Frauenhandel und Prostitution – theoretische Grundlagen

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© ProLitteris, Rahel Zschokke

1. Theoretischer Rahmen

1.1 Sozialer Wandel und das Konzept der Individualstruktuen


Norbert Elias (1) geht von Gesellschaft als einem sozialen Prozess in Entwicklung aus, der mit Persönlichkeitsstrukturen soziogenetisch verbunden ist. Ich folge seinem dynamischen Aspekt und grenze mich damit von statischen Konzepten ab, die Gesellschaft als System begreifen, das a priori gleichgewichtig in sich ruht und das „sozialer Wandel“ quasi von außen zu nicht näher bestimmten Wandlungen motiviert. (2)

Elias unterscheidet grundsätzlich zwei Hauptrichtungen gesellschaftlicher Strukturwandlungen: Strukturwandlungen in der Richtung einer zunehmenden Differenzierung und Integrierung und Strukturwandlungen in der Richtung einer abnehmenden Differenzierung und Integrierung. Als dritter Typ sind soziale Prozesse markiert „in deren Verlauf sich zwar die Struktur einer Gesellschaft oder ihrer einzelnen Aspekte wandelt, aber weder in der Richtung eines höheren noch in der eines niedrigeren Standards der Differenzierung und Integrierung“. Er unterscheidet neben zahllosen Wandlungen ohne Veränderung der Gesellschaftsstruktur vielerlei Mischtypen und beobachtet mehrere Wandlungstypen, ja selbst gleichzeitige Prozesse entgegengesetzter Richtung in derselben Gesellschaft.

Elias begreift den Prozess des sozialen Wandels soziogenetisch, das heißt, Wandlungsprozesse sind eine Grundgegebenheit von Gesellschaft und konstituieren sie in ihren typischen Ausformungen. Der gesellschaftliche Prozess ist zugleich auch Entwicklung, die inhaltlich bestimmbar ist. Elias bezieht die inhaltliche Bestimmung auf die soziale Organisation von Differenz und Integration und postuliert, dass sich soziale Strukturen über die Modellierung von Individualstrukturen in dem Sinn entwickeln, als dass sich hegemoniale Schichten gegen andere durchsetzen. Hegemoniale Schichten trachten danach, ihren Einflussbereich durch Begründung von institutionell abgesicherten Praktiken dynamisch zu halten. Die Dynamik der institutionell abgesicherten Praktiken verlangt den hegemonialen Schichten auf der Ebene der Individualstrukturen ein zunehmendes Maß an institutioneller Kontrolle und Selbstkontrolle ab.

Das Konzept der zunehmenden Selbstkontrolle der psychischen Ressourcen, dem sich die hegemonialen Schichten zwecks Erhaltung ihres Herrschaftsanspruchs unterwerfen, entwickelt Elias anhand des Wandels sozialer Praktiken der Oberschichten der höfischen Gesellschaft, des Absolutismus, der Gründerzeit (west)europäischer Nationalstaaten bis in unsere Zeit. Elias beschreibt die gesellschaftliche Entwicklung als Prozess der Zivilisation und beschränkt seinen Ansatz auf die in Betracht gezogene Zeit und den geographischen Raum Westeuropas.
Der soziologische Gehalt des Konzepts der zunehmenden Selbstkontrolle von Elias scheint mir als Richtschnur für diese Untersuchung adäquat. Ich verweise auf die psychoanalytisch-philosophisch orientierte Literatur, die dieses Thema kompetent und weiterreichend bearbeitet und werde mich im Verlauf meiner Ausführungen an den einen oder anderen Text anlehnen. (3)

Die Attraktivität von Individualstrukturen beruht auf dem Erfolg ihrer Träger auf einer Skala der Integration und Zugehörigkeit zu den hegemonialen Schichten. Diese zeichnen sich unter anderem durch einen privilegierten Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen aus. Aufgrund der Verknüpfung einer aktuellen Individualstruktur mit der Zugehörigkeit zur hegemonialen Schicht sind diese Persönlichkeitsstrukturen geeignet, auch in andere Schichten zu diffundieren – unter Annahme der Motivation zu sozialer Aufwärtsmobilität. Soziale Einheiten zeichnen sich dann als different aus, wenn sie der Diffusionsprozess nicht erfasst hat oder erfassen konnte, und zwar unabhängig von einer sozio-ökonomisch definierten Schichtzugehörigkeit.

Der Begriff „Entwicklung“ könnte suggerieren, Geschichte entstehe aus sich selbst heraus, folge einer immanenten Logik und entwickle Elemente, die sich wie ein roter Faden durchziehen, um sich letztlich auf ein Ziel hin zu bewegen. Das Ziel der Zivilisation nämlich, die um den Preis der zunehmenden individuellen Selbstkontrolle angestrebt wird. Aber Elias markiert die Qualität dieser Entwicklung deutlich, indem er sie als ein Sich-Durchsetzen hegemonialer Schichten gegenüber anderen gesellschaftlichen Schichten beschreibt, mit dem Ziel, den Einflussbereich zu erhalten. Über die Generierung institutionell abgesicherter Praktiken auf der Ebene der Individualstrukturen hält sich die hegemoniale Schicht den Raum für hierarchische Gesellschaftsstrukturen offen und tradiert das Kontinuum der Herrschaft durch die Konformität der Individualstrukturen über Brüche, Abgründe und alternative Weichenstellungen hinweg.

An diesem Punkt setzt Walter Benjamin (4) mit seiner radikalen Kritik von Geschichtsschreibung an: „Vergangenes historisch zu artikulieren heißt nicht, es erkennen, wie es denn eigentlich gewesen ist. Es heißt, sich seiner Erinnerung bemächtigen, wie sie im Augenblick einer Gefahr aufblitzt. [ … ] Die Gefahr droht sowohl dem Bestand der Tradition wie ihren Empfängern. Für beide ist sie ein und dieselbe: sich zum Werkzeug der herrschenden Klassen herzugeben. In jeder Epoche muss versucht werden, die Überlieferung von neuem dem Konformismus abzugewinnen, der im Begriffe steht, sie zu überwältigen“ (Benjamin 1965: 82). „… wenn man die Frage aufwirft, in wen sich denn der Geschichtsschreiber eigentlich einfühlt. Die Antwort lautet unweigerlich, in den Sieger. Die jeweils Herrschenden sind aber die Erben aller, die je gesiegt haben. Die Einfühlung in den Sieger kommt demnach den jeweils Herrschenden allemal zugute. [… ] Wer immer bis zu diesem Tag den Sieg davontrug, der marschiert mit in dem Triumphzug, der die heute Herrschenden über die dahin führt, die heute am Boden liegen. Die Beute wird, wie das immer so üblich war, im Triumphzug mitgeführt. Man bezeichnet sie als die Kulturgüter. [… ] Es ist niemals ein Dokument der Kultur, ohne zugleich ein solches der Barbarei zu sein“ (Benjamin 1965: 83).

Der Akzent bei Benjamin liegt einerseits auf dem Sieger der Geschichte, aber andererseits ebenso auf den Kulturgütern, die die am Boden Liegenden nicht nur der Mühe der großen Genies, sondern auch der namenlosen Fron der Zeitgenossen zu verdanken haben. Eine weitere Bemerkung in Anlehnung an Benjamin, die dem Vorschlag des Elias’schen Konzepts der soziogenetischen Individualstrukturen eine mögliche Bestimmung gibt und den Blick nicht nur auf Konformes, sondern auf Widerständiges, subversiv Emanzipatorisches richtet. Nicht nur der Fron sind diese Kulturgüter zu verdanken, sondern der Fülle und Vielheit, die, wie Benjamin schreibt: „… anders zugegen sind als die Vorstellung einer Beute, die an den Sieger fällt. Sie sind als Zuversicht, als Mut, als Humor, als List, als Unentwegtheit in diesem (Klassen)Kampf lebendig, und sie wirken in die Ferne der Zeit zurück. Sie werden immer von neuem jeden Sieg, der den Herrschenden jemals zugefallen ist, in Frage stellen“ (Benjamin 1965: 80).

Mit diesem neu gewonnenen Blick auf die Tradierung des Raums für hierarchische Gesellschaftsstrukturen mittels Konformität der Individualstrukturen, aber auch der Möglichkeit von Non-Konformismus, der Siege in Frage stellt, können wir Elias weiter folgen, wenn er postuliert, dass sich „… das Problem der Beziehung von Individualstrukturen und Gesellschaftsstrukturen gerade erst dadurch erhellen, dass man beide als sich wandelnd, als werdend und geworden untersucht. Erst dann hat man die Möglichkeit, […] Modellentwürfe ihrer Beziehung zu entwickeln, die mit empirisch belegbaren Tatsachen einigermaßen in Einklang stehen“ (Elias 1976b: 83).

