Weiterlesen Gutes Leben
© ProLitteris, Josef Estermann
Die Reflexivität der Perzeption sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse in Politik und Öffentlichkeit
Josef Estermann
Im ersten Abschnitt spreche ich über die spezielle Ausformung der Reflexivität in der sozial-wissenschaftlichen Forschung, im zweiten will ich die Forderungen nach Objektivität und Unabhängigkeit der Wissenschaft kritisieren, im dritten die Entwicklung von Forschungsfeldern jenseits dieser Forderungen beschreiben und kritisieren. Anschließend folgen ausgewählte Beispiele für Reflexivität im Forschungsprozess und zum Schluss Vorschläge zur Lösung des Objektivitätsparadigmas.
- Objektivität, Unabhängigkeit und Reflexivität in der sozialwissenschaftlichen Forschung
Ein gesichertes und mehrmals reproduziertes Ergebnis der Sozialforschung im Bereich Sexualbiografie und sexuelle Verhaltensweisen lautet, dass Männer in Europa etwa doppelt so viele heterosexuelle Partner und doppelt so viele heterosexuelle Kontakte angeben wie Frauen. Dieses paradoxe Ergebnis ist kein Methodenartefakt sondern spiegelt eine soziale Realität, dem kein mögliches physisches Korrelat entspricht. Das Ergebnis lässt einige Fragen zur Objektivität aufkommen.
Die sozialwissenschaftliche Forschung und ihre Perzeption in Politik und Öffentlichkeit ist einer besonderen Art von Reflexivität unterworfen, da sozialwissenschaftliche Forschung durch ihren Forschungsgegenstand selbst beherrscht wird. Sie ist gesellschaftlich bestimmt. Wenn die sozialwissenschaftliche Empirie ihren Gegenstand in Sprache fasst, ist sie nicht nur Teil ihres eigenen Gegenstandes, sie ist selbst Gesellschaft. (1) Die Sozialwissenschaftler müssen nicht nur die innere, forschungslogische Konsistenz ihrer Ansätze sicherstellen. Sie müssen sich auch Gedanken machen über die Aufnahme ihrer empirischen Ergebnisse in Politik und Öffentlichkeit. Die Frage ist nun, wie sich diese Reflexivität im Forschungsprozess und im Forschungsergebnis vermittelt.
Dazu Niklas Luhmann: „Prozesse können, wenn sie gerichtet und identifizierbar sind, ihrerseits als ein ’selbst‘ der Referenz fungieren. Dann wollen wir von Reflexivität oder reflexiven Prozessen sprechen. Reflexive Prozesse richten sich auf sich selbst, bevor sie sich auf ein Objekt richten, und gewinnen dadurch Steuerungskapazität. Beispiele aus unserem Themenkreis sind: Denken des Denkens, Erkennen des Erkennens, Forschen über Forschung.“ (2)
Empirizistische Positionen fordern, dass in der empirischen Sozialforschung Methode und Vorgehensweise bei der Hypothesenprüfung dem Popperschen Falsifikationsprinzip folgen. Der Forschungsvorgang soll bezüglich Empirie und Methode unabhängig von der erwarteten Perzeption der Ergebnisse in Politik und Öffentlichkeit und unabhängig von dem beforschten Gegenstand selbst bleiben und somit die wissenschaftliche Geschlossenheit konstituieren. Diese Forderung ist schon deshalb nicht einzulösen, weil der soziologische Forschungsprozess Teil der sozialen Welt, also seines Gegenstandes selbst ist.
Nicht einzulösen ist diese Forderung auch deshalb, weil ethische Schranken den Missbrauch der Probanden, das „Hinter’s-Licht-führen“, das Verletzen ihrer berechtigten Interessen verhindern müssen und so eine Abhängigkeit der Empirie vom beforschten Gegenstand konstituieren. Nicht alles Beforschbare, nicht jedes noch so wünschbare Wissen soll dem materiellen Zugriff des Forschungsprozesses unterworfen sein. Das muss in der sozialwissenschaftlichen Forschung genauso gelten wie in der medizinischen Forschung, bei Tierversuchen ebenso wie bei der Verwendung von Embrionen in der biowissenschaftlichen Forschung.
Die Erforschung von Erhebungsbias und Instrumentenbias zeigt, dass die sozialwissenschaftlichen Instrumente selbst einen nicht zu vernachlässigenden, unter Umständen einen entscheidenden Einfluss auf die Ergebnisse haben. Problematischer ist jedoch, dass dieser Einfluss nicht mit genügender Sicherheit von und aus den Ergebnissen zu isolieren ist. Dieses Faktum wurde bereits, um nur wenige zu nennen, von Berger (3), Cicourel (4), Garfinkel (5) und letztlich schon Wittgenstein (6) eingehend diskutiert. Es entspricht in seiner Bedeutung der Heisenbergschen Unschärferelation in der Physik. Es ist lange Mode gewesen, auf dem Unterschied zwischen Geistes- und Naturwissenschaften herumzureiten. Methodisch sind sie im Grunde nicht verschieden, beide wenden die Methode des Problemlösens, der Vermutung und der Widerlegung an. (7)
Sozialwissenschaftliche Forscher sind bezüglich ihrer empirischen Ergebnisse zurückgeworfen auf ein Konstrukt, welches das Ergebnis einer Interaktion der Methode mit der sozialen Wirklichkeit darstellt, auf ein Produkt der Reflexivität der Perzeption. Sie unterscheiden sich in diesem Punkt nicht von Forschern, die sich mit Quantenphysik beschäftigen. Sozialwissenschaftliche Forscher sehen ihren Forschungsgegenstand, gespiegelt in den verwendeten Instrumenten, im Ergebnis des Forschungsprozesses als Verbindung von Methode und untersuchtem Gegenstand selbst. (8)
Die Verwechslung des untersuchten Gegenstandes selbst mit den empirischen Ergebnissen des untersuchten Gegenstandes hat meines Erachtens einen nicht unbedeutenden Teil der mehr oder weniger fruchtbaren Diskussionen um sozialwissenschaftliche Forschung der vergangenen zwanzig Jahren bestimmt, nämlich die Frage, ob qualitative oder quantitative Methoden für die empirische Sozialforschung besser geeignet seien.
