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© ProLitteris, Josef Estermann
Anarchie, Herrschaft, Staat
Eine Auslegeordnung
Josef Estermann
Anarchie oder Anarchismus ist ein Begriff, welcher ideologisch belastet und von verschiedenen Seiten als negativ konnotierter Kampfbegriff verwendet wird. Insofern bedarf es einer inhaltlichen Klärung des Anarchismus in Bezug auf die dahinterliegenden Begriffe von Macht, Gewalt, Herrschaft und Staat und einer analytischen Trennung der Herrschaftsspäre von der Produktionssphäre. Hier steht der Versuch, aus klassischer anarcho-sozialistisch-syndikalistischer, aus marxistischer und aus moderner demokratisch-föderalistischer Perspektive eine Auslegeordnung auszubreiten.
a) Die Frage nach der Möglichkeit von Gesellschaft ohne Macht, Herrschaft und Staat
Die zur Tagung gestellte Frage zu dem anarchistischen Konzept von Gesellschaft ohne Herrschaft lässt sich nur dann adäquat bearbeiten, wenn wir eine Klärung der alltagssprachlichen und politisch ideologisierenden Verwendung der Begriffe „Anarchismus“, „Herrschaft“, „Macht“ und „Gewalt“ analysieren und (Vor)Urteile über „anarchistische“ Positionen versuchen. Dabei fokussiere ich nicht die anarchistischen Positionen des 19. Jahrhunderts, sondern die, sagen wir „moderneren“, nämlich die von Erich Mühsam in Auseinandersetzung mit den bolschewistischen und faschistischen Strömungen sowie die von Murray Bookchin in Auseinandersetzung mit dem sogenannten „spätkapitalistischen“ Gesellschaftssystem der bürgerlichen Demokratie vertretenen. Bookchin dient als Quelle für eine aktuelle politische anarchistische bzw. syndikalistische Position, da er sich im Gegensatz zu individualanarchistischen Ansätzen der Frage der Organisation von gesamtgesellschaftlicher Produktion und Ordnung stellt.
Schon im 19. Jahrhundert waren Marx und Engels auf der sozialrevolutionären Seite die Gegenspieler der „Anarchisten“ wie Kropotkin, Bakunin oder Proudhon. Die Textquellen, in denen Marx Bezug auf „Anarchie“ nimmt, erfolgen allerdings immer in Bezug auf die kapitalistische Produktionsform, welche durch Handlungen von anarchischen Individualkapitalisten vermittelt als anarchisches Wirtschaftssystem mit charakteristisch krisenhafter Entwicklungsform erscheint. Dies hat wenig mit dem Verständnis von Anarchie als herrschaftsfreie Gesellschaftsorganisation zu tun. Herrschaftsfreiheit ist aber nicht gleichbedeutend mit der Abwesenheit von Macht.1 Genau so wenig bedeutet sie die Abwesenheit von Gewalt, welche schon im Sinne einer Verteidigung zur Abwehr von fremder Gewalt notwendig erscheint. Betrachten wir die Webersche Definition von Herrschaft fällt auf, dass sich die Bestimmungsform in erster Linie auf individuelles Handeln, viel weniger auf die Verfasstheit des Gesellschaftsganzen und die ökonomischen Verhältnisse bezieht.
Der Staat ist, ebenso wie die ihm geschichtlich vorausgehenden politischen Verbände, ein auf das Mittel des legitimen (das heisst als legitim angesehenen) Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen über Menschen. Damit er bestehe, müssen sich also die beherrschten Menschen der beanspruchten Autorität der jeweils herrschenden fügen. Wann und warum tun sie das? Auf welche inneren Rechtfertigungsgründe und auf welche äusseren Mittel stützt sich diese Herrschaft? (Weber, 1919: 566)
Jeder Herrschaftsbetrieb, welcher kontinuierliche Verwaltung erheischt, braucht einerseits die Einstellung menschlichen Handelns auf den Gehorsam gegenüber jenen Herren, welche Träger der legitimen Gewalt zu sein beanspruchen, und andererseits, vermittels dieses Gehorsams, die Verfügung über diejenigen Sachgüter, welche gegebenenfalls zur Durchführung der physischen Gewaltanwendung erforderlich sind … (Weber, 1919: 568)
Dem Staat und dem gewaltunterlegten Herrschaftsbetrieb Webers setzt Mühsam die Freiheit gegenüber:
Anarchismus ist die Lehre von der Freiheit als Grundlage der menschlichen Gesellschaft. Anarchie, zu deutsch: ohne Herrschaft, ohne Obrigkeit, ohne Staat, bezeichnet somit den von den Anarchisten erstrebten Zustand der gesellschaftlichen Ordnung, nämlich die Freiheit jedes einzelnen durch die allgemeine Freiheit. (Mühsam, 1933: 255)
b) Mühsam und die Organisationsfrage
Mit dem Begriff des „Herrschaftsbetriebs“ kommen wir zum Kern der Problemlage: Macht und Gewalt. Die Quellen bei Mühsam lassen – für den im allgemeinen Diskurs verwendeten Bedeutungsinhalt von „Anarchie“ reichlich überraschend – nichts an Deutlichkeit über die Frage von Gewalt vermissen:
Wir Anarchisten verabscheuen eine Führerschaft mit Befehlsgewalt und auf Dauer gesicherter Wirksamkeit, also jede Staatsregierung, Beamtenschaft und Parteizentrale, jede Diktatur und jede Klüngelherrschaft. Aber wir leugnen weder die Nützlichkeit des Spielleiters im Theater noch des Vorsitzenden einer Versammlung oder des Kapitäns auf einem Schiff. Hier teilen persönliche Eigenschaften dem Geeigneten bestimmte Aufgaben in bestimmten Fällen zu. Im politischen Kampf und ebenso beim Aufruhr oder in der Abwehr bewaffneter Angriffe gilt dasselbe. Wie eine wandernde Herde dem Leittier folgt, das nicht gewählt ist, sondern voran geht, weil es sich die beste Witterung zutraut, aber ermüdet sogleich von jedem anderen Tier abgelöst werden kann, so verhält es sich bei den Menschen auch. Es gibt Wortführer, es gibt Rädelsführer, das sind Personen, denen gefolgt wird, weil sie am klarsten den Willen aller zum Ausdruck bringen oder am entschlossensten ans Werk des Handelns gehen. Führer ist, wer vormacht, nicht wer Gesetze gibt oder eine Gefolgschaft am Halfter hinter sich herzieht. (Mühsam, 1933: 279)
Stellt man sich die Befehlsgewalt, die Macht des Kapitäns auf seinem Schiff auf hoher See vor, muss hier die angebliche Ablehnung von Macht durch den sogenannten Anarchismus und seine unbestrittene Ablehnung von Herrschaft geklärt werden. Zwei Elemente führen zur Klärung: Die zeitliche Dauer der zugestandenen Machtausübung und ihre Bindung an die praktische Qualifikation. Die Machtausübenden sollen ihre Macht nicht auf Dauer halten können, die Macht ist gebunden an die andauernde Akzeptanz und sie ist bei fehlender Qualifikation, mitunter wohl auch bei ausbleibendem Erfolg, also etwa bei der Nichterreichung des Gemeinzweckes widerrufbar und sie darf nicht zur Erhaltung ihrer selbst eingesetzt werden, sie ist verliehen.