1.2 Der Mythos vom ältesten Gewerbe der Welt

Die Vorstellung von „Prostitution als ältestem Gewerbe der Welt“ unterstellt, dass Prostitution unabhängig von gesellschaftlichen Verhältnissen und von gesellschaftlichem Wandel, quasi außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, in der „Natur“ von Frau und Mann a priori existiere. Wenn der französische Philosoph Roland Barthes (5) den Mythos als eine Erzählung definiert, die einen geschichtlichen Sachverhalt als natürlichen darstellt, so fällt diese Vorstellung genau unter diese Definition: Prostitution wird als naturgegeben und nicht mit Geld, Macht und Herrschaft verknüpfte Geschlechts- und Geschlechterverhältnisse begriffen.

Die schweizerische Rechtslehre vertritt die Ansicht, dass die Bekämpfung der Prostitution schlechthin ein Kampf gegen Windmühlen, kein Ziel des revidierten Sexualstrafrechts (6) sei, womit unter anderem konnotiert ist, dass Prostitution als „ältestes Gewerbe“ bis heute und darüber hinaus Bestand habe und deshalb eine Bekämpfung ohne Sinn sei. In Anlehnung an Foucault halte ich dagegen, dass Prostitution nur in ihrem historischen Kontext erfasst werden kann, da ihre Erscheinungsformen von den ökonomischen, rechtlichen und gesellschaftlichen Macht- und Geschlechterverhältnissen abhängen. Heutige Prostitution zeichnet sich durch spezifische Formen, Strukturen und Funktionen aus. Sie ist weit davon entfernt, zeitlos gleich zu sein. Prostitution drückt sich heute wesentlich in Form von Prostitutionsmigration, aber auch als Erwerbstätigkeit oder Nebenverdienst vieler einheimischer Frauen und auch etlicher junger Männer aus, deren Chancen auf dem formellen Arbeitsmarkt beschränkt sind. Dies kann verstanden werden als Durchsetzung von marktvermittelter Existenzführung nach dem Leistungsprinzip im Sinne eines Individualisierungsprozesses nach westlich-dominantem Gesellschaftsmuster. Dabei wird das dualistische Erbe der „männlichen Superiorität“ anachronistisch bestärkt.

Heutige Auffassungen von Prostitution tendieren dazu, dem Mythos zu huldigen und Prostitution entweder als Ausbeutung von Frauen durch Männer zu bekämpfen oder Prostitution als „sexuelle Selbstbestimmung“ von Frauen verklärend zu rechtfertigen. Bei diesen Diskursen besteht die Gefahr, dass die Prostitution selbst und heutige Erscheinungsformen, die die Kommerzialisierung von sexuellen Beziehungen hervorbrachte, aus dem Blickfeld geraten.

1.2.1 Das Postulat der männlichen Superiorität

Michel Foucault vermutet, dass die wahrscheinlich signifikanteste Metamorphose in der Geschichte der Prostitution von der griechischen Antike bis zum frühen Christentum in der gesetzlichen Ausgrenzung der männlichen homosexuellen Prostituierten und der zunehmend vorherrschenden Form der Prostitution in der Repräsentation des männlichen Käufers und der weiblichen Anbieterin bestand. (7) Dieser Prozess reflektiert einen historischen Wandel der Geschlechterbeziehungen und der Rolle der Familie. Männern sollten nicht länger passive Objekte von sexuellem Vergnügen darstellen, denn Passivität mutierte zur Antithese von sozialem Aufstieg und drohte diesen zu blockieren. Vielmehr waren Männer angehalten, das Postulat von männlicher Superiorität zu repräsentieren.

Im Hinblick auf die Tradition gesellschaftlicher Hierarchien und Konformitäten von Individualisierung ist heute einige Literatur zu der vielgestaltigen Thematik der institutionellen Verankerung männlicher Superiorität greifbar. Die Soziologin Anne-Francoise Gilbert postuliert, „… dass die historischen Prozesse der Konstitution von Öffentlichkeit und Privatheit im 19. Jahrhundert als Moment der Produktion der Geschlechterdifferenz zu verstehen sind und gleichzeitig als Prozess ihrer Naturalisierung. […] Die Praxis der Öffentlichkeit selbst wurde zum Mittel, männliche Identität zu artikulieren und damit die Geschlechterdifferenz zu markieren. Damit wurde sie aber gleichzeitig aus dem Raum der politischen Debatte verbannt.“ (8) Sie belegt dies anhand der Struktur der Geschlechterverhältnisse in der aufstrebenden Schicht des Bildungsbürgertums in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, wo die jungen Männer, die Anspruch auf Bildung erhoben und sich als Wortführer der neuen Ordnung verstanden, nicht bereit waren, diesen Anspruch auch den Frauen ihrer Schicht zuzugestehen. „Rousseau, der die Frau als liebende Gattin und Mutter konzipierte und darin ihre natürliche Bestimmung sah, hatte für die gebildete Frau, und vor allem für die öffentlich auftretende Frau nur Spott und Verachtung übrig.“ Hier, wie auch im deutschen Bildungsbürgertum wurde „die Vorstellung, dass die Frau gleichberechtigt an den Errungenschaften der neuen Ordnung teilhaben könnte, verworfen“ (Gilbert: 80).

Es war „der Mann“, der das Ideal vom einsamen Schöpfer und Genie verkörperte. Ulrike Prokop zeigt, dass das männliche Subjekt von diesem Ideal überfordert war und im regressiven Verhältnis zur Frau Erholung suchte. (9)

1.2.2 Öffentlich – Privat

Ausgehend von Habermas‘ Strukturwandel der Öffentlichkeit, (10) der die sozialen Strukturen und die politischen Funktionen der Öffentlichkeit untersucht, kritisieren verschiedene Autorinnen, dass er den damit einhergehenden Ausschluss der Frauen voraussetzt, statt ihn kritisch zu reflektieren. Nancy Fraser (11) hat die Kritikpunkte zu einem diskurstheoretischen Konzept von Öffentlichkeit verarbeitet, „wonach Öffentlichkeit und Privatheit nicht so sehr als gegebene Sphären der Gesellschaft, die etwa entlang der Geschlechterlinie verlaufen, zu betrachten sind; vielmehr handelt es sich um historische Konstrukte, deren Konzeption jeweils selbst umstritten ist. Indem sich die Sphäre der Öffentlichkeit durch Konflikte konstituiert, wird mit Öffentlichkeit im diskursiven Sinn der Bereich des gesellschaftlich Umstrittenen vom Bereich des gesellschaftlich Unhinterfragten abgegrenzt“ (dt. zit. nach Gilbert S. 78).

Heide Wunder weist darauf hin, dass „das Wissen um die legitime Herrschaftsausübung von Frauen in der Zeit des Ancien Regime verloren gegangen ist. Bis dahin hatte die Herrschaft adeliger Frauen und Regentinnen […] und die Herrschaft von Äbtissinnen der zahlreichen Frauenklöster und Damenstifte als selbstverständlich gegolten.“ (12) Die Vernachlässigung der Bedeutung von Frauen in der Sozialgeschichte des Adels wie auch das öffentlich wirksame Handeln von Frauen aus den bürgerlichen und bäuerlichen Ständen in der Forschung führt sie auf die Erkenntnisinteressen der dominanten Geschichtswissenschaft und der historischen Frauenforschung zurück. Von Ausnahmen abgesehen, schien es dieser nicht erstrebenswert, die Partizipation von Frauen an der kritisch gesehenen „Herr“schaft wahrzunehmen. Die Autorin konstatiert, dass sich die Forschungsprämissen seit einigen Jahren zu ändern beginnen und sich die historische Forschung für die Thematik öffentlich handelnder Frauen aller Stände (Mündigkeit) sowie für Frauen, die an Herrschaft partizipierten, interessiert. Zur Beschreibung realer Machtverhältnisse greift die historische Frauenforschung auf das soziologische Begriffspaar formelle Macht und informelle Macht zurück.

Ute Gerhard zeigt in ihrer rechtshistorischen Analyse, (13) dass „das sich verallgemeinernde und sich zunehmend als demokratisch verstehende bürgerliche Recht gerade mit seiner Unterscheidung von Privatrecht und öffentlichem Recht eines der wichtigsten Instrumente zum Ausschluss der Frauen aus dem Bereich politischer Öffentlichkeit war,“ und dass „zugleich die Einmischung der Frauenbewegung in diese Öffentlichkeit und die Inanspruchnahme gleicher Rechte durch Frauen ganz entscheidend zur Veränderung und Grenzverschiebung zwischen Öffentlichem und Privatem beigetragen hat“ (Gerhard: 510). Wichtig ist dieses dichotome Begriffspaar deshalb, weil „diese Unterscheidung in der Sprache der Juristen den in der Neuzeit eingeleiteten historischen Prozess der Ausdifferenzierung bzw. Trennung von Staat und Gesellschaft abbildet, eine Trennung, die zur Entfaltung einer von staatlicher Einmischung freien gesellschaftlichen Sphäre durch die Rechtsgarantie des Eigentums, der Privatautonomie und der Vertragsfreiheit abgesichert wurde“ (Gerhard: 511).

