Sozialepidemiologie des Drogenkonsums – Fragestellung Herrmann

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ProLitteris

Fragestellung, Vorgehensweise und Begriffsbestimmung
von Ute Herrmann und Josef Estermann


Im Massnahmenpaket zur Bekämpfung des Drogenkonsums hat sich die Schweizer Regierung 1991 zum Ziel gesetzt, durch geeignete Vorkehrungen die Zahl der Konsumierenden von illegalen Drogen in einem ersten Schritt zu stabilisieren und in einem zweiten deutlich zu senken. Erfolg oder Misserfolg dieser Drogenpolitik lässt sich sowohl an der Veränderung der Lebensqualität wie auch an der Zu- oder Abnahme des betroffenen Personenkreises ablesen. Die zentralen Parameter sind die Zahl der neuen Drogenkonsumierenden pro Zeiteinheit (Inzidenz) und die Zahl von Personen, die aus dem Kreis der Betroffenen pro Zeiteinheit ausscheiden (Remission oder Tod). Die Grundlage zur Beurteilung gesellschaftspolitischer Massnahmen auf dem Gebiet harter, illegaler Drogen besteht daher in de Gruppengrössenschätzung zu verschiedenen Zeitpunkten. Heroin und Kokain werden allgemein aufgrund ihres hohen Suchtpotential als „harte“ Drogen bezeichnet. Ihre Illegalität unterscheidet sie von den ebenfalls in hohem Masse suchtbildenden Drogen Nikotin und Alkohol. Es gab zu Beginn der neunziger Jahre keine präzisen Vorstellungen oder valide wissenschaftliche Erkenntnisse über die Zahl der Konsumierenden, also über die Gruppengrösse. Solche Vorstellungen sind mittels einer Beschreibung der verschiedenen Kompartimente der Drogenkonsumierenden und einer Parametrisierung der Überlappungen zu gewinnen. In diesem Zusammenhang lässt sich dann ihre Zahl erst näher beleuchten. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass weder eine Verdrängung der Drogenkonsumierenden aus dem „öffentliche Blickfeld“ noch eine Veränderung der Drogentoten oder der Verurteilungen aufgrund von Drogendelikten, für sich alleine genommen gültige Indikatoren für die Veränderung der Zahl der Konsumierenden darstellen. Die vorliegende Untersuchung kombiniert daher unterschiedliche Informationsquellen, so dass ein möglichst differenzierte, präzises Bild der Prävalenz drogenkonsumierender Personen in der Schweiz entsteht.

Dazu gehört insbesondere auch Material über diejenigen Heroin und Kokain konsumierenden Personen, die ihren Konsum sozial unauffällig gestalten. Anhand von biografischen Daten wird beschrieben, welche Faktoren diese von den repressiv Erfassten unterscheiden. Dadurch soll der Einfluss von soziodemografischen, sozialen und individuellen Bedingungen auf den Karriereverlauf gezeigt werden. Bislang haben sich alle Versuche der Gruppengrössenschätzung von Drogenkonsumierenden auf sozial auffällige Populationen beschränkt. Diese Studie unternimmt den Versuch, die Gruppe sozial integrierter Drogenkonsumierender soweit als möglich in die Schätzungen einzubeziehen.