Aus dem Umstand, dass sich der Forschungsgegenstand nur in der Verbindung des Forschungsprozesses mit der sozialen Wirklichkeit zeigt, folgt nicht zwangsläufig eine nihilistische Position bezüglich der Ergebnisse klassischer sozialwissenschaftlicher Vorgehensweise, quantifizierter Interviews, Fragebogen oder hermeneutischer Verfahren. Untaugliche Thesen folgen nur dann, wenn Forscher oder Rezipienten die Instrumente in den Ergebnissen nicht explizit mitreflektieren oder das rohe Ergebnis einer Befragung tel quel als Abbild instrumentenunabhängiger sozialer Wirklichkeit nehmen, was allerdings – leider – in der medialenPerzeption der Thesen meistens der Fall ist.
Wenn eine positivistische Position bezüglich Hypothesenprüfung – zu Recht – abzulehnen ist und das Ergebnis des Forschungsprozesses ein synthetisches Produkt von Instrument und Gegenstand darstellt, viel mehr als die unabhängige Darstellung des Forschungsgegenstandes selbst, ergibt sich die Gültigkeit der Forschungsergebnisse, der sozialwissenschaftlichen Thesen, aus ihrer Bewährung im Popperschen Sinne. (9)
Bewähren kann sich ein sozialwissenschaftliches Forschungsergebnis nur in der Diskussion, deren Grundlage die interessierte Wahrnehmung bildet. Popper entwickelt den Begriff der Bewährung aus Überlegungen zur Gültigkeit von Hypothesen und Theorien. Das Forschungsergebnis bildet die empirische Grundlage, der Prüfstein für die Theorie.
In den Sozialwissenschaften kann das Forschungsergebnis nicht per se Prüfstein sein, da es sich erst selbst in seiner Perzeption, also reflexiv, bewähren muss. Zur Explikation eine Analogie: Die physikalische Theorie über die Existenz von Radiowellen konnte sich mit dem Experiment einer Übertragung von Information von Sender zu Empfänger und den anschließenden Falsifikationsversuchen, dem Ausschluss von Drittwirkungen, bewähren. Diese Bewährung ist theoretisch möglich ohne Einbezug der sozialen Welt, herstellbar – theoretisch – durch ein einzelnes Individuum. Im sozialwissenschaftlichen Kontext hingegen ist jegliche Theorie über Existenz und Wirkung von Radiowellen erst möglich nach einer gesellschaftlichen Produktion von Sende- und Empfängeranlagen und der massenweisen Partizipation von Individuen an dem darauf beruhenden Informationsfluss. Die Bewährung einer Theorie über die gesellschaftliche Bedeutung eines Phänomens wird erst dann möglich, wenn ein sozialwissenschaftliches Forschungsergebnis sich durch Perzeption und Reflexion durch andere Gesellschaftsmitglieder bewährt hat. Bewährt hat sich auf dieser Stufe eine Aussage über eine gesellschaftlich Realität durch konsensuale oder dissensuale Reflexion dieser Aussage in der Öffentlichkeit, der Politik und der Wissenschaft, und in der Genese von respektiven Normen.
Sozialwissenschaftliche Ergebnisse sind nur dann im Popperschen Sinne bewährungsfähig, wenn sie gesellschaftlich aufgenommen werden, also politische Wirkung entfalten und öffent lich diskutiert werden. Sie müssen mit expliziten gesellschaftlichen Interessen korrespondieren. Von dem Blick auf ihre Verwertung losgelöste, also unabhängige Forschungsanlagen sind, glaube ich, überhaupt nicht bewährungsfähig. In der öffentlichen Diskussion werden aber
gerade Forschungsanlagen, die sich als unabhängig von Interessen und Intentionen der Beteiligten, als „nicht subjektiv‘ verstehen wollen, als „objektiv“ bezeichnet. Dieser Objektivitätsbegriff entspricht jedoch keinesfalls dem Popperschen Begriff der „objektiven Erkenntnis“ und seiner Theorie der drei Welten. Dazu aber später. Die mit dem Positivismusvorwurf verbundene Kritik an Popper leidet an der mangelnden Rezeption seiner nach 1968 publizierten
Werke.
Falls Forschungsergebnisse rezipiert werden, ohne dass eine bestimmte Rezeption bereits zu Beginn des Forschungsprozesses, bei der Forschungsanlage und Themendefinition antizipiert wurde, wäre dies eine Zufälligkeit, die dem Popperschen Falsifizierungsprinzip widerspräche und eine Hypothesenprüfung (mangels Hypothese) ausschlösse. Es bliebe nur die Hoffnung, dass spätere Generationen die Relevanz der Forschung noch entdecken könnten.
Nicht nur der sozialwissenschaftliche Forschungsprozess ist reflexiv, sondern auch die Themenwahl, die Definition des Forschungsgegenstandes, also die operationale Definition einer sozialen Realität, eines Begriffs, eines Konstrukts. Hier geht es um den Kommunikationszusammenhang der Wissenschaftler, die scientific community, um die finanzierenden Institutionen und um die in Politik und Öffentlichkeit wahrgenommene, meist medial vermittelte Brisanz oder Zukunftsträchtigkeit eines Themas, unter Umständen sogar um gesellschaftliche oder wissenschaftliche Machtansprüche oder direkt tangierte Interessen außerhalb des wissenschaftlichen Forschungsprozesses.
Der Forschungsprozess ist in Umfang und Tiefe determiniert durch die Verfügbarkeit von Ressourcen. Sofern Forscher nicht aus eigener Kompetenz privat oder in ihrer institutionellen Funktion über Forschungsmittel zusätzlich zur eigenen Arbeitskraft verfügen, müssen sie diese Mittel für den intendierten Forschungsprozess beschaffen. Die Mächtigkeit dieser Mittel bestimmt die methodischen Möglichkeiten, den Umfang der zur Verfügung stehenden Daten, die Verfügbarkeit und Tiefe der Instrumente.