Der Prozess der Trennung von der Institution Staat und einer auf Vertragsfreiheit gründenden Gesellschaft ist gekennzeichnet nicht nur durch die Ungleichzeitigkeit von bürgerlichen oder zivilen Freiheitsrechten für Männer und Frauen, sondern auch durch die unterschiedliche Reihenfolge der Einsetzung der Rechte. Wurden Frauen im bürgerlichen Zeitalter erst durch paternalistische Fürsorge- und Schutzrechte begünstigt, die gleichzeitig Entmündigung bedeuteten, erlangten sie die privatrechtliche Gleichberechtigung erst sehr viel später. (14) Als Resultat wohlfahrtsstaatlicher Politik des 20. Jahrhunderts wertet Gerhard die sozialen Grundrechte, die den Anspruch auf soziale Sicherung und gesellschaftliche Partizipation und Integration verkörpern und weder für Bürger noch für Bürgerinnen eines Staates und noch weniger für Migranten ausreichend verwirklicht sind.
Ein anderer Aspekt dieses Trennungsprozesses, der sich heute scharf polarisierend an den Kürzungen, Verteuerungen und Einsparungen sozialstaatlicher Leistungen sowie hoher Arbeitslosigkeit und hoher Kapitalgewinne abzeichnet, sind die zunehmend auf Vertrag gründenden Interaktionen der gesellschaftlichen Subjekte. Mascha Madörin spricht in diesem Zusammenhang von der zunehmenden Marktförmigkeit menschlicher Beziehungen. (15)

1.2.3 Privat-Ehe und öffentliche Frauen

Gesellschaftlich umstritten waren die so genannten „öffentlichen Frauen“, über die die Öffentlichkeit in Polizeiverordnungen, im juridischen und medizinischen Apparat und bald auch innerhalb von Frauenorganisationen diskutierte. Besitzlose, unverheiratete Frauen waren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf der Suche nach Arbeit mit vielen Geschlechtsgenossinnen in die Städte geströmt und fanden dort ein Auskommen als Tänzerinnen oder Prostituierte.

Während sich die Gründung von Nationalstaaten mit Machtmonopolfunktionen in Westeuropa und auch in Amerika durchsetzte und die Freiheit des Privateigentums unter der politisch ökonomischen Führung des Bildungs- und Berufsbürgertums die Gesellschaft neu stratifizierte, schuf sich das Postulat der „männlichen Superiorität“ eine vertikale soziale Neuordnung.

Feministische Wissenschaftlerinnen zeigen auf, dass sich mit der Durchsetzung des großen Paares (16) das Modell der Kleinfamilie mit Vater, Mutter, Kind vertikal durch die Schichten hindurch etablieren konnte, während sich die Großfamilie als ehemals zentrale ökonomische Produktionseinheit allmählich auflöst(e). Diese geniale Wende zum großen Paar erlaubte es nicht nur, die männliche Superiorität der neuen demokratischen Öffentlichkeit in Herrschaft, Politik, Ökonomie, produktivem Kapital und Arbeit einzuschreiben, sondern ihr auch „die Frauen“ als „unproduktiver Privatbereich“ grundsätzlich unterzuordnen. Dieser Prozess band einerseits bürgerliche Frauen an die Macht von Ehemännern, in dem sie – von der direkten Partizipation beim Aufbau von Demokratie ausgeschlossen – indirekt an deren institutionalisierter Superiorität teilnehmen konnten. Andererseits wurden alternative Lebensformen von Frauen als non-konform an den Rand gedrängt und als sozialer Nicht-Ort definiert, obwohl gerade die Kultur und die Tradition der selbständigen, nicht verheirateten (bürgerlichen) Frau als sozialer Ort der Innovation und der Transformation der Geschlechterverhältnisse gelesen werden kann, wie Gilbert eindrücklich dokumentiert. (18)

Wenn sich also bürgerliche Frauen den Zugang zu Macht und gesellschaftlichen Ressourcen durch Ehemänner als Komplizinnen erhalten wollten und sich gegen alternative Lebensformen ihrer unabhängigen Geschlechtsgenossinnen abgrenzten, konnten sie die Frauen von sozial minder partizipierenden Arbeitern höchstens als Hausangestellte und dienstbares Personal oder als schamlose, amoralische Verführerinnen wahrnehmen. Hausangestellten musste ihr Platz auf der untersten sozialen Stufe zugewiesen und Prostitution verboten oder zumindest so reguliert werden, dass sie die Institution Ehe in ihrer bürgerlichen Form nicht gefährden konnte. Die Ehe war nämlich der Garant des privilegierten Zugangs zu gesellschaftlichen Ressourcen, und zwar besonders für Frauen der neu entstandenen, von Berufen geprägten Mittelschicht. (19) Denn die Kernkultur, die die Produktivkräfte einer Gesellschaft organisiert, worunter auch der Zugang zu gesellschaftlicher Macht und Ressourcen fällt, ist aggressiv besetzt, wie Verena Tobler schreibt. (20) Auch von Frauen.

Während west-europäische Frauen aus der Unterschicht auf der Suche nach Arbeit und Auskommen in den Jahrzehnten über die letzte Jahrhundertwende in die Städte strömten oder ins Ausland migrierten und nicht zuletzt in lokalen Bordellen oder in Übersee ihr Einkommen als Prostituierte verdienten, (21) machten sich Frauen der Mittelschicht daran, ihre direkte Partizipation an demokratischen Einrichtungen, an Öffentlichkeit und Verfügung über Privateigentum einzufordern, sich – häufig unter Verzicht auf Kinder – vom Modell der Ernährer-Ehe zu emanzipieren und sich beruflich und auch künstlerisch zu betätigen.

1.3 Der Kampf um Differenz und Gleichheit

Wenn es auf der einen Seite leicht fällt, den non-konformistischen, emanzipatorischen, den institutionellen Sieg der männlichen Superiorität in Frage stellenden Gestus in der frühen Frauenbewegung zu erkennen, fällt es schwer, Non-Konformitäten von Arbeiter-Frauen als solche anzuerkennen. Dies hat vielerlei Gründe:

Die Definitionsmacht der Mittelschicht grenzt Frauen aus, die sich nicht an der Integration in hegemoniale Schichten orientieren. So wurden beispielsweise ledige Mütter als „Problem“ definiert, dessen sich „soziale Arbeiterinnen“ annahmen, indem sie wohltätigen Ersatz für die Ernährer-Funktion des fehlenden Ehemannes einforderten. Bezeichnend auch, dass die frühe Debatte um Frauenhandel und Prostitution vom Schutzgedanken über junge Mädchen und Frauen ausging, die „skrupellosen Männern“ zum Opfer gefallen waren. Die „Doppelmoral“ bezog sich nicht etwa auf die Moral der Mittelschichtsfrauen im Verhältnis zu der (fehlenden) von Prostituierten, sondern vielmehr auf die ungleichen Maßstäbe, die die Institutionen der Demokratie an Freier (Männer) und Prostituierte (Frauen) anlegte.

Erst die bürgerliche Rechtslehre und -praxis betont die Dichotomie von privatem und öffentlichem Recht. Die Gegenüberstellung von bourgois (Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft) und citoyen (Staatsbürger) wird erst im 19. Jahrhundert rechtstheoretisch und politisch zu einem Problem (Gerhard: 511). Vertreter des Volkes, die durch den Gesellschaftsvertrag legitimiert sind, beanspruchen das Monopol staatlicher Souveränität und stiften ein unmittelbares Verhältnis zwischen Souverän und Untertan bzw. Bürger. Grundsätzlich ausgeschlossen von diesem fiktiven Gesellschaftsvertrag waren die Frauen, die als Vertragspartner oder Rechtssubjekte gar nicht in Betracht kamen. Frauen waren nur kraft Ehevertrags (als „freiwillige Unterwerfung“ der Ehefrau unter den Willen des Ehemanns oder als „natürliche Unterwerfung“ der Frau unter den Willen des Mannes „mit freiem Willen und aus Liebe“) legitimiert, an „Gesellschaft“ zu partizipieren. Von da an wurde Geschlecht, und das meinte die Unterordnung des weiblichen Geschlechts, zu einem strukturierenden Prinzip der Gesamtgesellschaft. Obwohl Olympe de Gouges bereits 1791 ihren Entwurf einer Gleichheit in der Differenz vorlegte (22) und namhafte Frauen in der frühen Frauenbewegung diesen Diskurs aufnahmen, indem sie sowohl für politische Rechte wie auch für gleichberechtigten Zugang zu Arbeitsmarkt und Privateigentum sowie für bessere Arbeitsbedingungen eintraten, bestimmt die Auseinandersetzung um Gleichheit und Differenz bis heute die Gender-Debatte. Besondere Aktualität erwächst dieser Debatte aus der Auseinandersetzung mit Migrantinnen auf den informellen Arbeitsmärkten westlicher Gesellschaften und nicht zuletzt mit Betroffenen von Frauenhandel und Prostitutionsmigration.

