Frauenhandel 4.1 Der Prostitutionsmarkt

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© ProLitteris, Rahel Zschokke

4 Die Prostitutionsmigration in der Schweiz

4.1 Der Prostitutionsmarkt in der Schweiz

4.1.1 Das Marktvolumen

Roland Barthes hegte bereits Mitte der 50er Jahre den Verdacht, dass eine gewisse sexuelle Liberalisierung der Ent-Erotisierung der Massenkultur diene (als solche qualifizierte er die Pariser Striptease-Shows und die Rotlichtaktivitäten). Er sähe sich vom boomenden Sexmarkt hierzulande und heute wohl kaum überrascht. (305)

Gesamtzahlen betreffend einschlägige Lokale, Prostituierte, Kunden von Prostituierten oder Entwicklungen beruhen auf Schätzungen und Hochrechnungen. Verfügbare Daten über registrierte Lokalitäten, Prostituierte, Tänzerinnen und Umfragen bei Kunden dienen als Schätzungsgrundlage. Kenner und Beobachter des Prostitutionsmarktes, allen voran städtische und kantonale Strafverfolgungsbehörden und im Milieu tätige NRO, stimmen überein, dass der größere Teil der Akteure außerhalb der gesetzlichen Verbindlichkeiten am Markt teilhat, dass dies aber insbesondere auf diejenigen Segmente zutrifft, die die Grundlage zur Entwicklung bilden und zum ansteigenden Wachstum des Prostitutionsmarktes führen. Im Folgenden soll daher weniger auf Schätzungen und Zahlen abgestellt, sondern versucht werden, die aktuellen Marktmechanismen zu beschreiben.

Der Ökonom und Schwarzmarktspezialist Friedrich Schneider schätzt das Volumen des Sexmarktes in der Schweiz auf ca. 4 Milliarden Franken, also gleichviel, wie die Schweiz im Jahre 1995 für Rüstung ausgegeben hat. (306) Den Beitrag der Segmente Homo-Szene, Nachtklubs, Presse und andere Medien sowie Diverses beziffert er auf je zwischen 7 und 10% des Gesamtumsatzes. Das große Geld liege aber in der Prostitution. Der Autor geht von ca. 4000 legalen Prostituierten in der Schweiz aus, die einen Umsatz von etwa 600 Millionen Franken erwirtschaften. Dazu rechnet er einen zusätzlichen, etwa dreimal so hohen Umsatz, der von illegalen Prostituierten, also Prostitutionsmigrantinnen, erwirtschaftet wird. Die vorliegende Untersuchung bestätigt diese Proportionen.

Das Bundesamt für Polizei schätzt eine Gesamtzahl in der Größenordnung von 14’000 weiblichen Prostituierten in der Schweiz und zählt konservative 50% des rund 2000 Frauen umfassenden Tänzerinnenkontingents dazu. (307) Einzelne Polizeistellen und NRO schätzen die Gesamtzahl auf bis zu 20’000 Prostituierte. Mit einbezogen ist bei der letztgenannten Zahl die Schätzung von Grenzgängerinnen im Raum des Dreiländerecks Basel und im Grenzkanton Tessin. Die kantonalen und städtischen Polizeikorps gehen davon aus, dass in Städten Zürich, Bern, Basel und Genf zusammen über 700 Sex-Salons betrieben werden. (308)

4.1.2 Der Tessiner Prostitutionsmarkt

Im Tessin hat die Prostitution in Hotelbars in den 90er Jahren den größten Zuwachs zu verzeichnen, wie aus verschiedenen Quellen hervorgeht. (309) Ausgehend von der Grenzstadt und dem Finanzplatz Lugano und Umgebung hat sich Ende der 80er Jahre die Prostitution in Hotelbars in kurzer Zeit über das ganze Kantonsgebiet ausgebreitet. Durch die wirtschaftliche Krise, die den Kanton Tessin und im Speziellen den Hotelsektor stark getroffen hat, regte der Erfolg der ersten Hotelbars in Lugano weitere Hotelbetreiber an, ihre Geschäftsaktivitäten anzupassen und zu diversifizieren. Während „normale“ Hotels eine durchschnittliche Auslastung von 46% erreichen (Ticino Turismo, 1998), können „umgewandelte“ Hotels mit einer Zimmerauslastung von bis zu 100% rechnen. Dasselbe gilt auch für die Liegenschaften, die in Hotels mit dazugehöriger Bar umgewandelt worden sind. Die Zimmerpreise sind zudem höher als in „normalen“ Hotels und reichen von 80 Franken für Zimmer mit bescheidener Ausstattung bis zu 150 Franken pro Zimmer und Nacht. Lokale wie das „Tortuga“ oder das „Gabbiano“ in Lugano-Loreto, wo bis zu 30 Frauen übernachten, bringen monatlich hohe Einkünfte (geschätzte 135’000 Franken). Der Zustrom von Freiern aus Norditalien, die die Mehrheit der Klientel ausmachen, gilt als weiterer Entwicklungsfaktor. Während die Prostitution in Italien weitgehend von der Straße ausgeht, scheinen die Tessiner Hotelbars mehr auf die Bedürfnisse der Klientel nach Unterhaltung, Komfort, hygienischer Sicherheit und Anonymität einzugehen.