Weber und Mühsam scheinen sich einig zu sein, kontrovers ist einzig die Art und Weise der Institutionalisierung von Gewalt:
Wenn nur soziale Gebilde beständen, denen die Gewaltsamkeit als Mittel unbekannt wäre, dann würde der Begriff „Staat“ fortgefallen sein, dann wäre eingetreten, was man in diesem besonderen Sinne des Wortes als „Anarchie“ bezeichnen würde. (Weber, 1919: 565)
Nicht das Fehlen der Gewaltsamkeit lässt den Staat sich auflösen, sondern deren Bindung an die „auf Dauer gesicherte Wirksamkeit“ und an den „Klüngel“, so Mühsam gegen Weber.
Mühsam definiert als tragendes Moment den „von aussen“ wirkenden Zwang. Damit wird das Bestehen von normativen Ordnungen jeglicher Art nicht negiert.
Wer die Freiheit der Persönlichkeit zur Forderung aller Menschengemeinschaft erhebt, und wer umgekehrt die Freiheit der Gesellschaft gleichsetzt mit der Freiheit aller in ihr zur Gemeinschaft verbundenen Menschen, hat das Recht, sich Anarchist zu nennen. Wer dagegen glaubt, die Menschen um der gesellschaftlichen Ordnung willen oder die Gesellschaft um der vermeintlichen Freiheit der Menschen willen unter von außen wirkenden Zwang stellen zu dürfen, hat keinen Anspruch, als Anarchist anerkannt zu werden. (Mühsam, 1933: 255)
Abgelehnt wird Herrschaft als etwas auf Dauer Ausgerichtetes, durch die Beherrschten nicht ohne weiteres Modifizierbares. Ob die Herrschaft deo gratia verliehen ist oder ob senatus populusque oder irgend eine auf Dauer der Herrschaft ausgerichtete Wahl die Grundlage für die Legitimität der Herrschaft bildet, oder ob sie den abstrakten Willen einer herrschenden oder auch nur zur Herrschaft strebenden Klasse in der Form eines Direktoriums oder eines Zentralkomitees oder Generalsekretariats ausdrückt, oder ob sie im Hobbesschen Sinne durch einen auf Dauer durch Übereinkunft der sich der Gewalt unterwerfenden Individuen gesetzten Leviathan ausgeübt wird, oder ob sie auf einem Rousseauschen „contract social“ beruht, ist für deren Genese und Bestand nicht entscheidend. Entscheidend ist deren Widerrufbarkeit. Zum zweiten geht es nicht um Macht und Gewalt an sich, sondern wie gesagt um „von aussen“ wirkenden Zwang. „Aussen“ und „Innen“ führt Mühsam an der Stelle nicht aus, doch lässt sich mit Fug „Aussen“ als die herrschende Klasse gegenüber der Masse der Beherrschten und die fremde (imperiale) Herrschaft gegenüber eigener „kommunaler“, „syndikaler“ Organisationsform begreifen.
Damit sind zwei zentrale Fragestellungen angesprochen, nämlich die der Organisation und die der Ökonomie.