1.3.1 Geschlechtsblinde Hegemonialstrukturen

Die beiden Kriege und die damit einhergehende Vernichtung von Ressourcen unterbrach die Debatte in dieser Form. Inzwischen hatte sich die „männliche Superiorität“ in der Ernährer- und Beschützer-Ehe mithilfe der Kolonial- und Kriegsgewinne soweit naturalisiert, dass die mittelständische Frau als Bedienerin von Männern und Zuständige für die Kinder das Bild der Frauen in west-europäischen Gesellschaften prägte. Von ihr wurde auf die Arbeit aller Frauen, auch der (Arbeiter)Frauen, die für ihre eigene Existenz und die ihrer Kinder arbeiten mussten, geschlossen und Frauenlohnarbeit als Zuverdienst definiert. (23) Frauenarbeit in ihrer naturalisierten Form im Haus, für Alte, Kranke, Kinder und Ehemänner wurde zwar stillschweigend in die Ökonomie einbezogen, aber nicht als Arbeit anerkannt. Als blinden Fleck der Ökonomie kritisiert die Soziologin und neue Feministin der ersten Stunde, Claudia von Werlhof, die Missachtung und Entwertung von Frauenarbeit weltweit. (24)

Während sich schon in der Zwischenkriegszeit und während des Krieges das Frauenbild in Westeuropa an den Typus „blond, natürlich“ heftete, an die Frau, die den Dienst am Ehemann sowie am Vaterland mit Freuden leistet und tapfer mit anpackt, wenn es sein muss, (25) taucht am andern Ende der Skala ein ganz anderer Typ Blondine auf, der mit Marlene Dietrich, Brigitte Bardot, Marylin Monroe, Anita Ekberg den Doris Days der Stunde entschieden entgegentrat. Um den (blonden) Preis der Infantilisierung und der Einschüchterung der Intelligenz, wie Strassberg (26) formuliert, meldet sich weibliches Begehren als sexuelles Begehrt Sein machtvoll zurück, füllte die Kinokassen und brachte so manches Geschäft mit dem Begehren der Frauen in Schwung.

Die Waschmaschinen-Kühlschrank-Schönheitssalon-Idylle beruhigte die westlichen
Mittelstandsfrauen nur bedingt. Marylin Monroe hatte sich inzwischen umgebracht, Martin Luther Kings Ableben war nicht weniger schockierend, der Kalte Krieg breitete sich in Filmstudios, Hörsälen und Redaktionsstuben aus, Nazi-Kollaborateure saßen zum Teil noch unbehelligt in Amt und Würden, und die Arbeiter-Soldaten kehrten versehrt aus Vietnam zurück. Armut, Not und Elend wurden sichtbar, und vielleicht empörender noch war die Ungerechtigkeit, dass dies alles ungehindert seinen Lauf nehmen konnte.

Nun hatte die Höflichkeit der Sänger ein Ende, und die Massenprotestbewegungen in den USA und Westeuropa ergriffen Männer und Frauen verschiedener Schichten und Kulturen. Aber es war doch vor allem die Stunde der Mittelschicht, die sich mit der Integration der Frauen als „professionelle“ neu formierte. (27) Gewitzt durch das Aufblitzen des anti-ödipal polymorphen Wimmelns von Trieben (Strassberg) schienen der Fülle und Vielheit von Möglichkeiten vorerst keine Grenzen gesetzt. Integrations- und Solidarbewegungen erweiterten das Blickfeld und brachten Themen wie Gender, Frauenbefreiung, Dritte Welt und Rassismus auf die politische Agenda.

Feministinnen knüpften an die Erfahrungen ihrer Vorgängerinnen um die Jahrhundertwende an und waren nicht länger bereit, sich ihre Sexualität auf den Nachwuchszeugenden Sexualakt reduzieren zu lassen und auch als Unverheiratete nicht darauf zu verzichten oder homosexuelle Neigungen zu verstecken und zu kaschieren. Der Kampf ging um Selbstbestimmung über den eigenen Körper, gegen Gewalt und Fremddefinitionen von Frauenbildern und um Gleichberechtigung im Berufsalltag.

Die Erfolge der Frauen wurden erst auf dem Hintergrund der fetten Kriegsbeute und der aggressiv sich durchsetzenden hegemonialen Neuordnung der Welt möglich. Während sich die Feministinnen der siebziger Jahre noch gegen Herrschafts- und Ausschlussmechanismen auflehnten, brachen sich in den achtziger Jahren jene Individualstrukturen Bahn, die sich am Erfolg von Integration und Partizipation der hegemonialen Schichten orientierten, ungeachtet des Geschlechts. Die Herrschaftsverhältnisse entschwinden allzu häufig dem Blick der sozialen Arbeiterinnen-Debatte.

Vom Machtzuwachs der hegemonialen Nationen profitierten mehr oder weniger alle Schichten innerhalb der nationalen Grenzen und damit auch an der Definitionsmacht von Frauenbildern der beteiligten Frauen der Mittelschicht.

Die Erkenntnis, dass sich die neue Mittelschicht, bereichert um die Erfahrungen der partizipierenden Frauen, nicht grundsätzlich anders orientiert als ihre Vorläuferin ohne direkte weibliche Partizipation, schließt die Wahrnehmung struktureller Benachteiligung von Frauen und Frauenarbeit im hegemonialen Weltgefüge nicht aus. Die Arbeiterlnnen, mittlerweile mehrheitlich als Migrantlnnen in Erscheinung tretend, sehen sich bereits an den nationalen Grenzen gezwungen, ihren Anspruch auf existenzsicherndes Einkommen mit den ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu erkämpfen. (28) Das Konzept des Gender mainstreaming (29) trägt dieser Tatsache Rechnung und setzt sich auf nationaler und internationaler Ebene für eine emanzipative Integration von Frauen ein. Der feministische Diskurs um Differenz knüpft andererseits an die Debatte der Partizipation und der damit verbundenen Widersprüche und Asymmetrien im Geschlechterverhältnis hinsichtlich der Individualstruktur von männlicher Superiorität in westlichen Gesellschaften an. (30) Beide Diskurse und Praktiken tragen dazu bei, strukturelle Ungleichheiten und Asymmetrien im Geschlechterverhältnis zu erkennen und damit Anknüpfungspunkte zur emanzipativen Fülle und Vielheit der Geschlechter zu schaffen.

Susanne Kappeler konstatiert zwar eine zunehmende Chancengleichheit zwischen (westlichen) Männern und Frauen in Sachen Bürgerrechten und auf dem klassischen Arbeitsmarkt sowie eine rechtlich politische Gleichstellung, „aber dies tut der Kluft zwischen Männlichkeit und Weiblichkeit keinerlei Abbruch, im Gegenteil, es vergrößert sie eher noch.“ (31) Sie bezieht sich weniger auf das biologische Geschlecht, sondern auf die Strukturen zwischenmenschlicher Beziehungen, die wir in Anlehnung an das Konzept von Elias als Individualstrukturen angesprochen haben. Ich gehe mit der Autorin einig, wenn sie feststellt, dass diese durch Ansprüche und Gesetze des Leistungsprinzips und des Konsums bestimmt sind und vormals exklusiv „männlich“ geprägt, heute vermehrt zum Maßstab allgemeinen Selbstverständnisses gehören. Sie hebt „insbesondere den Anspruch auf käufliche oder handelbare Dienste an der eigenen Person“ sowie den Anspruch „auf Formen der Besitzmacht über andere Menschen“ hervor (Kappeler: 115). Wenn sich einerseits der Anspruch des „weißen Mannes“ auf Dienst an der eigenen Person durch ihm untertane Menschen unbehelligt in die Gegenwart gerettet hat, so partizipieren zunehmend auch westliche Frauen an diesem größtenteils „männlichen“ Vergnügen: sei es durch die Entlastung im Hausarbeitsbereich oder Entlastung als „verfügbare Sexdienstmagd“ in der Beziehung, aber zumindest durch Akzeptanz dieser Gesellschaftsverhältnisse. „Die männlich-patriarchale [… ] Subjekthaftigkeit wird zum allgemeinen Maßstab von Menschsein, an dem sich auch Frauen im Gleichstellungsdrang gegenwärtig orientieren“ (Kappeler: 116).