Eine Auftragsstudie des Staatsrates des Kantons Tessin gibt eine Übersicht über den geographisch begrenzten und deshalb übersichtlichen Kanton Tessin. (310) Von den insgesamt 954 eruierten Prostituierten sind 230 in Nachtclubs, 504 in Hotelbars und 220 in Privatwohnungen, Massagesalons und Saunas tätig. Die meisten ausländischen Prostituierten kommen aus Osteuropa (427), 211 aus Lateinamerika, 58 aus europäischen Staaten, 7 aus Afrika und 2 aus Südostasien. Die meisten Prostituierten sind um die 20 Jahre alt, einige soeben erst volljährig geworden, keine ist über 30. Es sind 37 Nachtclubs, 44 Hotelbars und 220 Wohnungen sowie 5 Massagesalons und Saunas registriert. 51% der Rotlichtaktivitäten konzentrieren sich im Gebiet von Lugano und Umgebung, gefolgt von Bellinzona. (311) Fachleute schätzen den Jahresumsatz allein für den Kanton Tessin auf 1,7 Milliarden Franken. (312) Der Bau der „Alptransit“ in der Leventina und der Riviera und die Sexpendler aus der Lombardei brachten Freierverkehr ins Tessin und trug dem Kanton in wenigen Jahren den Ruf eines großen Rotlicht-Vergnügungsparks ein. (313)

Dieses Muster einer Infrastruktur des Prostitutionsmarktes findet sich vor allem im Tessin, aber auch in weiteren kleineren und mittelgroßen Städten der Deutsch- und Westschweiz sowie in Randzonen von traditionellen Tourismusgebieten wie dem Wallis und Graubünden.

4.1.3 Entwicklung und Ausbreitung des Prostitutionsmarktes

Wir befragten unsere InterviewpartnerInnen zu ihrer Einschätzung der Entwicklung des Sexmarktes über die letzten zehn Jahre in ihrem Kanton oder in ihrer Region. Alle konstatieren eine Zunahme mit regionalen Unterschieden und eine Diversifizierung der Angebotsstrukturen. Der Straßenstrich gehe eher zurück, die Anzahl Massagesalons, Wellness-, Fitness-, Sauna- und Privatclubs sowie das Angebot in umfunktionierten Hotel- und Kontaktbars habe zugenommen.

Sie beobachten ein abgeschwächtes Wachstum im Bereich, wo Prostitution legal ausgeübt wird, und stellen andererseits fest, dass der Bereich der verdeckten oder illegalen Prostitution sich ständig vergrößere. Konkurrenz- und Verdrängungskämpfe zwischen den Clubbetreibern und unter den Prostituierten haben zugenommen. Etablierte Prostituierte in den größeren Städten geben der Polizei Hinweise auf außerhalb des gesetzlichen Rahmens tätige Frauen, was dann Anlass zu Razzien, Festnahmen und Ausweisung der Ausländerinnen oder zur Aufdeckung von „Händlerringen“ und weiteren Ermittlungen bis zu Gerichtsprozessen führen kann. In Genf hat sich dank des Prostituiertenregisters eine Art „alte Garde“ von Prostituierten halten können (die älteste im Dienst hat Jahrgang 1930), die die Konkurrenz von Sextouristinnen abwehren, indem sie der Polizei Hinweise geben. Viele von ihnen spezialisieren sich auf besondere Praktiken und Marktnischen, wo sie höhere Preise mit Stammkunden realisieren können.

Das Bundesamt für Polizei stellt auch einen Anstieg der Verzeigungen wegen unzulässiger Ausübung der Prostitution fest. (314) In den wichtigen Prostitutionsszenen der Städte Bern und Zürich stiegen die entsprechenden Verzeigungen im Jahr 1999 um 38% auf rund 600 Fälle. Die Behörden werten dies als Zeichen für den Verdrängungskampf von etablierten Prostituierten gegen ihre nicht registrierten Konkurrentinnen innerhalb der Rotlichtzone. (315)

Dezentralisierung ist ebenfalls ein Thema auf dem Prostitutionsmarkt. In ländlichen Kantonen öffnen große Eros- und Wellness-Zentren ihre Tore, speziell entlang der Autobahn Al, während sich die städtischen Rotlichtmilieus kaum vergrößern (Kantonspolizei Solothurn und Stadtpolizei Zürich). In ländlichen Regionen scheint es eine Art „Enttabuisierung“ des Sexmarktes gegeben zu haben, so dass auch in relativ kleinen Ortschaften Etablissements entstehen konnten. Die Entwicklung verlief in den 90er Jahren in gewissen Regionen geradezu sprunghaft, etwa im Tessin, aber auch in den Kantonen Bern und Solothurn, wo der Sexmarkt auf das Zehnfache des ursprünglichen Angebots wuchs. In anderen Kantonen geht man ebenfalls von einer Zunahme des Angebots aus, schreibt dies aber eher einer Verlagerung zum grauen oder illegalen Markt zu. Denn gerade Schweizer Prostituierte beklagen sich über schlechter gehende Geschäfte (Kantonspolizei Lausanne).