Organisation bedeutet Strukturierung von Entscheidungsprozessen. Diese werden durch Verfahren legitimiert. Die Entscheidungen der einfachen Mehrheit sind mängelbehaftet, weil sie immer eine unbefriedigte Minderheit hinterlassen. Bei knappen Ergebnissen herrscht der Zufall und bei deutlichen Ergebnissen stellt sich die Frage nach dem Minderheitenschutz. Anarchistische Positionen lehnen Mehrheitsentscheide ab und fordern das Ausdiskutieren bis zum Einvernehmen. Hauptproblem ist die Verfahrensökonomie. Anarchistische Positionen lehnen auch das in der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie gesetzte freie Mandat ab, welches den Mandatstragenden sich sozusagen nur seinem Gewissen (mitunter seiner Interessenlage) folgenden Verpflichtung, notfalls dem Fraktionszwang unterstellt. Demgegenüber soll das Mandat imperativ, also sowohl inhaltlich wie zeitlich dem Willen der Mandatierenden unterstellt sein. Das imperative Verhandlungsmandat, wie es sich auch in der Diplomatie immer handlungsleitend findet, ist inhaltlich genau definiert, eine Ausweitung oder Abänderung muss immer mit einer errneuerten Mandatierung legitimiert werden. Auch hier ist die Verfahrensökonomie das Hauptproblem. Die Kosten dieser Ineffizienz sind der Preis für den Aufbau der Gemeinschaft von Unten und die Sicherstellung der Kongruenz von Gemeinwohl und Wohl aller Einzelner:
Solche auf natürlichen Zusammenschluß der Teile zum Ganzen und auf die Kraft des Ganzen als Lebensquelle der Teile gestützte Vereinigung stellt die Organisationsform des Föderalismus dar im Gegensatz zum Zentralismus, der die künstliche Organisationsform der Macht und des Staates ist, wie sie der Kapitalismus bis zur restlosen Vernichtung der Persönlichkeit, der Gleichheit, der Selbstbestimmung, der Selbstverantwortung und der Gegenseitigkeitsbeziehung emporgezüchtet hat. Föderalismus verhält sich zu Zentralismus wie Organismus zu Mechanismus, das heißt wie Gewachsenes, Naturgewordenes, Wesenhaftes zu Geknetetem, Zusammengebasteltem, Nachgemachtem. Föderalismus ist Gemeinschaft der lebendigen Teile zum Gefüge eines lebendigen Ganzen, Zentralismus ist Aneinanderkettung der Teile zur willenlosen Lenkung durch ein unbeseeltes Triebwerk. Im Föderalismus wirkt die Übereinkunft der Individuen, ihren unterschiedlos auf den eigenen wie auf den Gesamtvorteil gerichteten Willen zur vernünftigen Herstellung des Bedarfs, zu seiner vernünftigen Verteilung und Verwendung und zur gerechten Gestaltung aller übrigen Lebensbeziehungen zu verbinden; im Zentralismus wirkt das von außen gegebene Gesetz der jeweiligen Macht, welche die Vorrichtungen zur Niederhaltung des Gemeinschaftswillens in den Händen hält. Der Föderalismus baut den Gemeinschaftskörper von unten auf, indem er die schaffenden Kräfte selber in unmittelbarer Verständigung die Maßnahmen treffen läßt, von denen das Wohl der Einzelnen und das Gemeinwohl abhängt und die die Bürgschaft gewähren, daß das Gemeinwohl das Wohl des Einzelnen in sich schließt. (Mühsam, 1933: 262, Hervorhebung JE)
Der nicht-föderale Staat ist an Gruppen- und andere Partialinteressen gebunden, welche die „Herrschaft“ als Mittel zur Durchsetzung des Eigeninteresses einsetzen. Der von anarchistischen Positionen abgelehnte Staat ist der Staat der Herrschenden, nicht die uns heute staatsförmig entgegentretenden Bereiche wie etwa die Sozialversicherungen oder die Regelung des Strassenverkehrs.
Vom Klassenstaat reden, heißt von hölzernem Holz reden. Staat ist nichts anderes, kann nichts anderes sein als zentralisierter Ausführungsdienst einer vom Volk gelösten Klasse zur Beherrschung des entrechteten und zur beherrschten Klasse erniedrigten Volkes. Das staatliche Verwaltungsverfahren teilt also die menschliche Gesellschaft in Gesellschaftsklassen, indem es Grund und Boden nebst den von Menschen geschaffenen Produktionsmitteln als Eigentum der bevorzugten Klasse schützt, die Zulassung zur Benutzung des Eigentums durch die fast die Gesamtheit umfassende Klasse der Besitzlosen nach den Grundsätzen der Unantastbarkeit des Eigentumvorrechts und der Wahrung des Charakters der Arbeitsleistung als Verdingung der Arbeitskraft regelt. Ausschließlich zu diesem Zweck ist der Staat geschaffen, niemals hat er einem andern Zweck gedient, niemals könnte er anderen Zwecken nutzbar werden. Nur wo Herrenrecht gegen Sklavenrecht steht, hat der Staat Sinn, findet er Aufgaben der Betätigung. Erst mit dem Entstehen persönlichen Eigentums zur Ausbeutung von Menschen konnte der Staat werden, ist er geworden. Mit der Entfaltung des Kapitalismus, der die materiellen Ausbeutungsgrundsätze der Eigentümer zum Mittelpunkt des gesamten Lebens der Menschen machte, vergrößerte und vergröberte der Staat beständig das Netz von Gesetzen, Aufsichts- und Zwangsmaßregeln, durch welche das Proletariat in der Hörigkeit der bevorrechtigten Klasse gehalten werden soll. Wieder aber sind es die marxistischen Sozialisten, welche nebst der materialistischen Weltbetrachtung auch die zentralistische Organisationsform, dieses eigentliche Wesensmerkmal des kapitalistischen Staates, als Grundriß für den Aufbau der vom Kapitalismus befreiten Gesellschaft übernehmen wollen. (Mühsam, 1933: 262f)
Es geht um den Staat als Agenten der die Ökonomie beherrschenden Gruppe, also als Agenten von Partialinteressen. Dem Staat wird abgesprochen, Agent von Gemeininteressen zu sein und dem Gemeinwohl zu dienen.