1.3.2 Männerphantastische Differenzen

Unterdessen hatte sich die Elias’sche zunehmende Selbstkontrolle soweit in der Individualstruktur der männlichen Superiorität eingenistet, dass sich ihr das Begehrendes historischen Subjekts als Mangel präsentiert. Ein Mangel, der durch Ersatz mit Vielem befriedigt werden kann. So jedenfalls kritisiert der Psychoanalytiker und Philosoph Daniel Strassberg das Freudsche Denken nach Einführung des Oedipus als „ganz am Mangel und Ersatz orientiert. Alles menschliche Wollen ist vom Mangel, vom Verlust, von der Negation bestimmt, alles was erreicht werden kann, ist bloßer Ersatz. Vergessen sind Überschuss als Antrieb und Vielfalt als Ziel menschlichen Handelns“ (Strassberg: 15).

Aufgrund des Postulats der männlichen Superiorität hat sich den Männern primär „die Frau“ quasi als natürliches, begehrtes Ersatzobjekt angeboten, und zwar in ihrem Ausdruck als sexuell Begehrende. Diese Wahrnehmung der Frau war aber für die Mittelklasse, die der zunehmenden Selbstkontrolle verpflichtet war und – von der Individualstruktur der männlicher Superiorität geprägt – sich am Erfolg der Zugehörigkeit zu den hegemonialen Schichten orientierte, viel zu gefährlich. Die Figur der sexuell begehrenden Frau hätte womöglich die hegemoniale Ordnung radikal in Frage gestellt, anarchistisches Potenzial freigesetzt und das Konzept des Ersatzes vollkommen aus dem sozio-ökonomischen Repertoire verbannt. Und darauf konnte nun keinesfalls verzichtet werden, beruht doch die Logik des freien Kapitals über die Warenproduktion nicht etwa auf der Bedürfnisbefriedigung sondern auf der Vermehrung des Kapitals, heute Share-Holder-Value genannt, wie das Karl Marx mit akribischer Gründlichkeit gezeigt hat. (32)

Die Gefährlichkeit des oben zitierten Frauenbildes musste also durch soziale Schranken gebannt werden. Bei einem Großteil der Frauen der Mittelschicht – nach Partizipation und Zugehörigkeit zu den hegemonialen Schichten strebend – zeigte das Instrument der Einschreibung in die Individualstruktur der männlichen Superiorität qua Ehefrau, Mutter, Schwester, Tante etc. Wirkung. Die Abgrenzung „gegen unten“ und der damit verbundene privilegierte Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen war und ist immer noch verlockend.

Die potenzielle von Arbeiterfrauen oder Hausangestellten ausgehende Gefahr der sexuellen Verführung wurde einerseits wirksam durch die Schranken einer als different markierten Individualstruktur blockiert, was (sexuelle) Kontakte zwar nicht ausschloss, aber eine Heirat in der Regel nur bei entsprechender Anpassung erlaubte. (33) Andererseits bot sich die Legitimierung der Käuflichkeit von Sex-Kontakten als wirksames Mittel an, die Gefahr dieses Frauenbildes zu bannen: nämlich durch die Prostitution, die die Person mit dem Preis, der dafür (für die Ware Prostitution) bezahlt wird, als Subjekt bzw. mögliches Objekt des Begehrens, negiert. Dabei markiert Prostitution in ihrer Marktform (34) wohl nur den extremen Pol auf einer Skala der Käuflichkeit, deren Grenzen im heutigen Berufs- und Freizeitalltag trotz politischer Korrektheit und dem Verdikt der sexuellen Belästigung am Arbeitsplatz verschwimmen.

1.4 Prostitution als Ware

Nicht einfach zu ignorieren sind aber die Bedürfnisse, die der psychischen Energie des Triebs nach Strassberg aufsitzen, und durch deren Befriedigung ein Glücksmoment angestrebt wird, das weit über die biologische Sättigung hinausgeht. Dabei ist, wie Freud bemerkte, „das Objekt das variabelste am Trieb“. (35) Die psychische Energie des Triebs lässt sich durch die ihm aufsitzenden, überall nach Befriedigung strebenden Bedürfnisse (unter der Annahme, dass die Bedürfnisse über die Individualstruktur modellierbar sind), vielleicht dazu verführen, dass sie die über den Markt vermittelten, den Objekten verblüffend ähnlichen Waren als Ersatz akzeptiert. (36) Diese Logik einmal vorausgesetzt, kann das unerlässlich angestrebte Glücksmoment vom Subjekt als eine vom Kauf oder Konsum von Waren abhängige Variable interpretiert werden. Dabei trifft sich diese Logik konsumfördernd mit den variantenreichen und immer neuen Angeboten auf dem Markt, wobei das einzige gemeinsame Charakteristikum von Waren darin besteht, dass sie über den Markt – vermittelt zu einem durch diesen bestimmten Preis – feilgeboten und gekauft werden müssen, unabhängig davon, ob Arbeit hinter ihrer Aufbereitung für den Markt steckt oder nicht. Dass dabei weniger von Triebunterdrückung und Repression die Rede ist, als vielmehr die Verwertbarkeit des Triebs (37) und kommerzielle Verwertung angesprochen ist, lässt sich an zahlreichen zeitgenössischen Phänomenen der Konsumkultur veranschaulichen, nicht zuletzt am Florieren und sich Naturalisieren des Sexmarktes. Denn „Sex ist etwas ganz Natürliches“, wird argumentiert, und kann als Dienstleistung zum Wohle der Gesundheit und Fitness unbedenklich eingekauft werden, wie die Verlagerung des Sex-Milieus vom schummrigen Rotlicht hin zu Sauna- und Wellness-Clubs eindrücklich belegt. (38) Dass dabei gut ist, was etwas kostet und besser, was viel kostet, folgt ebenso dieser Logik wie der Wunsch nach „mehr“. Mit den marktüblichen Instrumenten der Preisgestaltung nach Art des „Service“, der Kategorisierung der Waren von „gewöhnlich bis Luxus“ und der Verknappung der Waren – bei der Prostitution ist die Zeit ein verteuernder Faktor – macht sich auch der Sexmarkt diese Logik zunutze und optimiert dadurch das Geschäftsergebnis. Demzufolge ist die gehandelte Ware bei der Prostitution nicht etwa die oder der Prostituierte oder eine wie auch immer geartete mit „Arbeit“ oder „Arbeitszeit“ verbundene „sexuelle Dienstleistung“, sondern es ist die Prostitution als solche, die eine mögliche, nach Glück strebende zwischenmenschliche Interaktion als einen über den Markt vermittelten Ersatz feilbietet.

Ersatz wofür? fragen wir noch einmal, um Missverständnissen vorzubeugen. Ersatz für mangelnde sexuelle Kontakte oder Kontaktmöglichkeiten? Nein, denn die Aktionen, die im Rahmen der Prostitution vollzogen werden, müssen sich nicht zwangsläufig von solchen unterscheiden, die sich in einem nicht-prostitutiven Verhältnis abspielen. Es ist der Ersatz für die Potenz des Glücksgefühls, die mit der Käuflichkeit gekappt wird; eine Potenz, deren Wirkung weit über eine momentane
„Bedürfnisbefriedigung“ hinausgeht; eine Potenz aber auch, deren Wirkung das Scheitern beinhaltet.

1.5 Prostitution: Sex ohne Potenz

Und das ist womöglich der springende Punkt: Wenn in der Prostitution auch alle erdenklichen Wünsche befriedigt werden können, fehlt es ihr doch an Spannung, eine Spannung, die erst durch das mögliche Scheitern des Begehrens hervorgerufen wird. Im modernen Setting der Prostitution wird zwar kein Aufwand gescheut, die Illusion des möglichen Scheiterns aufrecht zu erhalten. Die Umgebung der Prostitution gleicht anderen Umgebungen wie z.B. Saunas, Fitness-Clubs, Hotelhallen aufs Haar oder ist sogar identisch, bis es ruchbar wird. Dort treffen sich dann die Geschlechter quasi zufällig unter Aufbietung aller schauspielerischen Tricks. Nicht zu sprechen von dem stets wechselnden oder exotischen Angebot, das mit neuen Frauen immer neue Situationen des möglichen Scheiterns oder eben des Erfolgs verspricht. Aber ob dies hilft, der drohenden, abgrundtiefen Langeweile Einhalt zu gebieten, die die Verharmlosung und Entwertung sexueller Energie in prostitutiven Geschlechtsverhältnissen offenbart? (40)

Prostitution bedeutet also ein mit dem Akt der Bezahlung und deren Akzeptierung um seine Potenz gebrachtes, vertraglich bekräftigtes risikofreies Geschlechtsverhältnis. Das Einverständnis zum Vertrag, der Bezahlung und deren Entgegennahme regelt und markiert die Absicherung für beide Vertragspartner, dass „darüber hinaus“ jegliche Ansprüche beiderseits erlöschen. Dabei spielt die Unsittlichkeit des Vertrags, die diesen nichtig macht, grundsätzlich keine Rolle mehr. Er könnte als alter Zopf problemlos gestrichen bzw. von der Rechtsprechung entsprechend interpretiert werden, sofern sich Prostitution auf die Gewerbefreiheit beruft und sich der Vertrag auf das Verhältnis von Freier und Prostituierter beschränkt. Problematisch hingegen ist das Abschneiden des alten Zopfs hinsichtlich organisierter Prostitution, wo Ansprüche von Drittpersonen geltend gemacht werden.