Forscher arbeiten in der Regel in Institutionen, und sind abhängig von externen oder internen Auftraggebern, die auf Grund ihrer finanziellen Leistungen oder aus legitimatorischen Gründen bestimmte Erwartungen an die Resultate haben. Kurz: Die Ergebnisse müssen verwertbar sein. Die Erwartungen beschränken sich durchaus nicht darauf, dass als Ergebnis des Forschungsprozesses „irgend etwas“ resultiert, sondern Antworten auf die Fragestellungen, die sie zur Kooperation im Forschungsprozess bewogen haben. Forscher werden also zu Beginn des Forschungsprozesses Fragen stellen, die sie für beantwortbar halten und die Dritte interessieren. Bei der Auftragsforschung und bei den meisten Forschungen im Bereich der Verwaltung, etwa im Gesundheits- oder Sozialwesen, sind die Erwartungshaltungen in Bezug auf Antworten ausreichend klar, zumal was Antworten angeht, die den Intentionen der Auftraggeber widersprechen. Erfolgreiche Antragssteller antizipieren implizite und explizite Erwartungen und präsentieren ein Forschungsdesign, welches die durch Enttäuschung dieser Erwartungen auftretenden Schwierigkeiten zu vermeiden sucht: Sie möchten sich und anderen Ärger ersparen, ihre Interessen mit denjenigen der Rezipienten zwar nicht gleichsetzen, aber doch Anklang finden.
In der heutigen medialisierten Welt sind Forschungsprozesse und Forschungsergebnisse, die Antworten auf gesellschaftliche Fragestellungen geben möchten, selbst medialisierte Produkte. Veröffentlichungspolitik und mediale Aufbereitung werden für den Forschungsprozess immer wichtiger. Die Bedeutung der medialen Vermittlung von Forschungsergebnissen in der breiten Öffentlichkeit, die der Fragestellung nach der Bewährungsfähigkeit neue Dimensionen öffnet, wurde bis jetzt kaum beachtet. Im „Positivismusstreit“ beispielsweise ist keine Rede davon. Bewährungsfähigkeit wurde bis dahin in der scientific community, der Fachöffentlichkeit und eventuell noch in der Ministerialbürokratie, der Politik im engeren Sinne verortet.
- Die Kritik der Forderung nach Objektivität und Unabhängigkeit
Die Forderung nach Objektivität und Unabhängigkeit der Forschung, und die bei der Präsentation der Ergebnisse vorgetragene Behauptung, sie seien objektiv und unabhängig – ich bezeichne dies als das Objektivitätsparadigma -, tragen legitimatorischen Charakter. Thesen und Forschungsergebnisse sind gerade dann bewährungsfähig, wenn die Interessenlage und die Positionen der Forschenden und der weiteren Beteiligten möglichst gründlich offen liegen und dadurch den Einfluss der Interessenlage für sämtliche Rezipienten analysierbar machen. Sozialforscher sind also gut beraten, über die zu erwartenden Wirkungen der Resultate ihrer Forschungsvorhaben intensiv nachzudenken und die Forschungsanlage entsprechend zu gestalten. Falls sie diese Intention explizit machen, setzen sie sich heute dem Vorwurf aus, „Subjektiv“ vorzugehen und das Gebot der Objektivität und Unabhängigkeit zu verletzen.
Poppers Objektivitätsbegriff ist mit dem Objektivitätsparadigma überhaupt nicht zu verwechseln. Er verankert das Konzept der objektiven Erkenntnis (objective knowledge) in der Welt 3, der Welt der „objektiven Gedankeninhalte“, der Begriffe und Aussagen, deren wichtigste Bewohner kritische Argumente und der „Stand einer kritischen Auseinandersetzung“ sind. (10) Folgt man diesem Konzept, ist objektive Forschung immer gegeben, wenn sie sich auf die Welt 3 bezieht, also keine nur durch bloße Gefühle und Einstellungen des Forschenden motivierte Aussagen macht, die der Welt 2 zugehören, der Welt der Subjekte, der Bewusstseinszustände, Erfahrungen und Kenntnisse der Einzelnen. Der Gegenstand der Forschung jedoch kann durchaus auch Teil der Welt 1, der Welt der physikalischen Gegenstände oder physikalischen Zustände oder der Welt 2 sein. Die reflektierte Interessenlage des Forschenden ist der
Welt 3 zuzuordnen. Unterliegt auch sie der Kritik, bedarf Objektivität keiner weiteren Legitimation. Sie ist nur dann nicht gegeben, wenn „hidden agenda“ vorherrschen und Interessen durch Ausblendung der Kritik entzogen sind. Nicht auszuschließen ist die Gefahr, dass Forscher bezüglich der Reflexion ihrer Interessenlage blind sein können.
Poppers Ansatz der objektiven dritten Welt gründet wesentlich auf Platons Entdeckung der objektiven Formen und Ideen, die oft mit Denkvorgängen verwechselt wurden, also Bewusstseinszuständen, die der zweiten Welt zugehören. Poppers dritte Welt enthält nicht nur Allgemeinbegriffe, sondern auch mathematische Wahrheiten und Behauptungen, auch falsche Behauptungen und alle möglichen nichtmathematischen Behauptungen und Theorien. Mit seiner Theorie der drei Welten löst er Platons Dualismus auf, stellt Platon sozusagen vom Kopf auf die Füße. (11)
Für Habermas und Adorno ist die gesellschaftliche Totalität das Objektive per se. Habermas setzt im Zusammenhang mit seiner Forderung nach emanzipativer Sozialforschung die Gesellschaft als Subjekt, somit die Forscher als gesellschaftliche Objekte, der Begriff der objektiven Forschung löst sich dialektisch auf.‘ (12) So ist auch Adorno zu verstehen: „Denn Soziologie hat Doppelcharakter: in ihr ist das Subjekt aller Erkenntnis, eben Gesellschaft, der Träger logischer Allgemeinheit, zugleich das Objekt.“ (13) Ganz ähnlich argumentieren Berger/Luckmann in Auseinandersetzung mit Weber und Durkheim: „Es ist ja gerade der Doppelcharakter der Gesellschaft als objektive Faktizität und subjektiv gemeinter Sinn, der sie zur «Realität sui generis» macht“ (14) Berger/Luckmann bauen ihre ganze Wissenssoziologie auf der Differenzierung von „Gesellschaft als objektive Wirklichkeit‘ und ‚Gesellschaft als subjektive Wirklichkeit‘ auf. Diese dualistische Position, die Gesellschaft gleichzeitig als Subjekt und als Objekt setzt,
ist im Grunde allen hermeneutischen und dialektischen Ansätzen gemeinsam. „Genauso wie Wirklichkeit ursprünglich mittels eines gesellschaftlichen Prozesses internalisiert wird, wird sie auch mittels gesellschaftlicher Prozesse im Bewusstsein festgehalten. […] Auch sie [die Prozesse der Internalisierung] spiegeln die fundamentale Tatsache, dass subjektive Wirklichkeit in Beziehung stehen muss zu einer objektiven Wirklichkeit, die gesellschaftlich bestimmt ist.“ (15) So gesehen wäre eigentlich auch die subjektive Wirklichkeit objektiv. Der dialektische Dreischritt der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, auf den simplen Punkt gebracht, lautet bei Berger/Luckmann: Ich – Die Anderen – Die Gesellschaft.