Ökonomie bedeutet zum einen die Entwicklung der Produktivkräfte, also den Stand und den Fortschritt der Modi der Güterproduktion, welche seit Jahren als industrialisierte und kybernetisierte globale Weltwirtschaft erscheint, mit eingesprengten, marginalisierten primitiveren Produktionsweisen. Zum andern unterliegt sie der Entscheidung über die Eigentumsverhältnisse an den Produktionsmitteln und über die Ausgestaltung, das Mass der mit diesem Eigentum verbundenen Entscheidungsfreiheit über dessen Verwendung und Einsatz. Sofern sich die (industriellen) Produktionsmittel in Eigentum und Verfügungsgewalt von privaten Individuen befinden, welche einer breiten Masse von Individuen ohne Eigentum an und Verfügungsgewalt über Produktionsmitteln gegenüber stehen, spricht man von einer Klassengesellschaft. Mühsam ist sich mit Marx, Engels, Lenin, Mao und anderen einig darüber, dass politische Gleichheit bei ökonomischer Ungleichheit bezüglich der Produktionsmittel nicht möglich ist. Allen gemeinsam ist das Ziel der Überwindung des Kapitalismus, also der Vergesellschaftung der Produktionsmittel:
Denn die Anarchisten übergeben ihre durchdachten und sorgfältig errechneten Vorschläge nicht irgendwelchen Regierungsstellen, sondern der selbstverantwortlichen Arbeiterklasse insgesamt, die selber alles prüfen, selber verbessern, selber die Ausführung überwachen muß durch diejenigen Organe, welche sie selbst ausschließlich für diesen Zweck bestimmt, ohne sie deswegen auch nur zeitweilig aus der tätigen Gemeinschaft aller zu entlassen. Diese Organe werden die soziale Triebkraft der Revolution bedeuten, sie werden von der Stunde des Sieges an Wirtschaft und Verwaltung des Gemeinwesens in den Händen führen, sie werden in der Zeit des Überganges und während der ganzen Entwicklung der sozialistischen Arbeits- und Gesellschaftsformen die Ordnung der Freiheit betreuen und verbürgen, sie werden die kommunistische Anarchie schaffen und in der anarchistischen Gemeinschaft die Träger der Föderation der Arbeits- und Menschheitsbünde bleiben. Diese Organe sind die freien Räte der Arbeiter und Bauern. (Mühsam, 1933: 290)
Ökonomie und Organisation verschränken sich in der Forderung nach der Nicht-Entlassung der Organe aus der tätigen Gemeinschaft aller: nötig ist ein Milizsystem in Exekutive und Legislative, wie es in der Schweiz selbst auf Bundesebene häufig zu finden ist. Weiter sollte dieses Milizsystem auch auf den gesellschaftlichen Bereich ausgedehnt werden, welchen Weber als „Herrschaftsapparat“ oder „Stab“ bezeichnet.
c) Marx und Engels – die Frage nach dem Eigentum an den Produktionsmitteln und die Anarchie der kapitalistischen Produktionsweise
Für Marx ist die kapitalistische Produktionsweise überhaupt anarchisch, und deren herrschende Protagonisten, die individuellen Kapitalisten, sind genuine Anarchisten, allerdings nur was ihre profitorientierten wirtschaftlichen Tätigkeiten, niemals aber, was ihr Wille zur Macht angeht. Die Macht, welche das Eigentum an Produktionsmitteln mit sich bringt, werden sie nicht freiwillig abgeben mögen.
Der erste Punkt bei Marxens Qualifikation der kapitalistischen Produktionsweise bezieht sich auf die gesellschaftliche Arbeitsteilung, die im Gegensatz zur despotischen betrieblichen Arbeitsteilung anarchisch sei. Mit anarchischer gesellschaftlicher Arbeitsteilung ist sowohl die im Hinblick auf die Masse der Gebrauchsgüter ungeplante, weil in erster Linie profitorientierte Produktionsweise, welche nur auf die Verkaufbarkeit der Güter fokussiert, als auch die ungeplante Allokation von unterschiedlichen Kompetenzen und von Macht gemeint.
Wenn die Anarchie der gesellschaftlichen und die Despotie der fakturmässigen Arbeitsteilung einander in der Gesellschaft der kapitalistischen Produktionsweise bedingen, bieten dagegen frühere Gesellschaftsformen … (MEW 23: 377)
Der zweite Punkt bezieht sich auf die Intensivierung der Arbeit und den Lohndruck, verursacht durch die zunehmende Entwicklung der Produktivkräfte, welche einer normativ-gesellschaftlichen Kontrolle nicht unterliegen, also anarchisch sind. Sie sind eine Ursache der periodischen und zwangsläufigen Wirtschaftskrisen bei Vorherrschen der kapitalistischen Produktionsweise.
Während sie [die Herrschaft des Kapitals] in den individuellen Werkstätten Gleichförmigkeit, Regelmässigkeit, Ordnung und Ökonomie erzwingt, vermehrt sie durch den ungeheuren Sporn, den Schranke und Regel des Arbeitstags der Technik aufdrücken, die Anarchie und Katastrophen der kapitalistischen Produktion im grossen und ganzen, die Intensität der Arbeit und die Konkurrenz der Maschinerie mit dem Arbeiter. (MEW 23: 526)
Der dritte Punkt bezieht sich auf die Konkurrenz der Produzierenden. Bieten sie gleichwertige Güter an, ist deren Verwertung gegenüber der Konkurrenz nicht eine Frage der Produktion von Gebrauchswerten, sondern eine Frage des Marketings. Investitionen in die Vermarktung eines Produkts haben keinen Einfluss auf dessen Gebrauchswert, es sei denn es handle sich etwa um eine Erhöhung des Genusses in Form von kulturell-theatralischen Werbedarbietungen, welche von den Konsumierenden geschätzt werden, oder beispielsweise eine Erhöhung des Selbstwertgefühls beim Konsum von bestimmten beworbenen Markenprodukten, eine kulturelle Differenz im bourdieuschen Sinne.
