz. Personen mit entsprechen­den individuel­len Voraussetzungen und sozialem Umfeld fühlen sich insbesondere immun gegen Maß­nahmen des Repressionssystems. Diese Immunität wird gewährleistet durch eine sozial angepaßte, quasi «bürgerliche» Lebensweise, die Akzeptanz zentraler ge­sell­schaftlicher Werte. Die Konsumierenden verfügen allerdings über ein klares Bewußt­sein der Gefahr der Repression vor allem auch für die eigene Bezugs­gruppe der ebenfalls Konsumierenden. Ein deutlicher Einfluß der Repression auf den Um­fang des Konsums, vielleicht vermittelt durch Angst vor der Repres­sion, oder auf die Zahl der Konsumierenden kann allerdings nicht gezeigt werden.

Einen Schwerpunkt der Studie bildet die Benennung und Beschreibung der Fakto­ren, die einem integrierten, von Polizei und Justiz, von Institutionen der Medizin und der Sozialarbeit weit­gehend unbehelligten Leben der Konsumierenden förderlich sind und es ihnen erlau­ben, Immunität aufrecht zu erhalten.

Als protektiver Faktor zeigt sich einmal das Geschlecht. Frauen laufen sehr viel seltener Gefahr, durch die Repression erfaßt und belastet zu werden als Männer. Frauen werden nicht nur von Polizei und Justiz weniger fokussiert, sondern leben auch häufig in Beziehungen, in denen die Partner vorrangig das Erfassungsrisiko tra­gen.

Das Verhältnis von Männern zu Frauen beträgt ungefähr fünf zu eins bei den Repres­sions­suszeptiblen und mehr als drei zu eins bei den Medizinalisierungssuszeptiblen. Für die Gesamtpopulation der Konsumierenden ist mit einem Verhältnis von unge­fähr drei zu eins zu rechnen.

Das Alter bildet ebenfalls einen protektiven Faktor. Der typische Bereich für den Einstieg in den Konsum ist das Altersfenster zwischen 17 und 22 Jahren, die höchste Belastung durch die Repression findet sich im Alter zwischen 20 und 30 Jahren, Remission und Immunität verstärken sich in der Altersklasse über 30. Diesbezüglich sind kaum Unterschiede zu den anderen Bereichen der Repression zu sehen. Die er­höhte Suszeptibilität der Zwanzigjährigen, insbesondere für Repressionsmaßnahmen, weist auf mit abweichenden Verhaltensweisen verbun­dene späte Adoleszenzpro­bleme der Personen in dieser Altersgruppe hin, andererseits aber auch auf die spezi­fische Ausrichtung der polizeilichen Maßnahmen auf diese Gruppe und die damit verbundenen Stereotypen. Die Dreissig- bis Vierzigjährigen haben bessere Chancen, harte, illegale Drogen zu konsumieren und dabei stabil und integriert zu bleiben, auch weil das dafür not­wendige Umfeld und die individuellen Ressourcen bei ihnen eher vorhanden sind als bei jüngeren Personen. Insofern ist das Herauswachsen aus der Suszeptibilität ein wichtiger, sich mit Erfahrung und Lebensalter natürlich ein­stellender, positiver Mechanismus der Drogenkarriere, dessen Wirkung durch Inter­ventionen blockiert werden kann.

Die Lebensgestaltung bildet dann einen protektiven Faktor, wenn sie sich an den herrschenden zentralen Normen und Werten der modernen bürgerlichen Gesell­schaft orientiert. Die Arbeitsorientierung, das soziale Netzwerk und die Akzep­tanz zen­traler gesellschaftlicher Werte bilden einen Rahmen, welcher sank­tions­gefährdete Handlungen wie illegale Mittelbeschaffung, profitorientierten und pro­fessionellen Drogenhandel oder die Drogenbeschaffung in der offenen Szene weit­gehend aus­schließt. Integrierte Konsumierende sind in der Regel erwerbstätig, sie beachten die Budgetrestriktionen ihrer legalen Einkommen, pflegen Beziehungen zu nicht kon­sumierenden Personen und lehnen eine Schädigung Dritter durch krimi­nelle Hand­lungen prinzipiell ab. Die Wertordnung der Konsu­mierenden deckt sich dabei nicht unbedingt mit derjenigen, welche die Repressionsinstanzen vertreten, also die durch Strafnormen gesetzten, sondern folgt dieser nur, wo es sinnvoll er­scheint. Drogen­konsumierende stellen die Wertvorstellungen, die dem Strafrecht zugrunde liegen, nicht grundsätzlich in Frage, sieht man vom Drogenkonsum und den damit verbun­denen Handlungen wie Weitergabe und ähnlichem ab. Es geht dabei um eine Anglei­chung der Gruppennormen an die Lebensumstände, ein Mechanismus, der sich kei­nesfalls nur bei Drogenkonsumierenden findet. Im übri­gen verdeutlicht sich immer wieder die Reproduktion gesellschaftlich dominanter Wertvorstellungen und Verhaltensmuster auch im «rechtsfreien Raum» des Drogen­konsums.