Nicht nur stieg der Anteil Ausländerinnen auf dem Prostitutionsmarkt, es hat sich auch die Palette der Herkunftsländer erweitert. Insbesondere sind Frauen aus Osteuropa neu hinzugekommen, teilweise auf Kosten der Schweizerinnen und Thailänderinnen. „Die Thai-Salons, von denen es früher ganz viele gab, die sind jetzt am Verschwinden, die wenigen, die es noch gibt, laufen auf dem Zahnfleisch. Das ist dahin“ (Polizeikommandant Kanton St. Gallen).

Obwohl Rumäninnen aus sprachlichen Gründen vor allem in der Westschweiz tätig sind, machen hier Osteuropäerinnen lediglich bei den Tänzerinnen einen großen Anteil aus. In den Salons und auf dem Straßenstrich sind viele Schwarzafrikanerinnen anzutreffen, welche in der Deutschschweiz schwächer vertreten sind (französischsprachige Frauen aus ehemaligen französischen und belgischen Kolonien). Aber auch in der Deutschschweiz gibt es keine gleichmäßige Verteilung von Osteuropäerinnen, vermutlich eine Folge von unterschiedlichen Vermittlungskanälen. „Komischerweise werden die Oststaatenfrauen in andere Kantone eingeteilt, die Innerschweiz ist da so ein Abnehmer, aber auch Bern, Richtung Basel und Solothurn hinunter“ (Polizeibeamter Kanton Zürich).

Es ist schwierig, Genaueres über die Prostitutionsmigrantinnen aus den ehemaligen Ostblockländern zu erfahren, denn auch die NRO-Vertreterinnen und Mediatorinnen haben Mühe, Kontakt mit den Frauen aufzunehmen, da sie eher verschlossen seien und womöglich unter Druck stünden: „Ende 96 hat das angefangen zu boomen, da sind massenweise Frauen aus dem Osten, Russland, der Ukraine und auch Tschechien hierher gekommen. Wir haben herausgefunden, dass es sehr schwer ist, diese Frauen anzusprechen und sie überhaupt zu kontaktieren. Erstens war es sehr versteckt, und wenn man sie angesprochen hat, waren sie sehr unverfänglich. Dann hatten wir eine Zeit lang keine Mediatorin mehr, und nachher vor einem Jahr hatte ich für ein Jahr eine Ukrainerin als Mediatorin, und sie hat auch große Schwierigkeiten gehabt, an die Frauen heranzukommen. Es war schwierig, die Frauen überhaupt zu finden. Über einen speziellen Laden haben wir versucht, Informationen über die Frauen zu erhalten. Der Ladenbesitzer meinte auch, dass sie schwierig zu finden seien und dass sie oftmals „Edelnutten“ seien. Die suchten ihre Kunden in Hotelbars oder so. Bei den Tänzerinnen in den Cabarets hatten wir schon Zugang gehabt, aber auch dort war es schwierig. Deshalb haben wir nach einem Jahr wieder aufgehört. Wir haben auch gemerkt, dass viele dieser Frauen wieder abgewandert waren, es war ihnen zu teuer hier, glaube ich, und sind in den süddeutschen Raum arbeiten gegangen“ (Leiterin Aids-Hilfe Schweiz Chur, Barfüsser-Projekt).

Eine Besonderheit weist der Platz Zürich auf, wo auch die männliche Prostitutionsmigration aus Osteuropa floriert. Die Stadtpolizei Zürich geht von der ständigen Anwesenheit von etwa 200 osteuropäischen Strichjungen aus, die jeweils einige Monate in der Schweiz Geld verdienen, bevor andere junge Männer sie ersetzen. Mit der Liberalisierung des Schweizer Wirtschaftsgesetzes ist es in den letzten zehn Jahren einfacher geworden, einen Restaurationsbetrieb, eine Bar oder ein Tanzlokal zu eröffnen. Auch die Öffnungszeiten werden liberal gehandhabt. So gibt es zum Beispiel in Zürich zahlreiche Lokalitäten, in denen nicht nur getrunken, gegessen oder getanzt wird, sondern „Durchreisende“, sei es zu speziellen Gelegenheiten, an Wochenenden oder auch alltäglich, ihre Dienste anbieten. Dies gilt besonders für „Szenebars“ der männlichen Prostitution oder Diskotheken, in denen ein internationales Publikum verkehrt.

Parallel zum Aufkommen von Discos und Szenebars ist auch der Trend zu Swinger-, Sauna-, Fitness-, Wellness-Zentren und Privatclubs mit entsprechendem Kontaktangebot zu verzeichnen. Diese Einrichtungen sprechen grundsätzlich ein gemischtes Publikum an; die Clubmitglieder sollen sich frei fühlen, von den diversen Spezialangeboten Gebrauch zu machen. Dass Prostitution zum festen Hauptbestandteil der Geschäftstätigkeit der Häuser gehört, tritt neben den anderen Angeboten zur Steigerung des körperlichen Wohlbefindens in den Hintergrund. Die Grenzen zwischen Wellness und Prostitution verschwimmen — Prostitution ist „naturalisiert“.

Die klassische Form der Prostitution findet in den Nachtclubs statt, wo die Frauen größtenteils im Besitz einer Arbeitsbewilligung (L-Bewilligung) sind. Jedes Lokal verfügt über ein Kontingent, das nicht überschritten werden darf. 1995 sind die Kontingente drastisch gesenkt worden. Heute sind im Kanton Tessin 37 Nachtclubs mit 150 Tänzerinnen registriert, vor der Änderung gab es dort 400 Bewilligungen pro Monat.