Während die kapitalistische Produktionsweise in jedem individuellen Geschäft Ökonomie erzwingt, erzeugt ihr anarchisches System der Konkurrenz die massloseste Verschwendung der gesellschaftlichen Produktionsmittel und Arbeitskräfte, nebst einer Unzahl jetzt unentbehrlicher, aber an und für sich überflüssiger Funktionen. (MEW 23: 552)
Der vierte Punkt bezieht sich auf die Bedeutung der Überproduktion in der kapitalistischen Produktionsweise. Während Überproduktion unter allen anderen gesellschaftlichen Bedingungen etwas Erfreuliches wäre, führt sie im Kapitalismus zu Krisen, weil die (über-)produzierten Güter häufig nicht mehr profitable Preise erzielen können und weil eine Verteilung der Überproduktion an die arbeitende Bevölkerung der Bereitschaft zu einer intensiven, einen langen Arbeitstag fordernden Lohnarbeit abträglich wäre, also den Preis der Arbeitskraft erhöhte. Beides führt zur Verminderung der Profitrate und schliesslich zur Krise, welche sich in Betriebsschliessungen und Arbeitslosigkeit äussert. Dies bezeichnet Marx als ein anarchisches Element der kapitalistischen Produktionsweise.
… Überproduktion ist gleich mit Kontrolle der Gesellschaft über die gegenständlichen Mittel ihrer eignen Reproduktion. Innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft aber ist sie ein anarchisches Element. (MEW 24: 465)
Es geht also insgesamt um das Fehlen von rationaler Planung der gesellschaftlichen Produktion in einer nur durch Profit getriebenen Produktionsweise.
Sobald der Anarchismus in seiner politischen Dimension sich der Abschaffung der kapitalistischen Produktionsweise und der Planung der materiellen Produktion jenseits der Notwendigkeit von Profit widmet, gibt es keine notwendigen marxistischen Gegenpositionen gegen den Anarchismus mehr. Ganz abgesehen davon, dass Marxens eschatologisch inspirierte klassenlose Gesellschaft sich kaum von den Vorstellungen eines anarcho-syndikalistisch-kommunitaristischen Gemeinwesens unterscheidet.
Und daraus folgt dann eine abergläubische Verehrung des Staates und alles dessen, was mit dem Staat zusammenhängt, und die sich um so leichter einstellt, als man sich von Kindesbeinen daran gewöhnt hat, sich einzubilden,die der ganzen Gesellschaft gemeinsamen Geschäfte und Interessen können nicht anders besorgt werden, als wie sie vorher besorgt worden sind, nämlich durch den Staat und seine wohlbestallten Behörden. Und man glaubt schon einen ganz gewaltig kühnen Schritt getan zu haben, wenn man sich frei gemacht vom Glauben an die erbliche Monarchie und auf die demokratische Republik schwört. In Wirklichkeit aber ist der Staat nichts als eine Maschine zur Unterdrückung einer Klasse durch die andere, und zwar in der demokratischen Republik nicht minder als in der Monarchie; und im besten Fall ein Übel, das dem im Kampf um die Klassenherrschaft siegreichen Proletariat vererbt wir und dessen schlimmste Seiten es (…) möglichst zu beschneiden, bis ein (…) Geschlecht imstande sein wird, den ganzen Staatsplunder von sich abzutun. (Engels, 1971: 78f)
Es ist die Staatsfrage, weniger die Machtfrage, welche die Anarchistin von der Bolschewistin oder Leninistin einerseits und von der bürgerlichen Demokratin oder Republikanerin andererseits trennt. Während der Bolschewismus oder der Marxismus/Leninismus oder auch trotzkistische Positionen der vierten Internationalen der Übernahme der Staatsstruktur zur Überwindung des Kapitalismus das Wort reden und den Staat frühestens nach der Einführung der klassenlosen Gesellschaft abzuschaffen gedenken, sehen bürgerliche Positionen den Staat in erster Linie als Garanten für die Aufrechterhaltung der herrschenden, nach Marx profitgetriebenen und damit anarchischen Produktionsweise und überlassen diesen eben deshalb keinesfalls einer bolschewistischen Position, welche den Staat als Instrument zur Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise einsetzen will. Noch eher würde eine neoliberale Position der von anarchistischen Positionen erwünschten Zerschlagung des Staates zustimmen. Tatsächlich optieren zur Zeit rechtsbürgerliche und nationalistische Parteien (z.B. SVP in der Schweiz, AfD in Deutschland, Front National in Frankreich) für die Schwächung des Staates, sozialdemokratische Positionen hingegen für dessen Stärkung. Die historisch belegte Option des Bürgertums zu Gunsten einer faschistischen Usurpation des Staates zur Bewältigung von Klassenauseinandersetzungen mit der dem Faschismus eigenen korporativistisch inspirierter Aufrechterhaltung der kapitalistischen Produktionsweise erscheint allerdings als Option mit höherer Eintrittswahrscheinlichkeit – historisch und zukunftsbezogen.
d) Auf dem Weg von der Pariser Commune nach Rojava. Die historische Dimension und ihre rechtssoziologische Relevanz
Zwar sind die theoretischen Grundlagen des Anarchismus im 19. Jahrhundert entwickelt worden, was aber die realen Ausprägungen einer möglichen grösserräumigen Gesellschaftsorganisation anarchistischer (Mit-)Prägung angeht, sind solche erst seit dem 20. Jahrhundert zu beobachten2. Zu nennen sind die Münchner Räterepublik3, die Spanische Republik der dreissiger Jahre oder aktuell Rojava (Nordsyrien)4. Sofern der Anarchismus eine grösserräumige Gesellschaftsorganisation anstrebt und jemand dem Anarchismus nicht nur in der Privatwohnung, der Wohngemeinschaft oder dem einschlägigen Strassenzug fröhnen möchte, bedarf es der Organisation von weitreichenden gesellschaftlichen Entscheidungen. Weitreichend in zeitlicher, räumlicher und inhaltlicher Dimension, inhaltlich in normativer, produktiver oder reproduktiver Hinsicht. Neoliberale antietatistische Vorstellungen würden diesen Organisationsbedarf zur Erledigung neben dem wo auch immer verorteten Marktplatz, den Handelskammern und der Börsenaufsicht zuweisen. Marxens Feststellung der Anarchie der gesamtgesellschaftlichen kapitalistischen Produktionsweise verweist mit einiger Berechtigung auf eine gewisse Verwandtschaft von Anarchismus und Liberalismus. Dies betrifft nicht nur individualanarchistische Positionen, welche in der hier vorgestellten Auslegeordnung sowieso unbeachtet bleiben, da diese sich den Herausforderungen der seit vielen Jahren herrschenden komplexen industriellen Produktionsweise nicht stellen.