In der Physik ist die Aufhebung der Trennung von Objekt und Subjekt – allerdings nicht als dialektische Aufhebung – längst bewährte Theorie. Der Quantentheoretiker Erwin Schrödinger schrieb: „Subjekt und Objekt sind nur eines. Man kann nicht sagen, die Schranke zwischen ihnen sei unter dem Ansturm neuester physikalischer Erfahrung gefallen; denn diese Schranke gibt es gar nicht.“ (16) Diese Position findet sich in Übereinstimmung mit dem Neopragmatismus des Philosophen Richard Rorty, der keine Möglichkeit sieht „den relativen Gehalt an Subjektivität und Objektivität in einer gegebenen Überzeugung zu vergleichen. Es gibt, wie Wittgenstein sagt, keine Möglichkeit, zwischen Sprache und ihr Objekt zu treten.“ (17)
Wir haben also gute Gründe, die Begriffe „Objektivität“ und „Unabhängigkeit“ als Kriterium für die Qualität sozialwissenschaftlicher Forschung aufzugeben. Folgt man hermeneutischen und dialektischen Positionen, sind Forscher und Gesellschaft immer zugleich Objekt und Subjekt. Folgt man Popper, ist jede Aussage, die sich auf Welt 3 bezieht, objektiv. Anstelle des Begriffs der Objektivität tritt derjenige der Kritik und des Arguments, anstelle der Unabhängigkeit tritt das explizierte Interesse. Folgt man der Quantenphysik, sind Subjekt und Objekt ein Ding.
Sozialwissenschaftliche Forscher müssen sich, viel stärker noch als reine Naturwissenschaftler, den Erwartungshaltungen Dritter stellen und ihre Interdependenz im Forschungsprozess reflektieren. Die Erkenntnis der Untrennbarkeit von Forschungsgegenstand und Instrument, der Untrennbarkeit von Instrument und Forschungsergebnis und der Untrennbarkeit des soziologischen Forschungsergebnisses von den Sozialwissenschaftlern als gesellschaftliche
Subjekte – wir können nach der Dekonstruktion des Subjektbegriffs auch sagen: als in der Gesellschaft Handelnde – steht nicht gegen das Durkheimsche Postulat, Gesellschaft wie einen naturwissenschaftlichen Gegenstand zu behandeln.
Die Sozialwissenschaften unterscheiden sich bezüglich ihrer Reflexivität insofern nicht von der Philosophie, als Philosophen sich selbst sehr wohl zum Gegenstand der Erkenntnis machen, wie auch Soziologen die soziale Welt analysieren, deren Teil sie sind. Bezeichnend ist jedoch, dass die Soziologie als junge, vielleicht noch nicht gereifte Wissenschaft in einer Welt, in der sie sich ihren Platz noch nicht geschaffen hat, aus Legitimationsgründen sich eine unfruchtbare Diskussion leistet um den vorgeblich besser oder schlechter erfüllten Objektivitätsanspruch qualitativer oder quantitativer Methoden. Überhaupt scheint mir die Trennung von Methode und Inhalt eine etwas zweifelhafte soziologische Spezialität.
Sofern die Soziologie normative deontologische Sätze als Hypothesen aufstellt oder als Lösungsvorschläge zur Diskussion stellt, ist mit Georg Henrik von Wright gegen Kants kategorischen Imperativ zu schließen, dass deontologische Sätze immer auf Interessen „hinter“ diesen Sätzen selbst gründen. (18) Wenn nun Politik und Öffentlichkeit involviert sind, und die Gesellschaft als Subjekt adressiert ist, ist ein sozialwissenschaftliches Forschungsergebnis ohne deontologische, normative oder perlokutionäre Aussagen, seien es auch nur verdeckte Aussagen über wünschbare Zustände, über Sein-Sollen oder Tun-Sollen, gar nicht denkbar. Die Forderung nach wissenschaftlicher Objektivität verliert in diesem Zusammenhang jeden Sinn und entlarvt sich als bloße Ideologie.
- Transdisziplinarität als Überwindung des Objektivitätsparadigmas?
Unter dem Titel Nachhaltigkeitsforschung und Transdisziplinarität wird neuerdings die Reflexivität sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse programmatisch aufgenommen. Brand bezeichnet Nachhaltigkeitsforschung und Transdisziplinarität sogar als neuen Forschungstypus. (19) Er definiert Transdisziplinarität folgendermaßen: „Transdisziplinäre Forschung unterscheidet sich [von disziplinärer, multidisziplinärer und interdisziplinärer Forschung] dadurch, dass sie sich auf wissenschaftsexterne, gesellschaftlich diskutierte Problemstellungen bezieht, zu deren Lösung zumeist auch die Kooperation von Praxispartnern erforderlich ist. Die Bearbeitung dieser Probleme löst sich von disziplinären Erkenntnisinteressen und Methodenzwängen. Die Qualität dieser Forschung bemisst sich an der doppelten Fähigkeit, die lebensweltliche Problemwahmehmung sowohl in eine wissenschaftlich bearbeitbare Form [zu] übersetzen, als auch Lösungen entwickeln zu können, die außerwissenschaftiich greifen.“ (20) Die Jünger der Transdisziplinarität haben in erster Linie zwei Forschungsgebiete im Blick, nämlich die Umweltforschung und die Technikfolgenforschung. In dem dialogisch-partizipativen Wissenschaftsmodell wird Wissenschaft selbst reflexiv, der Verlust des „Objektivitäts-Nimbus“ wird als Chance begriffen. (21)
Brandneu sind diese Ansätze zwar nicht, doch erreichen sie in ihrer direkten Bezugnahme auf politische Prozesse und durch die Bedeutung der Umweltdebatte und der Debatte um Technikfolgen seit den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts eine Dichte, die Durchsetzungsfähigkeit indiziert.