Das Paradox des solcherart im Akt der Prostitution mutilierten (42) Subjekts wird nach Möglichkeit von diesem selbst kaschiert: Einmal dadurch, dass echtes (sexuelles) Interesse vorgespielt wird, das mit dem „Abkupfern“ gleichzeitig als fake dekonstruiert wird, (43) dann mit der Aufmachung als begehrenswertes Liebesobjekt, das aber mit der Übertreibung oder auch mit der Nachahmung des Nicht-Übertriebenen (call-girls) augenfällig die Verharmlosung der Käuflichkeit markiert, sowie mit der Berufsethik der Professionellen, die sich den Ausdruck der „wahren Gefühle“ für ihren Freund, Zuhälter oder Ehemann aufspart und den Freier weder auf den Mund küsst noch ihn an „unnötigen“ Orten berührt, es sei denn, gegen Aufpreis.

Das mit der Käuflichkeit rigoros entschärfte Potenzial der Sexualität lässt sich durch ihre Deklaration als „Beruf“ oder „Arbeit wie jede andere auch“ kaum (wieder)herstellen. Mag sich Prostitution als Ausdruck der entfremdeten Arbeit, wie sie Marx beschrieben hat, als Sex-Arbeit verstehen und sich dadurch bei finanziellem Erfolg einer gewissen sozialen Akzeptanz erfreuen – mit Sexualität, die sich, wie Freud schreibt, durch ein Mehr an Lust auszeichnet, oder mit Arbeit, deren emanzipatives Potenzial in Anlehnung an Freud und Marx durch ein Mehr an Lohn in Form von Geld ausdrücken ließe, hat Prostitution herzlich wenig zu tun. Diese als „Sex-Arbeit“ durchzusetzen oder zu bekämpfen kann deshalb kein Anliegen emanzipativ orientierten Feminismus sein.

1.6 Ungleiche soziale Stellung der Geschlechter – Gleichheit im Vertrag?

Kappeler bestreitet den sexuellen Verkehr als Grundlage oder Motivation der Prostitution ebenfalls. „Nicht sexueller Verkehr – denn der wäre gegenseitig und damit schon ausgetauscht, ohne die Intervention von Geld-, sondern Schaffung männlicher Identität … ist die [ … ] Dienstleistung am Mann am Beispiel der Sex-Arbeit“ (Kappeler (2003): 110f.) oder, wie O’Connell Davidson formuliert, die Herstellung geschlechtlicher Statushierarchie. (44) „Und diese Männlichkeit“, so Kappeler weiter, konstituiert sich nicht nur über den Akt der Dienstleistung der Fraulichkeit, sondern umso mehr aufgrund der Asymmetrie eines Arbeitgeber-Arbeitnehmerinverhältnisses – der Dominanz des eigenen und der Unterwerfung eines anderen Willens mittels Entlöhnung.“ Als Essenz des Freiererlebnisses bezeichnet Kappeler also die Herstellung männlicher Identität mittels Dominanz im Arbeitgeber-Arbeitnehmer(in)-Verhältnis. (45)

Ich nehme den Faden von Prostitution als Herstellung männlicher Identität auf, grenze mich aber von der Auffassung „Prostitution als Sex-Arbeit“ ab, da der der Prostitution zugrunde liegende (unsittliche) Vertrag zwischen Prostituierter/m und Freier nicht auf einem bestimmten Arbeitsprodukt, sondern auf der Begrenzung gegenseitiger Ansprüche innerhalb und außerhalb der Prostitution gründet, der Gegenstand des Vertrags also die Prostitution selbst ist. Ich postuliere aber ein Verhältnis der Bestechung und Bestechlichkeit und knüpfe damit an die soziale und ökonomische Ungleichstellung der Geschlechter an.

1.7 Prostitution als Bestechlichkeit und Bestechung

Prostitution markiert den radikalen, extremen Pol auf der Skala der Käuflichkeit, und zwar Käuflichkeit im Sinn von Bestechung und Bestechlichkeit, was das Gegenteil von Integrität bedeutet. Soll jemand bestochen werden, so erwartet man von der Person ein Verhalten, eine Komplizenschaft oder Handlungen, die sie ohne das „Schmiergeld“ aus eigenen Stücken nicht zeigen würde oder bereit wäre zu tun. Dabei kann Bestechlichkeit durchaus professionelle Züge annehmen und finanziell ordentlich zu Buche schlagen. Es braucht überdies professionelle Kenntnisse, um diese Tätigkeit mit wechselnden „Geschäftspartnern“ über Jahre aufrechtzuerhalten. Aber es würde wohl kaum jemandem in den Sinn kommen, daraus einen „Beruf“ machen oder dies als „Arbeit“ bezeichnen zu wollen, denn Bestechung widerspricht demokratischen Grundsätzen und gehört strafrechtlich verfolgt.

Bestochen oder „gekauft“ wie wir in der Schweiz sagen, wird nur jemand, bei dem es sich lohnt. Jemand, der eine Schlüsselposition bezüglich denjenigen Ressourcen innehat, deren Zugang beschwerlich, der Konkurrenz ausgesetzt oder gar nicht zu erreichen sind. Das heißt, es ist die Position, das Amt, die anderweitige Verpflichtung, die jemanden bestechbar macht. Dabei hat der Inhaber diese Position nur inne, weil von ihm erwartet werden kann, dass er nicht bestechlich, sondern integer, nach den allgemein anerkannten Grundsätzen handelt.

Auf die Prostitution übertragen lässt sich fragen, welche Position denn die „Weiblichkeit“ (46) innehat, welchem anderen sie verpflichtet ist, dass sie bestochen werden muss, damit sie „es“ „vergisst“? Was für eine Position der Frauen lässt die Männer mit einem Misserfolg oder mit Schwierigkeiten, bei ihr zu „landen“ rechnen, sodass sie diese Möglichkeit mit einem bestechenden Geldangebot kurzerhand ausschließen wollen?

Die Antwort ist einfach und komplex zugleich, da sie verschiedene diskursive Begründungszusammenhänge anspricht: Es ist die Anerkennung des weiblichen Begehrens und die Anerkennung der Geschlechterdifferenz, das dem Freier ungeheuerlich vorkommt. Es ist der Anspruch auf Integration in die universelle moralische Gleichwertigkeit von Männern und Frauen, vor dem er sich fürchtet. Es ist der Anspruch auf Anerkennung und Integration einer differenten Produktivität von Frauen, die ihn verunsichert. Es ist der Anspruch auf gesellschaftliche Integration und Sicherheit, auf sexuelle Integrität sowie gewalt- und machtfreie sexuelle Austauschbeziehungen, die sie von ihm verlangt. Es ist der Anspruch auf berufliche, politische, soziale Integration, mit der er nicht klarkommt. Es ist der Anspruch auf Ebenbürtigkeit mit dem Mann, auf Gleichberechtigung und Gleichstellung sowie auf Anerkennung der Differenz auf allen Ebenen, von dem sich der Freier nicht herausfordern lässt.

1.8 Achsen der Gerechtigkeit

Die Kämpfe um Anerkennung fallen in der heutigen postmodernen und postsozialistischen Ära in eine Zeit verschärfter materieller Ungleichheit. Nancy Fraser setzt sich die Aufgabe, „eine kritische Theorie der Anerkennung zu entwickeln, die diejenigen Versionen einer kulturhistorischen Politik der Differenz bestimmt und auch nur diese Versionen verteidigt, die sich mit der Sozialpolitik der Gleichheit kohärent verbinden lassen“. (47) Dabei geht es um nichts weniger als um die Herstellung von Gerechtigkeit und um Begriffe und Vorstellungen von Gerechtigkeit, die die Autorin im Konzept der zwei sozialen Achsen neu formuliert. Diese Formulierung bildet die Phänomene um Frauenhandel und Prostitution aus der Perspektive von Differenz und Integration adäquat ab, weshalb ich kurz darauf eingehen möchte.