Ein weiterer protektiver Faktor von Bedeutung ist das Körper- und Gesundheits­bewußtsein. Als Handlungsmaxime tritt für integrierte Konsumierende anstelle einer staatlich normierten und gesellschaftlich definierten Grenze, die durch die Illegalität und Stigmatisierung des Heroin- und Kokainkonsums gegeben ist, die persönlich wahrgenommene Grenze des körperlichen, psychischen und sozialen Wohlbefin­dens, mitunter eine hedonistische Grundhaltung.

Ein letzter protektiver Faktor läßt sich durch den Begriff der Autonomie beschrei­ben. Integrierte Konsumierende haben das zentrale Bedürfnis, die Kontrolle über den Gebrauch der Droge autonom auszuüben, und sie erreichen in der Regel das Ziel internaler Kontrolle. Diese Autonomiebestrebungen berühren alle Bereiche des Dro­genkonsums und hängen mit der individuellen und sozialen Kompetenz des Indivi­duums zusammen, seine soziale Integration aufrechtzuerhalten. Schuld­zuweisungen an Dritte, moralische Selbstzerfleischung oder eine Mitleid erheischende Grundhal­tung hingegen sind eher ungünstig für dauerhafte Immunität gegen­über institutionel­len Interventionen jeder Art.

Schließlich fördern gute materielle Ressourcen und die Herkunft aus einer gehobe­nen sozioökonomischen Schicht die Repressionsimmunität und damit die Möglich­keit des gesellschaftlich integrierten Gebrauchs illegaler Drogen.

Konsumverhalten

Der Einstieg der integrierten Konsumierenden in den Konsum und ihr weiterer Kar­riereverlauf sind oft hedonistisch orientiert. Bei nicht integrierten Konsumierenden sind hingegen häufig problembeladene Kontexte relevant.

Integrierte Konsumierende betrachten den Drogenkonsum als Freizeitbeschäfti­gung. Von Anfang an sind sie überzeugt, diesen kontrollieren zu können. Eine primär an den Konsum gebundene Alltagsorientierung findet eher selten statt.

Ebenso wie die Karriereverläufe nicht integrierter Konsumierender weisen auch die­jenigen der integrierten Konsumierenden Phasen kompulsiven Gebrauchs auf. Dro­henden Kontrollverlusten begegnen sie durch selbstinitiierte Unterbrechungen, Ein­schränkungen des Konsums oder ritualisierten Umgang mit der Droge. Dabei finden sie Unterstützung bei den ebenfalls konsumierenden Mitgliedern ihrer sozia­len Netzwerke. Einige schließen nicht aus, daß sie den Konsum in absehba­rer Zeit gänzlich einstellen.

Unterschiede zeigen sich bezüglich des Konsumverhaltens und der konsumierten Substanz. Für deutlich mehr als die Hälfte der Heroinkonsumierenden ist der Bei­konsum von Kokain durchaus üblich, und die übrigen lehnen Kokainkonsum in der Regel nicht prinzipiell ab. Umgekehrt grenzt sich eine große, tendenziell medizi­nali­sierungs- und repressionsimmune Gruppe von Kokainkonsumierenden von den «Junkies» sehr deutlich ab. Die allermeisten Konsumierenden beider Gruppen schreiben der Substanz Heroin ein größeres Gefährdungspotential zu.

Verfolgungsintensität

Eine sozialepidemiologische Studie darf nicht nur die Konsumierenden betrachten, sondern muß die Organe der Drogenrepression und der sozialmedizinischen Ver­sor­gung ebenfalls berücksichtigen. Ein wichtiges Ergebnis der Studie ist der Nachweis einer sich verstärkenden Repression seit 1990. Die Erfassung der Kon­sumenten durch die Polizei unterliegt sowohl zwischen den Kantonen als auch im Zeitverlauf einer beträchtlichen Variabilität. In fast allen Kantonen hat sich jedoch die Anzeige­intensität zwischen 1990 und 1993 beträchtlich erhöht. Die bloße Zahl der Anzeigen pro Zeiteinheit bildet keinen guten Indikator für Inzidenz und Prävalenz des Drogen­konsums, die daraus abgeleiteten Gruppengrößen­schätzungen hingegen schon. Im Be­obachtungszeitraum wurden mit steigender Ten­denz jährlich zwischen 25% und 45% der repressionssuszeptiblen Konsumieren­den durch die Polizei erfaßt. Eine Vermin­derung der finanziellen Mittel in diesem Bereich würde zu einer Senkung der Fallzahlen führen. Bei einer hohen Aus­schöpfung sinkt der Grenznutzen für einen zusätzlich gefundenen Fall massiv, da die Kosten überproportional steigen.