Wir müssen bei der Betrachtung des Anarchismus und seines scheinbaren Widerspruchs zu marxistischen Positionen eine klare analytische Trennung von Produktionssphäre und Herrschaftssphäre vornehmen. Während die Produktionssphäre durchaus strukturiert und entlang der Entwicklung der Produktivkräfte und des Beitrags jedes einzelnen zum Gesamtwohl einer Hierarchie, einem Prinzip, einer „Archae“ unterworfen ist, soll die Herrschaftssphäre befristet, eingeschränkt, widerrufbar, unstrukturiert, variabel, diskursunterworfen, ohne Beginn und Prinzip sein, also „An-Archae“. Hier steckt der Widerspruch zu den „Herrschaftssystemen“: kein Zentralkomittee, kein Generalsekretär, kein festangestellter und schwer kündbarer Geheimdienstchef.
Der Anarchismus schlägt einen bottom-up Kommunalismus vor, mit a) Subsidiarität insofen, dass keine höher aggregierte Organisationsform Entscheidungen treffen soll, die eine basisnähere Organisationsform ohne grösseren Gemeinschaden treffen kann und will. Die Standardisierung von Schraubengrössen und Gewinden mag gerne an höher aggregierte Organisationsformen delegiert werden, der Entscheid über und der Bau von Entwässerungsanlagen geschieht besser auf kommunaler oder interkommunaler Ebene. Erst wenn beispielsweise die Entscheidung über die Entwässerung bei tiefer im Tal gelegenen Kommunen zu Problemen führt oder führen kann, sind diese einzubeziehen. Weiterhin soll der Kommunalismus b) die Delegation von Entscheidungsstrukturen in der Form des imperativen Mandats vornehmen. Das heisst, dass die Delegierten an den Auftrag der Delegierenden gebunden sind und jede über den Auftrag hinausgehende Entscheidung oder Verpflichtung durch die Delegierenden bestätigen lassen müssen. Aktuell entspricht a) durchaus dem Staats- und Rechtsverständnis in der schweizerischen Eidgenossenschaft und b) exakt den Gepflogenheiten des diplomatischen Dienstes.
Die kommunalistisch-anarchistisch-kommunistisch-sozialistischen Positionen unterscheiden sich von bolschewistischen und sozialdemokratischen besonders in ihrer Einschätzung von parlamentarischen Prozessen, welche von Mehrheitsentscheiden bestimmt sind und welche in der bürgerlichen parlamentarischen Demokratie kein imperatives Mandat kennen: die Delegierten sind nur ihrem Gewissen verpflichtet, höchstens unterliegen sie dem Fraktionszwang, also einer Mehrheitsposition in der eigenen Delegiertengruppierung. Das imperative Mandat hingegen unterliegt einem Konsensentscheid der die Delegierten Delegierenden.
Mühsam äussert sich zum imperativen Mandat dezidiert:
Alle Aufträge bleiben an den Willen derer gebunden, die ihn erteilen; wer ihn erhält, ist nichts als ausführendes Organ der Körperschaft, die ihm die Teilarbeit überträgt, für die sie ihn geeignet hält; er ist Willensvollstrecker einer bestimmten Gemeinschaft, der er selbst angehört, und zwar Willensvollstrecker für die bestimmte einmalige Aufgabe, die ihm übertragen ist. Die ungeheure Vielgestaltigkeit des gesellschaftlichen Lebens erfordert unzählige gesellschaftliche Dienstleistungen im kleinsten wie im größten, so daß die Aufteilung der gesellschaftlichen Pflichten in fortwährendem Wechsel alle Kräfte in Anspruch nimmt, alle unter ständiger Aufsicht aller stehen, jeder selbstverantwortlich und gesamtverantwortlich die Einheit von Gesellschaft und Persönlichkeit gewährleistet, wodurch die Gleichberechtigung aller und die gegenseitige Unterstützung in allen gemeinsamen Angelegenheiten gesichert wird. Jede Entsendung eines Beauftragten erfolgt unter dem Vorbehalt der Abberufung zu jedem Zeitpunkt der Dienstleistung, jede Übernahme eines Dienstes ist freiwillig und erfolgt unter dem Vorbehalt des Verzichts, falls sich der Beauftragte der Aufgabe nicht gewachsen fühlt oder einen anderen für die Wahrnehmung des gemeinsamen Wohles geeigneter hält. (Mühsam, 1933: 291)
Ein Problem beim imperativen Mandat und bei der Fokussierung auf Konsensentscheidungen, also der Ablehnung der Verbindlichkeit von Mehrheitsentscheidungen liegt in der Effizienz der Entscheidungsfindung, mitunter der Blockierung von unter Umständen notwendigen Entscheidungen. Bei fehlendem Konsens beispielsweise über die Ausrichtung von Forschung und Produktion, müssten Sezessionsmöglichkeiten zur Verfügung stehen, deren Realisierung aber zum Beispiel an räumlichen und materiellen Restriktionen scheitern könnte. Es bedarf also ausgeklügelter Konfliktlösungs- und Interesseausgleichsmechanismen. Diese Mechanismen können nicht auf interindividueller Gewaltausübung beruhen, genau zu derer Verhinderung wurde der Leviathan erfunden beziehungsweise erschaffen, der aber in einem anarchistischen Gemeinwesen per definitionem nicht zur Verfügung steht. Die Rolle des Leviathans wird einem Rat zugewiesen, der auf konsensuale und partizipative Entscheidungsfindung ausgerichtet ist. Macht und Gewalt gegen Innen und gegen Aussen ist dem Rat nicht fremd, nämlich zur Verteidigung der Herrschaftslosigkeit gegen Angriffe von Aussen (Unterwerfung unter eine Fremdherrschaft) und von Innen (Errichtung bzw. Wiedererrichtung einer diktatorisch oder repräsentativ-bürgerlich oder feudal ausgeübte Herrschaft).