Helga Nowotny und Adalbert Evers haben diese Forschungsrichtung auf Grundlage des Begriffs der Unsicherheit vorgedacht: „Die Gestaltbarkeit von Gesellschaft zum Gestaltungsprinzip zu erheben, so möchten wir diese Aufgabe umschreiben und damit die Notwendigkeit betonen, im Rahmen einer demokratischen Gesellschaftsordnung vor allem die soziale Kompetenz des einzelnen, gemeinschaftliche und kollektive Zusammenhänge anzuheben, um jenem Zuwachs an Komplexität begegnen zu können, der sich zentralistisch gedachte Steuerungsmechanismen nicht mehr gewachsen sehen.“ (22) Mir scheint es sich bei dieser Diskussion um eine ewige Wiederkunft der elften Feuerbach-These zu handeln.
In den siebziger Jahren hat die Gruppe um van den Daele den Einfluss der Politik auf die Forschung systematisch theoretisch und empirisch überprüft. (23) Sie sprechen allerdings noch von einer „Dichotomie von nicht steuerbarer Grundlagenforschung und steuerbarer angewandter Forschung“, (24) kommen dann aber zum Ergebnis, „dass zwischen Politik und Wissenschaft ein Verbundsystem besteht, in dem es außerordentlich schwierig ist, Anpassungsleistungen von Steuerungsimpulsen zu trennen.“ (25)
Bereits 1970 führte Hannes Friedrich eine groß angelegte Studie über die wissenschaftliche Beratung in der Politik durch. Seine beiden Thesen lauten:
- „Die wissenschaftliche Beratung gewinnt innerhalb des politisch-administrativen Raumes selbst eine politische Funktion, die im wesentlichen von den Zielen und Interessen der Ministerialbürokratie bestimmt wird.“ Für meine Fragestellung wäre „Ministerialbürokratie“ zu ersetzen mit „Politik und Öffentlichkeit“.
- „Dadurch, dass die Wissenschaften in der politischen Praxis tätig werden, entwickeln sie eigene Interessen und bestimmen teils manifest, teils latent den Inhalt der politischen Entwicklung.“ (26)
Friedrich kann beide Thesen belegen, gibt der ersteren jedoch auf Grundlage der damaligen Situation das größere Gewicht. In der erweiterten Perspektive der transdisziplinären Forschung muss die Bedeutung der zweiten These gegenüber der ersten wachsen. So fordert es auch sein wissenschaftspolitisches Programm: „Angesichts der bisherigen passiven Rolle der Wissenschaft gegenüber der Politik und angesichts der sich abzeichnenden Tendenz der stärkeren Integration der Wissenschaft in den Kontext der Regierungs- und Verwaltungsziele wäre es notwendig, dass die Wissenschaftler ein größeres Engagement gegenüber den Problemen der gesellschaftlichen Praxis entfalten. Dies würde einmal bedeuten, dass die Problemstellungen der Praxis stärker in der Forschung berücksichtigt würden, um eher imstande zu sein, Lösungsvorschläge und Konzeptionen zu entwickeln. Zum anderen könnte der Beitrag der Wissenschaften zur Politik darin bestehen, dass sie selbsttätig und nicht erst auf Antrag AnaIysen und Empfehlungen zu anstehenden Problemen erarbeiten.“ (27) Friedrich setzt zwar bei den Ministerialbehörden an, doch kann sein Programm auch gegenüber Politik und Öffentlichkeit überhaupt gelten, mit beispielsweise Industriebetrieben, Gewerkschaften, Bürgerinitiativen oder Parteien als Ansprechpartner. Friedrich geht eigentlich weiter als die neuesten Ansätze der Nachhaltigkeitsforschung und der Transdisziplinarität, die folgende Selbstdefinition anbieten: „Der für die Transdisziplinarität spezifische Aspekt eines wissenschaftsübergreifenden Problems ist also dann gegeben, wenn dieses Problem a) im außerwissenschaftlichen Bereich (Ökonomie, Politik, Lebenswelt) entstanden ist, b) dort auch seine Lösung als dringlich empfunden wird, c) es deshalb von der Öffentlichkeit als relevant eingestuft wird und d) über
institutionelle Wege (Forschungsaufträge, Projektfinanzierung) an die Wissenschaft herangetragen wird.“ (28)
Die Themensetzung aller hier vorgestellten Autoren liegt fast ausnahmslos in den Bereichen Umwelt und Technikfolgen, Bereiche, die als gesellschaftlich äußerst relevant und reflexiv angesehen werden, wissenschaftspopulär ausgedrückt, die „Risikogesellschaft“ konstituieren. Ich bin jedoch überzeugt, dass weitere Themen folgen werden. (29) Die transdisziplinäre Forschungskonzeption liefert Ergebnisse, die bezüglich ihrer Bewährungsfähigkeit keine Wünsche
offen lassen. Sie birgt aber eine Problematik, die in den Verwertungsbedingungen der Ergebnisse gründet: Forscher in ihrer faktischen und erklärten Interdependenz prüfen und entwickeln Hypothesen, die den Verwertungsbedingungen entsprechen, müssen also Hypothesen ausblenden, die außerhalb der Interessenkonfiguration stehen und deshalb nicht legitimierbar sind. Sätze, die in diesem Kontext „nicht brauchbar“ sind, können und dürfen auch nicht geprüft werden. Da sich die Forscher im steten Austausch mit den „Abnehmern“ ihrer Ergebnisse befinden, bedeutet dies auch im Forschungsprozess selbst eine schwer erträgliche Schwächung des Falsifikationsprinzips. Dass diese Forschungskonzeption die Weberschen und Parsonschen Forderungen nach wissenschaftspolitischer Wertfreiheit verneint, scheint nicht sonderlich problematisch, hermeneutische und dialektische Forschungsrichtungen haben schon vorher auf sie verzichtet. Sind jedoch auch Rückwirkungen auf die Wahl und Anwendung der Instrumente und Methoden zu erwarten, besteht die Gefahr, dass die Forschungsergebnisse sich zwar bewähren können, aber nicht mehr prüfbar sind.