Die Cabarets und Nachtclubs in der Deutschschweiz und im Tessin haben die Konkurrenz der Hotel- und Kontaktbars mit bescheideneren Getränkepreisen zu spüren bekommen. In der Westschweiz ist diese Entwicklung weniger festzustellen, was auf die unterschiedliche Preispolitik der Westschweizer Cabarets mit ihren deutlich tieferen Preisen für Alkoholika und auf das strikte Vorgehen der Behörden gegen Sextouristinnen in den Kantonen Genf, Fribourg und Wallis zurückzuführen sein könnte. (316) Die kantonalen Behörden und im Prostitutionsbereich aktive NRO berichten über ein abnehmendes bis stagnierendes Wachstum im traditionellen und legalen Bereich bei einem insgesamt steigenden Prostitutionsmarkt. So ging die Anzahl der Neuregistrierungen der legal in der Prostitution tätigen Frauen per Ende 1998 in Zürich von 494 auf 376 und in der Stadt Bern von 107 auf 53 zurück, wobei der Anteil drogensüchtiger Frauen, die ihr Einkommen auf dem Straßenstrich erwerben, knapp die Hälfte der legal arbeitenden Prostituierten ausmachen dürfte. (317) Dass die Tendenz im Prostitutionsgeschäft steigt, vor allem wegen Touristinnen und Tänzerinnen, die der Prostitution außerhalb des rechtlich geschützten Rahmens nachgehen, entzieht sich zwar einer verlässlichen Quantifizierung, liegt aber bei Betrachtung der aktuellen Angebotsstrukturen nahe. Einzig der Kanton Tessin liefert Zahlen und stellte von 1999 bis 2000 einen Zuwachs der außerhalb des gesetzlichen Rahmens tätigen Prostituierten von 50% fest. (318)

Neu ins Gewicht fallen die Begleit-Agenturen, die sich durch große Mobilität und Anonymität auszeichnen und Frauen über Mobiltelefon und per Chauffeur in der ganzen Schweiz vermitteln. Sie operieren oft von ländlichen Standorten aus, wo die Betreiber günstigen Wohnraum, zum Beispiel in Einfamilienhäusern, anmieten oder kaufen. Dort wohnen die Zuhälter meist zusammen mit den Frauen, die sie an Kunden vermitteln, manchmal auch zusammen mit Chauffeuren. Diese Angebotsstruktur bietet viele Vorteile. Sie ist nicht auf ein vorhandenes Rotlichtmilieu angewiesen und entgeht somit Polizeikontrollen, die dort regelmäßig durchgeführt werden. Auch entfällt der Freierverkehr und damit die soziale Kontrolle, die nachbarliche Anzeigen wegen Ruhestörung nach sich ziehen könnten. Geschützt durch die Atmosphäre eines Privathauses oder einer Privatwohnung ist es eher möglich, unbehelligt auch außerhalb des gesetzlichen Rahmens Prostituierte zu beschäftigen.

Eine Besonderheit weisen der Kanton Aargau und teilweise auch der Kanton Bern auf, wo private Clubs in villenähnlichen, eher abgelegenen Liegenschaften Tradition haben und mit ihrem Angebot das gehobene Niveau mit der notwendigen Diskretion und Exklusivität abdecken (Polizeisprecher, Kanton Bern).

Eine Veränderung der Angebotsstruktur zeigt sich in den Standorten von neu entstandenen, zum Teil größeren Etablissements. Während in Randgebieten oder in Außengemeinden der Stadt Zürich wie auch in Flughafennähe Privatwohnungen in Bordelle umgewandelt, Saunaclubs oder Bars mit entsprechendem Angebot eröffnet oder Bordelle als solche deklariert werden, (319) gewinnen Ausfallstrassen von großen Städten und vielbefahrene Autobahnen an Attraktivität. (32w0) Entlang diesen von Pendlern benutzten Verkehrswegen konnten sich in der Anonymität von Industriezonen entlang der Autobahnen oder entlang von großen Ausfallstrassen, die wegen Verkehrsemissionen zum Wohnen unattraktiv sind, Wellness- oder Barbetriebe mit einschlägigem Angebot etablieren.