Eine Renaissance erlebt das Gedankengut des Anarchismus zurzeit im kriegsversehrten Nordsyrien – wenn auch nicht unter diesem Namen. Der Führer und Chefideologe der PKK,5 Abdullah Öcalan änderte seine ursprünglich stark bolschewistisch geprägte Position unter Einfluss des anarchistisch inspirierten amerikanischen Autors Murray Bookchin zu einer revolutionären Strategie, welche nicht den Staat in der Form der Parteiherrschaft übernehmen will:
Democracy is governance that is not state; it is the power of communities to govern themselves whithout the state (Öcalan, 2017: 1).
Die intendierte Gesellschaftsform wird als „Democratic Confederalism“ bezeichnet, demokratischer Föderalismus6. Auch das politische System der Schweiz könnte unter den Begriff „demokratischer Föderalismus“ fallen, und nicht ganz ohne Grund heissen die regionalen Einheiten in Rojava Kantone. Der wesentliche Unterschied zu dem politischen System der Schweiz besteht darin, dass ideologische Prinzipien vor Wahlen in freier Mandatierung und die Herrschaftsübertragung an die Regierungen der lokalen, regionalen und überregionalen Einheiten stehen. Ziel des democratric confederalism ist die Maximierung der direkten Demokratie bei gleichzeitiger Minimierung der Marginalisierung von Minderheiten. Demokratischer Föderalismus ist die intendierte Gesellschafts- bzw. Verfassungsform in Rojava (Nordsyrien) – von einer „Staatsform“ kann aus begrifflichen Gründen nicht gesprochen werden. Aber sowohl die Organisationsnormen, welche die Legitimation durch Verfahren sichern, wie auch die grundlegenden materiellen Normen sind in die Form des Rechts gegossen.
Es sind mindestens fünf zentrale ideologische Prinzipien zu identifizieren. Erstens: Gender Equality. Das (soziale oder biologische) Geschlecht als Hauptdichotomie muss auf rechtlicher und faktischer Ebene im Sinne einer Gleichstellung erfasst werden. Das äussert sich in der Vorgabe, dass die Spitzenpositionen der Exekutive als „Doppelspitze“ immer durch eine Frau und einen Mann zu besetzen sind. Zweitens: Gruppenrepräsentanz. Jede sich identifizierende und identifizierte Bevölkerungskategorie (i.e. Volksgruppe, Religionsgemeinschaft, Talschaft etc.) muss im Rat oder in der Legislative vertreten sein. Drittens: Minderheitenschutz. Entscheidungsprozeduren und Entscheidungen müssen marginale Interessen berücksichtigen. Das bolschewistische Konzept der Diktatur des Proletariats durch die Partei wird explizit negiert. Viertens: Ökologie. Die Umwelt als Basis der menschlichen Reproduktion ist vor übermässiger, ressourcenzerstörender Nutzung zu schützen. Fünftens: Ökonomie. Die Gemeinschaft ist für die notwendige Ausstattung der Einzelnen verantwortlich (i.e. Nahrung, Unterkunft, Bildung, gesundheitliche Versorgung etc.). Auch hier gilt das Prinzip der Subsidiarität: Kommune vor Region vor überregionaler Organisationseinheit.7 Nicht abschliessend geklärt ist die Frage nach dem Privateigentum an Produktionsmitteln (mithin nach der Existenz von Kapitalismus und Profit), doch scheint die Abschaffung der Bourgeoisie nicht oberste Priorität, sondern ein Korrektiv über Räte und Korporationen unter dem ideologischen Prinzip der Sozialpflichtigkeit des Eigentums angedacht zu sein, welches der vollkommenen Investitions- und Profitaneignungsfreiheit des Kapitalisten entgegensteht.8
Der demokratische Föderalismus ist in den vom sogenannten „Islamischen Staat“ (ISIS, DAESH) befreiten nordsyrischen und den hauptsächlich von Yesiden bewohnten nordwestirakischen Gebieten, aus denen sich der Zentralstaat schon vorher zum Rückzug gezwungen wurde, gemeinschaftsleitende Ideologie. „Rojava“ ist zur Zeit tatsächlich ein geschlossenes Gebiet mit einer Bevölkerung von mehreren Millionen, welches der Einflussnahme eines Zentralstaates seit Jahren beinahe völlig entzogen ist. Es verhandelt selbstständig mit internationalen Mächten wie den USA, Russland oder europäischen Staaten, es verfügt über eine der schlagkräftigsten Armeen in der Region. Und: es befindet sich seit Jahren im Krieg. Auch die Kommandostrukturen der Armee unterliegen der gemeinschaftsleitenden Ideologie. Im Krieg herrscht immer Ausnahmezustand9, erst die dem Friedensschluss folgende Normalität wird die Überlebensfähigkeit des anarchistischen demokratischen Föderalismus zeigen.
Literatur
Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, München und Zürich, 14. A., 2000.
Biehl, Janet: http://theanarchistlibrary.org/library/janet-biehl-bookchin-breaks-with-anarchism, Zugriff am 03.04.2017.