Es zeigt sich auch, daß die Repression verstärkt neue, bisher wenig belastete oder immune Personengruppen fokussiert und so beispielsweise vermehrt Kokainkon­su­mierende oder Frauen erfaßt werden. Gleichzeitig erhöht die verstärkte Anzeige­in­tensität aber auch die Wahrscheinlichkeit, daß bereits Suszeptible erneut erfaßt wer­den, was zu einer Erhöhung der gemessenen Fallzahlen der «Rückfälligen» führt. Daraus resultiert eine Überschätzung der Inzidenzen und der Gruppengrößen. Die einmal erfolgte Erfassung erhöht das Risiko weiterer Erfas­sungen. Sanktionen kön­nen die Lebenssituation vor allem von bisher integrierten Konsumierenden destabili­sieren. Insofern kann eine Erhöhung der Verfolgungsin­tensität auch nega­tive Aus­wirkungen auf individuelle Drogenkarrieren im Sinne einer zunehmenden sozialen Desintegration haben. Dies dürfte im Bereich der medizinischen Vorsorge und Ver­sorgung bedeutend seltener der Fall sein als im Repressionsbereich.

Empfehlungen

Aus der Studie lassen sich Erkenntnisse ableiten, die aus gesamtgesellschaftlicher Sicht geeignet sind, den Komplex «Drogenproblem» zu entschärfen. Zum einen wird deutlich, daß verschärfte Repression die gesellschaftliche Integration der Konsumie­renden nicht fördert. Zum andern ergibt sich auf der Kostenseite ein abneh­mender Grenznutzen bei einer zunehmenden Verfolgung bisher integrierter, unauffälliger Konsumierender. Diese Form des Konsums ist mit dem geringsten Aufwand für den öffentlichen Haushalt belastet und verursacht im besten Fall überhaupt keine Kosten.

Integrierte Konsumierende verlieren durch Stigmatisierung ihren Status und verur­sachen dann Kosten und Wohlfahrtsverluste, womit der Nutzen der Intervention ne­gativ wird. Die Drogenpolitik muß sicherstellen, daß ein möglichst großer Teil der Konsumierenden von einer Stigmatisierung verschont bleibt. Diese sind dann besser in der Lage, gesellschaftliche Integration und eine ihrer Gesundheit förder­liche posi­tive Lebenshaltung aufrechtzuerhalten. Zu warnen ist im weiteren vor intensiven Registrierungen und Verurteilungen der schon von jeher gegenüber repres­siver Stig­matisierung besonders empfindlichen Jugendlichen, die unter Umständen dadurch einen Großteil ihrer Lebenschancen und Perspektiven verlie­ren.

Zu fördern sind hingegen alle Maßnahmen, die, sofern ein sofortiger Ausstieg nicht möglich ist, zu einem gesellschaftlich integrierten Konsummuster führen. Dabei sol­len die nicht biologisch determinierten protektiven Faktoren gestärkt werden: Kör­per- und Gesundheitsbewußtsein, internale Kontrolle, Arbeitsorientie­rung und so­ziale Vernetzung.

Fussnoten

1 Für epidemiologische Fragestellungen besonders schwer einzuordnen sind diejenigen Perso­nen, die ihren Konsum während einiger Zeit einstellen und ihn unter Umständen nach zwei-, drei- oder mehrjähriger Pause wieder aufnehmen. Dabei handelt es sich sowohl um Perso­nen mit einigermaßen kontrolliertem Gebrauch als auch um solche, die immer wieder Phasen des unkontrollierten, massiven Gebrauchs durchmachen und dann auch mit erhöhter Wahr­scheinlichkeit auffällig werden.

2 Im Jahre 1994 sind mehr als 25’000 Personen wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittel­gesetz polizeilich erfaßt worden, darunter 14’000 Konsumierende von Heroin oder Kokain. Für die Repression des Drogenkonsums wurde im Jahre 1991 eine halbe Milliarde Franken an öffent­lichen Mitteln aufgewendet, und zwar mit steigender Tendenz in den folgenden Jahren. Näheres über Volumen und Kosten der Drogenmärkte in Estermann: Die Kosten der Drogen­repression, a.a.O., 1995 und ders.: Zum Erfolg der Drogenrepression in der Schweiz. Eine zeitgeschichtliche Betrachtung. In: abhängigkeiten, 1/1996, Lausanne, 1996

3 Zur eigentlichen Remission, dem Ausstieg aus dem Konsum, müssen die Todesfälle hinzuge­rechnet werden. ProLitteris