Diese Anpassungen der Angebotsstrukturen auf dem Prostitutionsmarkt weisen auf Verschiebungen im personellen Bereich hin. Die Figur der selbständigen Prostituierten, die in der Kleinstadt oder im Dorf, tagsüber gemieden und stigmatisiert, sich des Nachts mit der lokalen männlichen Klientel schadlos hält, ist in westlichen Konsum- und Freizeitgesellschaften wohl definitiv überholt. In Einzelfällen kann sie sich innerhalb von speziellen Angebotsvarianten oder Nischen auf dem Markt vielleicht behaupten, falls es ihr gelingt, sich mithilfe moderner Kommunikationstechnologie und Arbeitsplatzdesign an die neuen Marktstrukturen anzupassen. Das Angebot präsentiert sich heute vielmehr als Klein-, Mittel- oder Großbetrieb, der, einem Einkaufszentrum oder Freizeitpark vergleichbar, die unterschiedlichen Segmente und Spezialwünsche der Nachfrage nach zeitgemäßen Managementregeln organisiert und mit neuster Kommunikationstechnologie bewirbt. Im Normalfall darauf bedacht, den Rahmen des Gesetzes nicht zu überschreiten, sind Prostituierte als „Selbständige“ auf Auftragsbasis tätig, wobei Abgaben in Form von Eintrittsgeldern, Auftragstantiemen, Zimmermiete sowie Vorschriften über Präsenzzeiten, Kleiderwahl, Sexpraktiken oder zu verlangende Preise zur üblichen Geschäftspraxis gehören. Diese Angebotsstruktur favorisiert zum einen die Teilzeit- oder temporäre Prostitution von Einheimischen, denen es die Anonymität des Nebenerwerbs erlaubt, am Fiskus und der sozialen Kontrolle vorbeizuwirtschaften, und andererseits bietet sie den Netzwerken um die internationale Prostitution Möglichkeiten, Prostitutionsmigrantinnen unauffällig zu platzieren bzw. das Segment mit einem eigenen Geschäft um eine multi-kulturelle Variante zu erweitern. Diese Umstrukturierung des Angebots, nicht zuletzt eine Folge des in der Revision des Sexualstrafrechts 1992 ersatzlos gestrichenen Zuhälterartikels, ermöglichte die lukrative Integration von außerhalb des gesetzlichen Rahmens tätigen Prostitutionsmigrantinnen. Informierte Clubinhaber und Bordellbetreiber können die Tätigkeit der Prostituierten als ihre Privatsache und Eigenverantwortung auslegen und müssen lediglich eine mögliche Buße wegen Verstoßes gegen das Aufenthaltsgesetz für Ausländer einkalkulieren. Die Option, mit Teilzeit- und temporären Prostituierten sowie mit Migrantinnen auf dem Prostitutionsmarkt Geld zu verdienen, beschleunigte die Umstrukturierung des Angebots, während gleichzeitig eine Anpassung an die aktuellen Ansprüche der potentiellen Klientel erprobt werden konnte. Diese Neustrukturierung stieß als attraktive Investitionsmöglichkeit für die international florierende Prostitutionsmigration und den Frauenhandel das Wachstum des Marktes an.

Gesetzesliberalisierungen in verwandten Wirtschaftsbranchen begünstigten zudem die Entstehung neuer Sexgewerbezweige. „Sicher profitieren die Barbesitzer. Mit der Liberalisierung des Wirtschaftsgesetzes kann ja jeder eine Bar aufmachen, dann hat der oben noch Wohnungen und vermietet diese dann kurzfristig an die Frauen. Das ist einfach ein Phänomen, das wir neu haben. Das ist sprunghaft angestiegen“ (Polizeibeamter, Stadt Zürich).

Ein Zürcher Bezirksanwalt vermutet einen gesellschaftlichen Wertezerfall als Ursache für das boomende Sexgewerbe. Als Hauptgrund für die rasante Entwicklung nennen die Interviewpartner aber die vielen Migranten und Migrantinnen auf Arbeitssuche in der Schweiz und die Attraktivität des Schweizer Prostitutionsmarkts, attraktiv für die Frauen (und Männer) selber, aber auch für in- und ausländische „Geschäftsleute“, die den Markt aus Profitinteresse kräftig anheizen. Anreize, um im Sexgewerbe zu investieren, seien genügend vorhanden, unter anderem auch deshalb, weil ein Großteil der Gewinne nicht versteuert wird und die Möglichkeiten der Ordnungshüter, bei Missbräuchen durchzugreifen, beschränkt sind. Außerdem sei die Mobilität und Flexibilität auf dem Sexmarkt groß, weshalb der Kontrollaufwand enorm gestiegen sei. Auch spielten die Preise, die im härteren Konkurrenzkampf gefallen sind und die Diversifizierung des Angebots eine Rolle.

4.1.4 Die Geschäftsleute

Am Geschäft mit der Prostitution sind neben den Prostituierten und den Kunden verschiedene weitere Akteure beteiligt: Wohnungsvermieter und Hotelinhaber, Betreiber von Bars, Salons, Bordelle, Wellness-Zentren, die Agenturen, Anbieter von „Berufskleidung“ und Accessoires, Zeitschriften und Zeitungen bis zu den Mobiltelefonanbietern. Am Geschäft mit der Prostitutionsmigration haben außerdem Anwerber, Netzwerke für den Transfer und Vermittler großen Anteil. Die Akteure, die im Bereich der Prostitutionsmigration tätig sind, riskieren grundsätzlich wenig und setzen vor allem auf Ausländerinnen, weil diese sich wegen ihrer größeren Abhängigkeit von vermittelnden Netzwerken und wegen fehlenden Kenntnissen der lokalen Sprache und Marktmechanismen mit einem kleineren Verdienst zufrieden geben müssen als einheimische und etablierte Prostituierte. Dazu ein Beispiel: „In den Salons bezahlt man offiziell 150 Franken pro Tag für die Benützung der Infrastruktur, die die Selbständigerwerbenden abliefern. Auslagen für Inserate und alles ist da drin. Aber inoffiziell ist das Problem so, dass die Schweizerinnen zwischen 40% und 60% ihrer Einnahmen abliefern und die Ausländerinnen zwischen 70% und 80%, das vernehmen wir. Das ist das Problem. Sonst bei den ‚Schweizerinnen, die selbständig arbeiten, die sind recht resolut“ (Polizeisprecher, Kanton Bern).