Die eine Achse der Gerechtigkeit liegt auf der kulturellen Ebene, der symbolischen Ordnung, und beruft sich auf tatsächliche oder vermeintliche Besonderheiten von sozialen (Groß-)Gruppen. Soziale Ungerechtigkeit wird auf Grund der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe als Diskriminierung, Verachtung, Androzentrismus, Misogynität oder Rassismus erfahren bzw. interpretiert. Als Idealtyp auf dieser Achse werden die augenfälligen Gruppen der „Rassen“ und Ethnien bezeichnet. Maßnahmen, um Gerechtigkeit herzustellen, beziehen sich unter Voraussetzung des universellen Postulats der moralischen Gleichwertigkeit aller Personen auf die Anerkennung der Gruppen, auf die Stabilisierung ihrer Identitäten und die Anerkennung der Differenz gegenüber anderen Gruppen.

Die andere Achse der Gerechtigkeit liegt auf der Ebene der politischen Ökonomie und beruft sich auf eine Struktur der Gleichheit von Optionen für alle gesellschaftlichen (Groß-)Gruppen, was den Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen wie Produktivität, Macht, Sicherheit, Bildung, Nahrung, Gesundheit, politische und ökonomische Partizipation, Integration und dergleichen betrifft. Ungerechtigkeit wird auf Grund der Zugehörigkeit zu von diesen Gütern ausgeschlossenen oder daran vermindert partizipierenden Gruppen als Ausbeutung, diskriminierende Trennung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, Deprivation, Marginalisierung, Ungleichstellung, Chancenungleichheit erlebt und interpretiert. Als Idealtyp fungiert hier die Arbeiterklasse. Maßnahmen, um Gerechtigkeit herzustellen, beziehen sich unter Voraussetzung des gleichen universellen Postulats auf die Abschaffung der Differenzen zu andern sozialen Gruppen und auf den Anspruch der Gleichheit aller. Die energetische Orientierung der Maßnahmen zur Herstellung von Gerechtigkeit ist einander auf den beiden Achsen entgegengesetzt, insofern sie sich auf die Anerkennung bzw. auf die Abschaffung der Differenz beziehen.

Im Begriff gender überschneiden sich die Achsen und legen den zweiwertigen Charakter des Begriffs frei. Diese Zweiwertigkeit ist die Quelle eines Dilemmas, das Fraser als Anerkennung-Umverteilungs-Dilemma bezeichnet, da die Ziele auf beiden Achsen und gleichzeitig angestrebt werden. Sie unterscheidet affirmative Maßnahmen, die die Differenz stärken, aber Gruppenantagonismus fördern sowie eine stigmatisierende Anerkennungsdynamik in Gang setzen, was das moralische Gleichwertungspostulat untergräbt, von transformatorischen Maßnahmen, die Ursachen der Differenz und der Ungleichheit in Frage stellen und sich mit einer quasi vorübergehenden und partiellen Anerkennung begnügen. Sie fordert, dass die Ansprüche auf Anerkennung vom Standpunkt sozialer Gleichheit aus zu beurteilen seien. Varianten, die die Menschenrechte, die moralische Gleichwertigkeit und die Menschenwürde missachten, seien zu verwerfen, selbst dann, wenn sie soziale Gleichheit fördern. Denn wir sitzen in einem Teufelskreis sich gegenseitig verstärkender kultureller und ökonomischer Unterordnung fest: „Unsere gut gemeinten Bemühungen, diesen Ungerechtigkeiten vermittelst des liberalen Wohlfahrtsstaates, ergänzt um einen gängigen Multikulturalismus, zu Leibe zu rücken, führen zu völlig verkehrten Resultaten. Wir können das Erfordernis der Gerechtigkeit nur dann erfüllen, wenn wir uns alternativen Konzeptionen von Umverteilung und Anerkennung zuwenden“ (Fraser: 66). Ziel dieser Arbeit ist, dazu einen Beitrag zu leisten.

1.9 Thesen

Die vorliegende Forschungsarbeit stellt sich die Aufgabe, die konkreten Prozesse und Strukturen der aktuellen Problematisierung von Frauenhandel und Prostitutionsmigration zu beschreiben und dabei folgende Thesen zu prüfen:

Die heutige diskursive Wahrnehmung der Phänomene um Frauenhandel signalisiert einen Wandel in der Debatte um Prostitution innerhalb der Debatte um das Geschlechterverhältnis und beeinflusst diese. Dabei werden Diskurse, die an der strukturellen Ungleichheit von Geschlecht anknüpfen und die globale geopolitisch-ökonomische Hierarchie in die Debatte mit einbeziehen, zugunsten von (abeits)marktorientierten partikularen Anerkennungsargumenten verdrängt.

Instanzen des Rechts, zentraler Bereich moderner demokratischer Gesellschaften, folgen – aufgrund mangelnder politischer Einflussnahme – in ihrem Diskurs um Frauenhandel der Eigenlogik der auf Vertragsfreiheit, Eigentumsrechten und persönlichen Freiheitsrechten gründenden nationalen Strafgesetze und sind deshalb nur beschränkt in der Lage, in einer geopolitisch und strukturell hierarchisch gegliederten sozialen Umwelt Gerechtigkeit herzustellen.
Das Konzept „Prostitution als Arbeit“ reflektiert die gesellschaftliche Tendenz, herrschende Politik als Regelung der Partizipation am Markt – wenn nötig aggressiv – zu formulieren und gegenläufige Tendenzen in die Defensive zu drängen.

Die dekonstruierte öffentliche Moral (in unserem Fall die Abschaffung der öffentlichen Sittlichkeit als geschütztes Rechtsgut) taucht am anderen Ende der Gesellschaft als individualisierte, private Schuld oder Unschuld wieder auf: Sie wird im juristischen Einzelfallkonzept von „Opfer und Täter“ (im Fall von Frauenhandel) oder als Vertragsfreiheit bzw. Vertrag zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer (im Fall von Prostitution) sanktioniert.

Der auf dem demokratischen Gleichheitspostulat gründende Legitimationsbedarf von partikularen Anerkennungspraktiken beruft sich auf die Toleranz der Gesellschaftsmitglieder, die aufgrund eben der Partikularität ihre als Toleranz angesprochene, aber grundsätzlich als Gleichgültigkeit und Beliebigkeit lesbare Haltung nur dann aufgeben, wenn ihre eigene partikulare Interessenlage bedroht scheint oder ist.

Frauenhandel tritt heute in der Schweiz wesentlich in Form von organisierter Prostitutionsmigration auf und ist aufgrund des markanten Wohlstandsgefälles zwischen den Staaten durch Aussicht auf hohen Gewinn motiviert, der sich aus dem Erwerb der im Graubereich des Marktes illegal tätigen, durch Abzahlungspflichten an (unsittliche) Verträge gebundene Prostituierte abschöpfen lässt.

Entgegen der verbreiteten Ansicht von Prostitution als „ältestem Gewerbe der Welt“ zeigt sich in der organisierten Prostitutionsmigration die Abhängigkeit der Prostitution von gesellschaftlichen Parametern, die ihrerseits gesellschaftlichem Wandel unterworfen sind, was dem Konzept von „Prostitution als einem zeitlosen Naturereignis“ widerspricht.

Der Figur der modernen Prostituierten als selbständig Erwerbende oder Angestellte mit Umsatzbeteiligung und gutem Gehalt, die sich fit hält, auf ihre Präsentation achtet und ihre Tätigkeit mit Engagement ausübt, entspricht die Individualstruktur von Partizipanten der hegemonialen gesellschaftlichen Schichten. Die charakteristische Käuflichkeit, die untrennbar mit dem Metier verbunden ist, pervertiert allerdings den Anspruch auf Zugehörigkeit zur hegemonialen Schicht, da gerade die Selbstbestimmung bzw. die Selbstkontrolle die Antithese zu Käuflichkeit und Bestechung bildet. Da Selbstbestimmung und Selbstkontrolle das konstituierende Merkmal der aktuellen Persönlichkeitsstruktur auf der Grundlage der persönlichen Freiheitsrechte ist, wird ihre Antithese als Todsünde tabuisiert und ritualisiert. Der Versuch, Käuflichkeit als „Arbeit wie jede andere“ zu habilitieren, muss unter diesen Voraussetzungen grundsätzlich scheitern, da sie explizit und nur in Form der Prostitution als Antithese zu Integrität konstituierend ist. Das Konzept von Prostitution als „Arbeit wie jede andere“ verweist Prostituierte deshalb an den sozialen Ort der Diskriminierung. Denn Prostitution ist der gesellschaftliche Schatten des Kerns der hochgehaltenen Individualstruktur, nämlich der Integrität, die die persönlichen Freiheitsrechte unserer demokratischen Zivilisation repräsentiert.