Im schlechtesten Falle könnte die Wissenschaft an die direkten Verwertungsbedürfnisse ausgeliefert werden, was der späte Gadamer angesichts der laufenden Transformation der Universitäten befürchtete. (30)
Gegen eine solche Vereinnahmung durch gesellschaftliche Verwertungsinteressen wendet sich auch Staab: „Wenn andererseits gefordert wird, den ‘bestehenden Dualismus zwischen Industrie und Hochschule’ aufzuheben, dann halte ich dies für unrealistisch und nicht erstrebenswert; denn unbestreitbar haben Wissenschaft und Wirtschaft unterschiedliche Interessen. […] Die Motive unterscheiden sich: Die akademische Forschung ist auf Gewinnung neuer Einsichten gerichtet; sie ist ein Weg in unbekannte Territorien, dessen Ziel zunächst nicht klar erkennbar ist.“ (31)
- Ausgewählte Beispiele für die Reflexivität der Perzeption von Forschungsergebnissen und das Objektivitätsparadigma
Mein erstes Beispiel für Reflexivität sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse stammt aus der Sozialepidemiologie von AIDS. In den achtziger Jahren zeigten die Erkrankungsdaten im Zeitverlauf einen exponentiellen Anstieg. Wir korrigierten und validierten die Daten nach allen Regeln der epidemiologischen Kunst und stellten fest, dass eine logistische Wachstumsfunktion, die im Gegensatz zur exponentiellen Funktion eine Sättigungsgrenze beziehungsweise den Höhepunkt der Epidemie abschätzen lässt, genauso gut angepasst werden konnte. Die Entscheidung des deutschen Gesundheitsamtes, für die öffentliche Diskussion die logistische Funktion der exponentiellen vorzuziehen, war bestimmt durch das Bedürfnis, der öffentlichen Diskussion ihre apokalyptische Schärfe zu nehmen, ganz im Gegensatz zu Interessen von Moralunternehmern und Versicherungsmathematikern, die sich für ihre Unternehmen satte Prämiensteigerungen versprachen. (32) In der Schweiz war die Datenlage die selbe.
Das Gesundheitsamt wählte aber die exponentielle Interpretation, da es der Ansicht war, dies würde seine Präventionsbemühungen stützen. Unerwünscht war die Formulierung und vor allem die Publizierung von Hypothesen über die zentrale Rolle der sogenannten „Risikogruppen‘. Verwertungsinteressen intervenierten in den Forschungsprozess, da eine geprüfte Hypothese, die der zentralen Erfordernis der Verwertbarkeit widerspricht, nicht legitimiert werden kann. (33) Sie konnte in diesem Fall nicht legitimiert werden, weil sich die Präventionsbemühungen auf das Risiko der allgemeinen heterosexuellen Bevölkerung richtete und die Gefahr weiterer Ausgrenzungen der sogenannten „Risikogruppen“ gesehen wurde.
Das zweite Beispiel bezieht sich auf die Auseinandersetzung mit dem Rinderwahn, BSE. Schon in den achtziger Jahren bestand der Verdacht, dass diese Rinderseuche dem Menschen gefährlich werden könnte. Die englische Gesundheitsbehörde stoppte 1991, nach dem Auftreten von Todesfällen mit Verdacht auf Übertragung von Rind auf Mensch, sämtlichen wissenschaftlichen Austausch mit ausländischen Gesundheitsbehörden auf Druck der Ökonomie und des Landwirtschaftsministeriums und damit den Zugang zu entscheidungsnotwendigen Daten für ausländische Wissenschaftler. Bald darauf zeigten Experimente die Übertragbarkeit vom Rind auf den Hamster und das Schwein. In der Schweiz wurden diese Resultate von den wissenschaftlichen Gesundheitsbehörden per Pressemitteilung mit dem Satz kommuniziert, es sei nicht bewiesen, dass der Erreger auf den Menschen übertragbar sei, ein wahrer Satz angesichts der Unzulässigkeit, einen Menschen experimentell zu infizieren. (34)
Das letzte Beispiel bezieht sich auf die Veröffentlichung des sogenannten Bergier-Berichts in der Schweiz, der im Auftrag des Bundesrates die Rolle der Schweiz im zweiten Weltkrieg, insbesondere das Verhältnis zum Deutschen Reich analysieren sollte. Der Bericht wirft ein teilweise nicht sehr günstiges Licht auf die Schweizer Behörden, nimmt aber auch die Beschreibung der Situation und des politischen Drucks mit auf, der auf der vom faschistischen Europa umschlossenen Schweiz lastete. Von konservativer Seite und von Seiten kriegsmobilisierter Veteranen wurde der Bericht heftig kritisiert, immer mit dem selben Argument: er sei nicht objektiv, weil er die Perspektiven der Beteiligten nicht berücksichtige, sondern sich nur auf Dokumente abstütze. Objektivität wurde gleichgesetzt mit der Aufnahme der eigenen Perspektive. Die Kritik mangelnder Objektivität bedeutet nichts anderes, als dass die Perspektive der Kritiker nicht der Perspektive der Produzenten des Forschungsergebnisses entspricht. Das ist die deutlichste Ausformung des Objektivitätsparadigmas.
- Agenda Setting, Agenda Building und Interessenkritik als Lösungsvorschlag für das Objektivitätsparadigma
Der sozialwissenschaftliche Forschungsprozess und die Forschungsergebnisse müssen, um sich bewähren zu können, und das ist ihr Zweck, in Öffentlichkeit und Politik zu Agenda werden. Popper verortet die Bewohner seiner dritten Welt in Büchern, Bibliotheken, Datensammlungen und dergleichen. Die Bedeutung der massenmedialen Vermittlung dieser Bewohner, die Bedeutung der Medien für ihre Bewährungsfähigkeit, die Rolle der Produkte der Wissenschaftsjournalisten in Presse, Rundfunk und Fernsehen beispielsweise hat keiner der hier diskutierten Autoren erwähnt. Die Reflexivität bezieht sich nämlich nicht nur auf die Diskussion und die Wirkung der Ergebnisse in Politik und Öffentlichkeit, sondern auch auf die Art und Weise der medialen Aufarbeitung. Es ist wesentlich für den Forschungsprozess, das mediale Interesse zu reflektieren, da sich die heutige Zeit bezüglich der Bedeutung der massenmedial vermittelten gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit wesentlich von der nahen Vergangenheit unterscheidet. Film und Radio stehen zwar schon eine Weile neben den Zeitungen und Zeitschriften, Fernsehen und Internet haben die gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit nun definitiv revolutioniert.