Es ist zu beobachten, dass Männer eher Clubs betreiben, während das Massagesalongewerbe mehrheitlich in Frauenhand ist. Die Betreiber sind meistens Schweizer, die sich auf diesen rentablen Markt einlassen. Bezüglich der Gewinnmargen erwähnt die Kantonspolizei Solothurn eine Liegenschaft, welche für ursprünglich 600 Franken pro Monat gemietet und über zwei weitere Beteiligte untervermietet wurde. Resultat war, dass die Endmieterin für ihren Salon 6’000 Franken Miete bezahlte, das Zehnfache des ursprünglichen Mietzinses (Sprecher der Kantonspolizei Solothurn).

Die Interviewpartner beklagen vor allem, dass diese Gewinne auf dem Rücken der Frauen gemacht würden. Auch gebe es zu wenige juristische Möglichkeiten, gegen solche Art von Wucher vorzugehen. Die Polizei könne erst tätig werden, wenn eine Anzeige vorliege und sich die Migrantinnen wehren. Das geschehe aber in den meisten Fällen nicht. Meistens würden sich Betreiber und Vermieter gegenseitig decken, so dass es schwierig sei, Angaben zu erhalten. „Bei den Prostituierten zocken alle ab, der Vermieter, die Vermittler, die Betreiber, und am Schluss kommt noch die Polizei und dann wird sie ausgeschafft, sie sind das erste und letzte, einfach das schwächste Glied“ (Polizeisprecher, Kanton Bern).

Eine verdeckte Umfrage bei 33 Tessiner Lokalbetreibern, ob man bei ihnen illegale Prostituierte platzieren könne, bestätigt die Bereitschaft dieser Geschäftsleute, mit Organisationen zusammenzuarbeiten, die Frauen aus dem Ausland vermitteln. (321) Ein Journalist gab sich in den Telefongesprächen mit verschiedenen Tessiner Etablissementbetreibern als Zürcher Frauenhändler aus. Die Antworten waren verblüffend unverblümt und zeigen die Routine, mit der solche Geschäfte durchgeführt werden, sowie die Indolenz gegenüber Polizeikontrollen und möglichen Sanktionen. Zumindest Respekt vor polizeilichen Kontrollen scheint jedoch manchen Betreibern nicht fremd, ausländische Prostituierte ohne entsprechende Arbeitsgenehmigung bezeugen übereinstimmend, Anweisungen vom „Chef“ oder der „Chefin“ im Falle einer Polizeikontrolle erhalten zu haben.

Neben den Immobilienbesitzern und Vermietern sind es auch die Agenturen und Cabaret-Betreiber, die ganz legal vom Sexgewerbe profitieren und auch Steuern bezahlen: „Die Agenturen kassieren 8% ein, berechtigt gemäß Gebührenverordnung, das sind 280 bis 350 Franken pro Frau und Monat. Wenn einer 200 Frauen hat, dann hat er ausgesorgt“ (Polizeikommandant, Kanton Luzern).

Obwohl sie eher am Rand partizipieren, gibt es auch Geschäftsleute, deren Gewinne erheblich sind. Dazu gehören etwa Präservativhändler, die Exklusivrechte auf gewisse Etablissements beanspruchen und 50 Rappen pro Stück verdienen. Auch Reizwäschehändler machen gute Geschäfte, wenn sie Prostitutionsmigrantinnen beliefern, die sich in der Schweiz nicht gut auskennen. Während die einen Geschäftsinhaber gut wirtschaften, klagen andere über Geschäftseinbußen. Der Innovationsdruck scheint auch UnternehmerInnen der Prostitutionsbranche zu belasten. Zwei Kontakt-Bar-Betreiber in Lugano und Zürich drücken sich dazu so aus: „08.15 Sex, das geht schon lange nicht mehr. Da muss man sich schon etwas anderes einfallen lassen.“ — „Früher gab es viele Thai-Salons. Die laufen heute nicht mehr gut. Die Kunden wollen heute mehr, sie wollen sich amüsieren, nicht einfach eine Massage.“

4.1.5 Die Logistik des Prostitutionsmarktes

Eine Möglichkeit, Frauen aus Osteuropa anzuwerben, besteht darin, sich von der Schweiz aus direkt an Vermittler vor Ort zu wenden, die die Frauen anwerben und sie gegen Banküberweisung in die betreffende Lokalität in der Schweiz schicken. Unter den Betreibern zirkulieren Telefonnummern, über die es möglich ist, direkt und anonym ins Geschäft zu kommen. (322)

„Die fragen die Clubbesitzer und Nachtclubbetreiber an, ob sie noch Frauen brauchen und bieten ihre Frauen an. Die kann innerhalb desselben Tages in der Schweiz ankommen. Dann wird der Preis vereinbart, das können 1000 Dollar sein; während sie abfliegt, muss der Betreiber unter Umständen zur Western Union gehen, den Betrag überweisen, nachher telefonieren, um die Überweisung anzukündigen, unter einer Kennnummer, und am Abend kann der Empfänger das Geld an seinem Schalter schon in Empfang nehmen. Also es läuft sehr viel über diese Western Union. Man muss schon sehen, das ist an und für sich eine seriöse Organisation, die macht sich nicht strafbar deswegen“ (Sprecher der Kantonspolizei Graubünden, Chur).