1 Elias, Norbert (1976): Über den Prozess der Zivilisation.
2 Dazu Luhrnann, Niklas (1997): Das Recht der Gesellschaft.
3 Theodor W. Adorno und andere (1968) (New York 1950, gekürzte dt. Fassung 1953): Der autoritäre Charakter. Studien über Autorität und Vorurteil. Band l und (1969): Band 2; Deleuze, Gilles und Guattari, Felix (1977) (fr. Paris 1972): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie; Irigaray, Luce (dt. 1979, fr. 1977): Das Geschlecht das nicht eins ist; Benjamin, Jessica (1999) (engl. 1988): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht; Soiland, Tove (2003): Irigaray mit Marx lesen. Eine Rehabilitierung des Denkens der sexuellen Differenz; Strassberg, Daniel (2004): E pluribus unum: Von der ver­ borgenen Theologie der Psychoanalyse.
4 Benjamin, Walter: Geschichtsphilosophische Thesen, in: Benjamin, W. (1965): Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze.
5 Barthes, Roland (1980) (Paris 1957): Mythen des Alltags, S. 132.
6 Trechsel, Stefan (1997): Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, Art. 196 StGB, Menschenhandel, S. 732.
7 Foucault, Michel (1986a): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit, Bd. 2.
8 Gilbert, Anne-Franc;oise (2001): Kampf um die Welt – Sorge um sich selbst. Lebensentwürfe und kulturelle Räume lediger Frauen in der Modeme, S. 79.
9 Prokop, Ulrike (1991): Die Illusion vom Großen Paar, Band I: Weibliche Lebensentwürfe im deutschen Bildungsbürgertum 1750-1770.
10 Habermas, Jürgen (1962) (1990): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft.
11 Fraser, Nancy (1989): Unruly Practices: Power, Discourse and Gender in Contemporary
Social Theory.
12 Wunder, Heide (1997): Herrschaft und öffentliches Handeln von Frauen in der Gesellschaft der Frühen Neuzeit, in: Gerhard, Ute (Hg.), S. 27-54.
13 Gerhard, Ute (1997): Grenzziehungen und Überschreitungen. Die Rechte der Frauen auf dem Weg in die politische Öffentlichkeit, in: Gerhard, Ute (Hg): Frauen in der Geschichte des Rechts, S. 509-546.
14 Die sehr verspätete öffentlich politische Gleichberechtigung der Frauen in der Schweiz (Stimm- und Wahlrecht wurde auf Bundesebene erst 1972 eingeführt), versucht Ute Gerhard damit zu erklären, dass das Vereinsrecht in der Schweiz den Frauen bedeutend mehr Mög­ lichkeiten einräumte, sich politisch und sozial zu organisieren, als dies in Deutschland der Fall war, Gerhard: 528.
15 Madörin, Mascha (2003): Gender Budget. Erfahrungen mit einer Methode des Gender Mainstreaming, in: Widerspruch 44, S. 35-50.
16 Prokop, Ulrike (1991): Die Illusion vom Großen Paar, Band 1: Weibliche Lebensentwürfe im deutschen Bildungsbürgertum 1750-1770.
17 Dazu Gerhard, Ute (Hg.) (1997): Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der frühen Neu­ zeit bis zur Gegenwart; Joris, Elisabeth und Witzig, Heidi (1986): Frauengeschichte(n). Do­ kumente aus zwei Jahrhunderten zur Situation der Frauen in der Schweiz.
18 Gilbert, Anne-Francoise (2001): Kampf um die Welt- Sorge um sich selbst. Lebensentwürfe und kulturelle Räume lediger Frauen in der Modeme.
19 Im angelsächsischen Sprachgebrauch heute als professionals bekannt.
20 Tobler, Verena (2001): Zweierlei Kernkultur im Einwanderungsland. Von der Erkenntnis der Unterschiede zur Integration, in: Neue Zürcher Zeitung vom 16.3.2001.
21 dos Santos Silva, Marinete (1988): Die Prostitution in Rio de Janeiro im 19. Jahrhundert, in: Becher, U. und Rüsen, J. (Hg.): Weiblichkeit in geschichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproblemen der historischen Frauenforschung.
22 Zit. nach Gerhard, Ute (1997): S. 522.
23 Studer, Brigitte (2001): Neue Grenzziehungen zwischen Frauenarbeit und Männerarbeit in
den dreißiger Jahren und während des Zweiten Weltkriegs, in: Wecker, R.; Studer, B.; Sutter,
G. (Hg.): Die schutzbedürftige Frau, S. 83-106.
24 von Werlhof, Claudia (1983): Frauen, die letzte Kolonie, in: Werlhof, C.; Mies, M., Bennholdt-Thomsen, V. (Hg.): Frauen, die letzte Kolonie.
25 Vgl. Vinken, Barbara (2003): Weibsbilder. Sendung über Frauen, im Bayrischen Fernsehen
vom 1.8.2003: Planet-Wissen.de.
26 Strassberg, Daniel (2004): E pluribus unum. Von der verborgenen Theologie der Psychoana-
lyse.
27 Ehrenreich, Barbara (1992): Angst vor dem Absturz. Das Dilemma der Mittelklasse.
28 Sassen, Saskia (1996): Migranten, Siedler, Flüchtlinge. Von der Massenauswanderung zur Festung Europa.
29 Jegher, Stella (2003): Gender Mainstreaming. Ein umstrittenes Konzept aus feministischer Perspektive; Schunter-Kleemann, Susanne (2003): Was ist neo-liberal am Gender Mainstrea­ ming?; Madörin, Mascha (2001): Gender Budget. Erfahrungen mit einer Methode des Gender Mainstreaming, alle in: Widerspruch 44.
30 Soiland, Tove; Kappeler, Susanne etc.
31 Kappeler, Susanne (2003): Frauenhandel und Freier-Markt, in: Widerspruch 44, S. 109-119.
32 Marx, Karl (1974), (manus.1857/58): Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie.
33 Zahlreiche Beispiele in Literatur und Film, etwa Pygmalion von Bernhard Shaw („My fair Lady“).
34 Prostitution als „notwendiges Übel“.
35 Sigmund Freud, GW XVI, (1936) S. 251, zit. nach Strassberg.
36 Dazu auch Soiland, Tove (2003): lrigaray mit Marx lesen, in: Widerspruch 44: Feminismus, Gender, Geschlecht.
37 Persönliche Mitteilung des Psychoanalytikers Ronnie Weissberg, Zürich 2004.
38 Siehe dazu Interviews auf den folgenden Seiten.
39 Dies mag allenfalls in Extremfällen zutreffen, wo therapeutische Maßnahmen in diesem Bereich angezeigt oder zumindest diskutabel sind. Ein Projekt im Rahmen der Schweizerischen Invalidenversicherung diskutiert derzeit entsprechende Therapiemöglichkeiten.
40 Die in bestimmten Segmenten des Sexmarktes immer härtere Gangart der organisierten Prostitution, wo versucht wird, die Lust an der Spannung ohne eigenes Risiko durch physische Gewalt und reales Leiden von Opfern bis zu deren Vernichtung zu befriedigen, ist symptomatisch für den Ersatz und die Entwertung der Sexualität in der Prostitution.
41 Hürlimann, Brigitte (2004): Prostitution – ihre Regelung im schweizerischen Recht und die Frage der Sittenwidrigkeit. Diss. Freiburg; Heller, Heinz (1998): Schwarzarbeit: Das Recht
der Illegalen. Diss. Zürich.
42 Bezeichnenderweise existiert auf Frauen bezogen kein entsprechender Begriff, als ob sie nicht „kastriert“ werden könnten. Der Unterschied zwischen heterosexuellen und homosexuellen männlichen Prostituierten ist deutlich. Jene verspüren (auf Grund ihrer „Kastration“?) oft Hass auf ihre homosexuellen Kunden, wobei gewaltsame „Racheakte“ nicht selten sind. Prominentes Beispiel: Pier Paolo Pasolini, ermordet und ausgeraubt von einem Strichjungen.
43 Interviews mit Prostituierten in: Ahlemeyer, H. (1996): Prostitutive Intimkommunikation.
44 O’Connell Davidson, Julia (1998): Prostitution, Power and Freedom.
45 Ähnlich auch Biermann, Pieke (1980): „Wir sind Frauen wie andere auch.“ Prostituierte und ihre Kämpfe sowie Pateman, Carole (1988): The Sexual Contract.
46 Ich beziehe mich hier auf Frauen im Sinn von gender. Für männliche Prostituierte ist hier der gender-Begriff nicht anwendbar, da weder alle männlichen Prostituierten homosexuell sind, noch diese Tätigkeit mit zunehmendem Alter ein Einkommen verspricht. Dies schließt aber gleichgeschlechtliche Prostitution vom Postulat der Prostitution als Bestechung keineswegs aus, da lediglich die Farbe männlicher Identität um eine Variante bereichert wird.
47 Fraser, Nancy (2001) (am. 1997): Die halbierte Gerechtigkeit. Gender Stndies, S. 24ff.