Erfolgreich gestaltete Agenda kennzeichnen sich erstens durch eine möglichst ambigue Definition, zweitens durch die Betonung weitreichender sozialer Konsequenzen und drittens durch die Darstellung als einfaches Problem. (35)
Für die wissenschaftliche Tätigkeit umformuliert, entspricht die ambigue Definition der Forschungsfragestellung als Formulierung eines bestimmten Nicht-Wissens selbst. Der zweite Punkt entspricht der wissenschaftlichen Forderung nach Relevanz des sozialwissenschaftlichen Forschungsergebnisses, das nur dann bewährungsfähig ist, wenn es rezipiert wird, also soziale Konsequenz intendiert. Der dritte Punkt, die Darstellung als einfaches Problem, widerstrebt dem Selbstverständnis vieler Wissenschaftler, für welche die Bearbeitung „einfacher Probleme“ eine Unterforderung und Abwertung bedeuten könnte. Anderseits ist jede „Lösung“ einer Forschungsfrage einfacher als die vorausgehende Fragestellung, die Synthese einfacher als die Kontradiktion von These und Antithese. Das Bemühen um einfache Darstellung, um Datenreduktion, um Reduktion von Komplexität, um „elegante“ Lösungen, um Anschaulichkeit sind darüber hinaus zentrale Aufgaben des Forschungsprozesses und der Formulierung der Ergebnisse. Somit birgt die sozialwissenschaftliche Forschung die Bedingungen für die Bewährung ihrer Ergebnisse bereits in sich, wie auch die sozialwissenschaftliche Forschung ihren Gegenstand, nämlich Gesellschaft, in sich birgt.
Als Konsequenz für die sozialwissenschaftliche Forschung ergeben sich drei Forderungen:
- Die klare Definition und Offenlegung der Interessen von Forscher und Auftraggeber, um diese kritisierbar zu machen.
- Die eingehende Diskussion der verwendeten Instrumente und Verfahren.
- Die klare Ansprache der Rezipienten, was eine Themendefinition mit Blick auf gesellschaftliche Interessen bedingt.
Ich schlage für eine diesen Prinzipien folgende, also handlungsorientierte Forschungsrichtung, die Motivation und Interessen sämtlicher Beteiligten einschließt und der Kritik aussetzt, den Begriff der intentionalen Forschung vor. Der Gefahr einer unerwünschten Heteronomie der Wissenschaft kann und muss mit radikaler Konzentration auf das Gegenständliche und mit gründlicher Methodenkritik begegnet werden.
Kurt Lewin sieht das Gegenständliche als das Moment der Geschlossenheit einer Wissenschaft: „Das Fehlen der erkenntnistheoretischen, methodischen und logisch-formalen Einheitlichkeit innerhalb jeder einzelnen Wissenschaft ließ den Schluss auf das Gegenständliche als die eigentliche Quelle von Einheit und Vielfalt der Wissenschaften zu. Die Schwierigkeiten der positivistischen Auffassung betrafen […] nur das Gegenstandsmaterial, aber nicht die Gegenstände als Wissenschaftsobjekte, d.h. als sachlichen Gehalt von Sätzen eines Lehrgefüges. Nur in diesem ist Einheit und Vielheit der Wissenschaften zu suchen.“ (36)
In diesem Zusammenhang muss eigentlich die Forderung nach Werturteilsfreiheit aufgegeben werden, und man kann darauf auch ohne Schaden verzichten, wenn die Kritik den Forschungsprozess selber umfasst. „Max Webers Beharren auf der Werturteilsfreiheit war der Versuch, die Sozialwissenschaften aus den politischen und moralischen Überzeugungssystemen der Zeitkultur und der politischen Ordnung zu lösen. Die beständige Debatte über die
Werturteilsfreiheit zeigt, dass dafür rein methodologische Argumente nicht ausreichen. Es muss die strukturelle Situation mit in Betracht gezogen werden, die Konstellationen unter denen Soziologie sich professionell ausdifferenzieren kann. Dazu gehören ein Verständnis der komplexen Beziehungen zwischen Binnenlegitimation und Außenlegitimation, der Schwierigkeiten, soziologische Erkenntnisobjekte aus den allgemein zugänglichen Erfahrungszusammenhängen zu lösen, und die Akzeptanz des Umstandes, dass soziologische Forschungsergebnisse immer – ob vom Forscher beabsichtigt oder nicht – einen Bezug zu den herrschenden, moralischen und politischen Überzeugungssystemen haben.“ (37)
Gefordert ist eine Öffnung der Wissenschaft oder mit Wolf Lepenies zu sprechen: „Es geht nicht darum, Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft sauber voneinander zu trennen. Es geht darum, die Aufklärung über Wissenschaft zum Bestandteil des Wissenserwerbs selbst zu machen.“ (38)
Fussnoten und Literatur
(1) Dies ist sie mangels eines außerhalb ihrer selbst liegenden Bezugspunktes in einer anderen Form als
beispielsweise die Mathematik als reine, axiomatisch gegründete Wissenschaft oder die Theologie als
transzendent gegründete Wissenschaft, welche – das ist eine tautologische Aussage – in der Gesellschaft wirken.
(2) Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung von Erkenntnisgewinn: Zur Genese von Wissenschaft, in Son-
derheft 22/1980 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Wissenssoziologie, hgg.
von Nico Stehr und Volker Meja, S. 104.
(3) Hartwig Berger, Untersuchungsmethode und soziale Wirklichkeit. Eine Kritik an Interview und
Einstellungsmessung in der Sozialforschung, Frankfurt/M 1980, S. 37.
(4) Aaron V. Cicourel, Method and Measurement in Sociology, London 1964.
(5) Harold Garfinkel, Studies in Ethnomethodology, Prentice Hall 1967.
(6) Ludwig Wittgenstein, Philosophische Untersuchungen, Frankfurt/M 1967.