Biehl, Janet: http://new-compass.net/articles/bookchin-%c3%b6calan-and-dialectics-democracy, Zugriff am 03.04.2017.
Bookchin, Murray: The Next Revolution: Popular Assemblies and the Promise of Direct Democracy, Debbie Bookchin, Blair Taylor (eds.) London (UK), Brooklyn (NY): Verso, 2015.
Botan, Nergis: https://cooperativeeconomy.info/the-social-economy-in-rojava-will-snowball/, Zugriff am 03.04.2017.
Engels, Friedrich: Einleitung zu „Der Bürgerkrieg in Frankreich“ von Karl Marx, London, am 20. Jahrestag der Pariser Kommune, 18. März 1891, zitiert nach: Karl Marx. Der Bürgerkrieg in Frankreich, Offizin Andersen Nexö, Leipzig, 1971.
Estermann, Josef: Krieg und Recht: Zerfall der elementaren Ordnungsbestimmungen? in: Christoph Maeder, Ueli Mäder; Sarah Schilliger (Hg.): Krieg! Kongressband zum SGS-Kongress Basel 2007, Seismo-Verlag, Zürich 2009, S. 65-80.
Flach, Anja / Ayboğa, Ercan / Knapp, Michael: Revolution in Rojava. Frauenbewegung und Kommunalismus zwischen Krieg und Embargo, 2.A., 2015, vsa-Verlag, Hamburg.
Harp, Seth: On the front lines of Syria with the young American radicals fighting ISIS http://www.rollingstone.com/politics/features/american-anarchists-ypg-kurdish-militia-syria-isis-islamic-state-w466069, 18.02.2017.
Marx-Engels Werke (MEW), Bände 23, 24 und 25, Das Kapital, Dietz, Berlin:Kapital Bd. 2, MEW 24:465.
Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Teil I und II, Rückblick und Schluß. Herausgegeben von Lothar R. Waas. Suhrkamp, Berlin 2011 (übersetzt von Walter Euchner).
Karl, Michaela: Die Münchner Räterepublik. Porträts einer Revolution, 2008, Patmos, Düsseldorf.
Mühsam, Erich: Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat. Was ist kommunistischer Anarchismus? Fanal Sonderheft, Berlin 1933, Seitenzahlen nach Erich Mühsam: Prosaschriften II. Hg. Günther Emig. Verlag europäische ideen Berlin 1978, S. 251-298.
Mühsam, Erich: Prosaschriften II. Hg. Günther Emig. Verlag europäische ideen Berlin 1978, S. 251-298, Scans auf https://commons.wikimedia.org/wiki/Category:Mühsam_Befreiung Zugriff am 01.03.2017.
Öcalan, Abdullah: The Political Thought of Abdullah Öcalan. Kurdistan, Woman’s Revolution and Democratic Confederalism, London: Pluto Press, 2017
Rousseau, Jean-Jacques: Du contrat social ou Principes du droit politique. Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Französisch/Deutsch. Reclams Universal-Bibliothek, Philipp Reclam jun., Stuttgart 2010.
Verfassung vom 29. Januar 2014, Zugriff am 1. Mai 2017 https://en.wikisource.org/wiki/Constitution_of_the_Rojava_Cantons.
Weber, Max: Politik als Beruf, in: Geistige Arbeit als Beruf. Vier Vorträge vor dem Freistudentischen Bund. 1919. München und Leipzig, zitiert nach Paginierung der Ausgabe bei Zweitausendeins 2006.
1Umso mehr, wenn wir mit Hannah Arendt den Begriff der Macht von dem Begriff der Gewalt trennen, Macht als gewaltloses gemeinsames Handeln, vergleiche den Beitrag von Maike Weißpflug in diesem Band.
2Als Ausnahme muss die Pariser Commune gesehen werden mit ihrer proudhonistischen und blanquistischen Prägung (vgl. Engels, 1971: 59ff).
3Karl, Manuela, 2008.
4Flach / Ayboğa / Knapp, 2015.
5Die PKK wurde erstmals im Jahre 1978 gegründet, später umfirmiert und wiedergegründet.
6Andere Bezeichnungen sind „libertarian municipalism“, „communalism“, „libertarian socialism“. Eine Differenz zu Mühsam ist nur schwer zu erkennen: „Eine Rätegesellschaft, eine Räterepublik – das Wort Republik bezeichnet keineswegs ohne weiteres eine Staatsform, sondern jede Selbstverwaltung eines Gemeinwesens durch das Volk – eine Rätewirtschaft ist nur als föderatives Gebilde zu denken und kann niemals ein Staat sein oder in einem Staatsganzen Platz finden. Die Räterepublik baut sich von unten nach oben auf. Ihr eigentlicher Drehpunkt sind die städtischen und dörflichen Ortsräte.“ (Mühsam, 1933: 292)
7Vgl. Botan, 2017.
8Die Verfassung vom 29. Januar 2014 sichert einerseits die Eigentumsfreiheit, setzt andererseits Gebäude und Grund in öffentliches Eigentum und etabliert das Arbeitsrecht:
Article 39. Natural resources, located both above and below ground, are the public wealth of society. Extractive processes, management, licensing and other contractual agreements related to such resources shall be regulated by law.
Article 40. All buildings and land in the Autonomous Regions are owned by the Transitional Administration are public property. The use and distribution shall be determined by law.
Article 41. Everyone has the right to the use and enjoyment of his private property. No one shall be deprived of his property except upon payment of just compensation, for reasons of public utility or social interest, and in the cases and according to the forms established by law.
Article 42. The economic system in the provinces shall be directed at providing general welfare and in particular granting funding to science and technology. It shall be aimed at guaranteeing the daily needs of people and to ensure a dignified life. Monopoly is prohibited by law. Labor rights and sustainable development are guaranteed.
9Estermann, 2009: 68.