Auf der Basis der Verbindung von Massendaten mit qualitativen Materialien soll hier eine möglichst zuverlässige Schätzung der Gruppengrösse Heroin und Kokain konsumierender Personen in der Schweiz innerhalb enger Vertrauensbereiche als sozialepidemiologische Grundinformation gewonnen werden. Die Situation Heroin und Kokain Konsumierender ähnelt sich insofern, dass zwar Heroin und Kokain nicht im gleichen Masse eine körperliche Toleranzentwicklung hervorrufen – diese liegt in erster Linie beim Konsum von Heroin vor – dass jedoch beide Drogen ein hohes Suchtpotential eigen ist, das unter den Bedingungen von Prohibition und Repression häufig zu physischer und psychischer Deprivation und sozialer Auffälligkeit führt. Beide Drogen werden häufig intravenös injiziert, eine Applikationsform, die für die Übertragung von HIV und Hepatitisviren relevant ist. Die Konsumierenden von Cannabisprodukten allein sind hier nicht berücksichtigt, sofern sie nicht gleichzeitig andere Substanzen intravenös konsumieren. Zwar ist etwa Haschisch ebenfalls eine illegale Droge, ihr Genuss wirkt jedoch kaum so suchtbildend. Darüber hinaus sind in den letzten Jahren in der Schweiz beachtliche Schritte in Richtung der Legalisierung des Gebrauchs von Cannabisprodukten gemacht worden. Die Droge Nikotin hingegen verursacht in hohem Masse körperliche Abhängigkeit und ist überdies sehr gesundheitsschädigend. Dies gilt auch für Alkohol, dessen Konsum darüber hinaus oft markantes soziales Fehlverhalten nach sich zieht. Durch die gesellschaftliche Integration dieser Drogen führt der Konsum seltener zu Verelendung und sozialer Auffälligkeit.

Im Zentrum stehen Erkenntnisse über die Veränderung der Gruppengrössen im Zeitverlauf, die Schätzung von Prävalenz, Inzidenz, Remission und Mortalität, die Dauer und Art der Karrieren Konsumierender und den Einfluss von Geschlecht, Alter und sozialer Einbindung. Der qualitative Ansatz stützt sich auf biografische Interviews und fokussiert protektive Faktoren, die einen Abstieg in soziale Marginalisierung und sozialmedizinische Bedürftigkeit verhindern oder erschweren. Die Schätzung von Prävalenz, Inzidenz, Remission und Mortalität bietet die Möglichkeit, unterschiedliche Drogenpolitiken in ihrer Wirkung zu beschreiben und wissenschaftlich überprüfbar zu machen. Prävalenz bezeichnet hier den bevölkerungsrelativen Anteil von Heroin- oder Kokain konsumierenden Personen in einer bestimmten Zeiteinheit oder zu einem bestimmten Zeitpunkt. Sie wird hier errechnet durch Division der ermittelten Anzahl Konsumierender durch die Gesamtbevölkerung oder durch bestimmte Teile der Bevölkerung, z.b. für Geschlecht und Altersgruppen. Inzidenz bezeichnet das Auftreten von neuen Personen, Remission das Ausscheiden von Personen mit bestimmten Merkmalen in einer bestimmten Zeiteinheit. Inzidenz und Remission werden in asoluten Zahlen oder bevölkerungsrelativ ausgedrückt. Die Mortalität einer Population wird dargestellt durch die absolute Anzahl der Verstorbenen oder durch den Anteil der Verstorbenen in dieser Population. Die Begriffe Prävalenz, Inzidenz, Remission und Mortalität stammen aus der medizinischen Epidemiologie und werden hier in diesem Sinne verwendet.

Die Gruppengrössenschätzungen und die qualitativen Ergebnisse können die Basis für die Abwägung von Kosten und Nutzen im Repressionsbereich und im sozialtherapeutischen Sektor bilden, wobei insbesondere die Frage des Grenznutzens drogenpolitischer Massnahmen von Bedeutung ist. Sie können in Beziehung gesetzt werden zu Daten der Epidemiologie von Hepatitis und AIDS. Schon seit längerer Zeit sind die Hepatitisviren HAV, HBV und HCV in der Population Heroin und Kokain konsumierenden Personen weit verbreitet. In den Jahren 1983 bis 1987 drang HIV massiv in die Gruppe injizierender Drogenbenutzer ein. Die Gruppengrössenschätzungen, gekoppelt mit Erkenntnissen zu Prävalenz und zu Infektionswegen dieser Viruserkrankungen in der Population Drogenkonsumierender, bilden die Grundlage für die Beurteilung der Entwicklung dieser Epidemien.

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