(7) Karl R. Popper, Objektive Erkenntnis. Ein evolutionärer Entwurf, Hamburg 1973, $. 206. (Objective
Knowledge, Oxford 1972).
(8) Sozialwissenschaftler ‚schielen‘ sozusagen während der Analyse immer auch auf das mögliche Resul-
tat, ähnlich wie Juristen, wenn sie subsumieren. Vgl. dazu Josef Estermann, Kriminelle Karrieren von
Gefängnisinsassen. Eine empirische Untersuchung, Diss. iur. Freiburg/Ue, Bern u.a. 1986, Anhang 2,
S. 117-134.
(9) Karl R. Popper, Logik der Forschung, Tübingen 1966 (2. Auflage, durchgesehen und erweitert durch die
Ergänzungen der englischen Ausgabe), S. 198ff. (1. Auflage Wien 1935, The Logic of Scientific Disco-
very, London 1959), später expliziert in ders., Objektive Erkenntnis, Hamburg 1973, S. 30-33, S. 97, S.
119 ua..
(10) Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.0. S. 123f.
(11) Popper, Objektive Erkenntnis, a.a.0. S. 175f.
(12) Jürgen Habermas, Gegen einen positivistisch halbierten Realismus, in Adomo u.a., Der Positivismus-
streit in der deutschen Soziologie, Neuwied und Berlin, 1969, S. 260f, nachgedruckt in Jürgen Haber-
mas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 1985, S. 45-76.
(13) Theodor W. Adorno, Einleitung, in Adorno u.a., a.a.0., $.43.
(14) Peter L. Berger und Thomas Luckmann, Die gesellschaftiche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theo-
rie der Wissenssoziologie, Frankfurt/M 1980, S. 20 (The Social Construction of Reality, New York
196).
(15) Berger/Luckmann, a.a.0. S. 159f.
(16) Erwin Schrödinger, Geist und Materie, Braunschweig 1959, S. 38.
(17) Richard Rorty, Relativismus: Entdecken und Erfinden, in: Information Philosophie, 1/1997, S. 18.
(18) Georg Henrik von Wright, Practical Reason, Ithaca 1983, S. 17, S. 130ff; ders., Handlung, Norm und
Intention. Untersuchungen zur deontischen Logik, Berlin und New York 1977, S. 60.
(19) Karl-Werner-Brand, Nachhaltigkeitsforschung – Besonderheiten, Probleme und Erfordernisse eines
neuen Forschungstypus, in ders. (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung und Transdisziplinarität, Berlin 2000.
(20) Karl-Werner Brand, a.a.0., S. 14f.
(21) Karl-Werner Brand, a.a.0., S. 16.
(22) Adalbert Evers, Helga Nowotny, Über den Umgang mit Unsicherheit. Die Entdeckung der Gestaltbarkeit
von Gesellschaft, Frankfurt/M 1987, S. 86.
(23) Wolfgang van den Daele, Wolfgang Krohn, Peter Weingart (Hg.), Geplante Forschung. Vergleichende
Studien über den Einfluss politischer Programme auf die Wissenschaftsentwicklung, Frankfurt /M 1979.
(24) Van den Daele et al., a.a.0. S. 12.
(25) Van den Daele et al., a.a.0. S. 17.
(26) Hannes Friedrich, Staatliche Verwaltung und Wissenschaft. Die wissenschaftliche Beratung der Politik
aus Sicht der Ministerialbürokratie, Frankfurt/M 1970, S. 28
(27) Hannes Friedrich, a.a.0, S. 455.
(28) Philipp W. Balsiger, Rudolf Kötter, Transdisziplinäre Forschung – Fallbeispiel SPP „Umwelt“, in Karl-
Werner-Brand, Nachhaltigkeitsforschung – Besonderheiten, Probleme und Erfordernisse eines neuen
Forschungstypus, in ders. (Hrsg.), Nachhaltige Entwicklung und Transdisziplinarität, Berlin 2000, S.
188.
(29) Bereits in den Startlöchern stehen die Gesundheitsforschung und sozialstaatliche Themen.
(30) Hans-Georg Gadamer, Gedanken zur Wissenschaft, in G. Schettler u.a., Wissenschaft – Wirtschaft –
Öffentlichkeit, Berlin u.a. 1992, S. 11-17.
(31) HA. Staab, Die Situation der Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in G. Schettler u.a.,
Wissenschaft – Wirtschaft – Öffentlichkeit. Berlin u.a.. 1992. S. 22.
(32) Josef Estermann, J-M. Sulliger, H. Skarabis, Epidemiologie der HIV-Infektion in der Bundesrepublik
Deutschland – der Beitrag der amtlichen Erfassungssysteme, der anonymen Teststellen und des
Blutspenderscreenings, Das Gesundheitswesen, 1992 (54), S. 122-126.
Josef Estermann, Rita Bunikowski, Die Inzidenz von AIDS im Zeitverlauf — epidemiologische Entwick-
lung in einzelnen Gruppen mit erhöhtem Risiko für eine HIV-Infektion, Das öffentliche Gesundheitswe-
sen, 1990 (52), S. 213-220.
(33) Josef Estermann, M. Gebhardt, J. Paget, Die heterosexuelle Transmission von HIV und AIDS in der
Schweiz, AIDS-Forschung (AIFO) 10/1992, S. 517-522.
(34) Siehe die ausführliche Analyse hierzu: Josef Estermann, Epidemien und Gesundheitspolitik. Staatliche
Institutionen des öffentlichen Gesundheitswesen gestalten ihren Gegenstand, in Maeder u.a., Gesund-
heit, Medizin und Gesellschaft, Zürich 1999, $. 149-152.
(35) Roger W. Cobb, Charles D. Elder, Participation in American Politics. The Dynamics of Agenda Building,
Baltimore, 1983; Wolfgang Eichhorn, Agenda-Stetting-Prozesse, München 1996.
(36) Kurt Lewin, Werkausgabe, Band 2, Bern und Stuttgart 1983, S. 403.
(37) Mario Rainer Lepsius, Interessen, Ideen und Institutionen, Opladen 1990, S. 298.
(38) Wolf Lepenies, Gefährliche Wahlverwandtschaften. Essays zur Wissenschaftsgeschichte, Stuttgart
1989, S. 159.