Frauen müssen oft gleich zweimal Vermittlungsbeträge begleichen. Einmal den Vermittlern und Agenturen in ihren Herkunftsländern und dann den Etablissementbetreiber in der Schweiz: „Wir hatten Fälle, da mussten die Frauen den Vermittlern in Osteuropa 70 Franken pro Tag bezahlen und 150 Franken den Betreibern in der Schweiz abliefern. Das funktioniert so. Und wenn sie nicht genug Freier hat, muss sie trotzdem bezahlen, auch wenn sie krank ist oder so, das war sogar explizit formuliert. Sie hat mir die Anzeige aus der Zeitung geschickt, weil wir mehr darüber wissen wollten. Ihr wurde 500 bis 600 Franken pro Freier versprochen. Und pro Monat wurde ein Lohn zwischen 20’000 und 25‘000 Franken versprochen. Auch wenn sie dann 7000 Franken pro Monat abgeben müsste, würden ihr ja immer noch 13‘000 Franken oder mehr bleiben. Sie rief uns an, um genauere Informationen zu erhalten. Sie war misstrauisch, aber viele Frauen sind das nicht, und so scheinen sie regen Zulauf auf solche Anzeigen zu erhalten. Das sind betrügerische Versprechungen, denn nur wenn eine Frau jung, sehr attraktiv und zu allem bereit ist, nie krank wird und unentdeckt von der Polizei bleibt, kann sie viel Geld verdienen. Das ist aber bei den wenigsten Frauen, die hierher kommen, der Fall, und so müssen sie sich dann abmühen, das Geld für die Vermittler zusammen zu bekommen. Und sie sind allen Risiken ausgesetzt“ (Leiterin AHS, Barfüsser-Projekt, St. Gallen).

Neben diesen direkten Verbindungen zu ausländischen Vermittlern sind es oft die Betreiber und Betreiberinnen selber, die Frauen aus ihrem eigenen Herkunftsland anwerben oder den Auftrag über Verwandte und Bekannte abwickeln. Ebenso häufig übernehmen in der Schweiz ansässige Personen ausländischer Herkunft die Anwerbung und manchmal den Transport von Frauen aus ihrem Herkunftsland im Auftrag. „Wir haben das Kommen der Ungarinnen gesehen und wissen, dass heute zwei Drittel der Prostituierten Lettinnen, Brasilianerinnen und Ungarinnen sind. Wir wissen auch, dass es ein Netz in Brasilien mit Verbindungsleuten im Tessin und in Italien gibt, die die Reise für die Mädchen organisieren. Bei den Lettinnen und Ungarinnen kann man hingegen nicht von einer eigentlichen verbrecherischen Organisation sprechen, weil der Zuhälter meist aus dem familiären Umfeld der Prostituierten stammt.”

Zur Illustration der Logistik einer Begleitagentur, bei welcher die Polizei die ganze Buchhaltung requirierte, sei hier folgendes Beispiel aufgeführt: „Den monatlichen Umsatz, den wir errechnet haben, beträgt 96‘000 Franken. Die machen natürlich auch viel Werbung, er war im Internet drin, im Blick und in der BZ hat er inseriert und in verschiedenen Lokalzeitungen. Er hat uns diese Kosten vorgelegt, er hat Inseratekosten von 15’000 Franken im Monat belegen können, aber ich möchte mich hier nicht auf absolute Zahlen festlegen. Und dann hat er Chauffeure beschäftigt, die die Frauen, vorwiegend Ungarinnen, in der ganzen Schweiz herum chauffierten, zum Teil waren das Handwerker oder Informatiker, die tagsüber ihrem Job nachgingen und am Abend die Frauen in der Gegend herumführten. Er pries verschiedene Angebote an, zum Beispiel wenn er eine Frau für eine Stunde zu einem Kunden brachte, dann verlangte er 550 Franken. Er hatte auch eine Telefonistin, die für jeden Termin 50 Franken bekam, der Fahrer hat 25% bekommen und für den Chef sind 35% geblieben, mindestens, aber der hat manchmal auch die Telefonate gemacht und den Chauffeur gerade auch noch gespielt, und dann waren 70% für ihn. In 22 Monaten hat der 1,2 Mio. Franken Umsatz erzielt“ (Polizeikommandant des Kantons Basel-Stadt).

Wie dieser Fall illustriert, werden Begleitagenturen meist von einem einzelnen „Drahtzieher“ organisiert, der verschiedene Mitarbeiter für Transport und Vermittlung einstellt.

Die Frauen werden je nach Nachfrage unter den Lokalbetreibern in der ganzen Schweiz ausgetauscht. Wenn beispielsweise ein Etablissement einen größeren Anlass hat, werden Frauen aus anderen Lokalen angefordert. Schnelle Zirkulation von Frauen liegt offenbar im Geschäftsinteresse der Lokalbetreiber. Den Kunden kann immer „etwas Neues“ angeboten werden, um den Konsumanreiz zu steigern und man vermeidet man ein zu großes Insiderwissen der Prostituierten über ein bestimmtes Lokal, seine Gepflogenheiten und seine Kunden, das ihre Abhängigkeit reduzieren könnte. Durch diesen Austausch kennt man sich in der Branche, die Kanäle laufen nach Einschätzung der befragten Kontrollorgane über persönliche Beziehungen und weniger über organisierte Strukturen. „Und die beschränken sich dann nicht auf ein Bordell, die vergrößern sich dann sofort, wie eine Firma auch versucht, weiter zu expandieren. Sie haben dann Unterhändler angestellt, in Dependancen. Und dort haben wir festgestellt, dass es einfach sehr verlockend ist, in so kurzer Zeit viel Geld zu verdienen. Zum Teil gehen die sehr brutal um mit den Frauen, um die Angst noch etwas zu schüren, die Ostfrauen haben nicht nur Angst vor den Vermittlern, sondern auch vor denen, die sie betreuen, das sind oft einfach Charakterlumpen“ (Sprecher der Stadtpolizei Bern).

Brasilianerinnen und Südamerikanerinnen kommen vor allem über Verwandte und Bekannte, die schon in der Schweiz tätig sind, aber auch teilweise durch international aktive Netzwerke, welche die Frauen in ihren Heimatländern anwerben und über ein Netz von örtlichen Verbindungen in der Schweiz platzieren. Den Frauen wird die Reise in die Schweiz bezahlt, wofür die Organisatoren eine Entschädigung zwischen 10’000 und 15’000 Dollar verlangen. Diese Summe müssen die Frauen aus dem Prostitutionserlös zurückzahlen. Wenn die Schulden beglichen sind, können sich die Frauen in der Regel „frei“ fühlen und von diesem Zeitpunkt an auf eigene Rechnung verdienen. Um die Grenzkontrollen an den Schweizer Flughäfen zu umgehen, werden bestimmte routings, etwa über Spanien, Italien, Deutschland gewählt. Fehlen gültige Einreisedokumente, bekommen die Migrantinnen gültige Pässe von Ecuador und Venezuela oder gestohlene Pässe aus Spanien. Ziel ist, den Visumzwang zu umgehen.

Ungarische Frauen stellen eine Ausnahme dar, da sie meist direkt angeworben oder von hier anwesenden Zuhältern und Zuhälterinnen kontrolliert werden. Da es sich bei diesen oft um Verwandte und Bekannte handelt (Tante, Bruder, Verlobter, Ehemann, Bekannter der Freundin etc.), die täglich die Einkünfte der Frauen einkassieren, trifft hier die Bezeichnung „familiäre Netzwerke“ am ehesten zu. Lettinnen machen einen ansehnlichen Teil der Prostitutionsmigrantinnen aus. Sie werden oft direkt von der Schweiz aus mit Zeitungsinseraten angeworben und kontaktiert. Auch in diesem Falle müssen die Frauen eine feste Summe überweisen.

Prostitutionsmigrantinnen, welche sich in der Schweiz durch Heirat etablieren können, werden zum Teil selbst wieder in Zusammenarbeit mit ihren Schweizer Ehemännern zu Vermittlern und perpetuieren den Handel mit Frauen. Ein größerer Fall mit Kamerunerinnen ist in diesem Zusammenhang in der Westschweiz aufgeflogen, wo die eingeheirateten Frauen ihre Pässe an Landsfrauen vermieteten: „In der Schweiz wurden die Frauen zu anderen Kamerunerinnen mit Schweizer Pass gebracht, und bei Kontrollen zeigten sie dann ihre Papiere. Und da es einem (weissen) Polizisten schwer fällt, afrikanische Frauen mit ihren Frisuren, Zöpfchen und Perücken zu unterscheiden, ist das nicht aufgefallen. Diese Dokumente wurden zu Preisen zwischen 600 und 1000 Franken pro Monat vermietet“ (Sprecher der Stadtpolizei Neuenburg).

4.1.6 Das Klima im Sexmilieu

Eine Zunahme von physischer Gewalt ist nach den Aussagen der Befragten nicht feststellbar. Meistens wird die Polizei von der Nachbarschaft wegen Auseinandersetzungen unter Prostituierten oder wegen Streits mit ihren Zuhältern vor allem aufgrund von Lärmemissionen gerufen. Vermutet wird aber zum Teil gerade bei den Frauen aus Osteuropa, dass diese Repressionen von Mittelsmännern aus ihren Herkunftsländern zu befürchten haben, von denen sie aber nichts erzählen. „Man kann hier weniger von physischer Gewalt als von psychischem Druck sprechen. Es ist ja schon ein Druck, wenn man einer Afrikanerin z.B. sagt, dass sie in ihr Heimatland zurückgeschickt werde. Da braucht es gar keine körperliche Gewalt. In Bern hatten sie einen Fall mit einer Tschechin, die von einem Jugoslawen mit Gewalt in die Schweiz gebracht worden war, hier von vier Männern vergewaltigt und zur Prostitution gezwungen wurde. Jedes Mal, wenn sie einen Klienten hatte, wurde ihr sofort das Geld abgenommen“ (Sprecher der Stadtpolizei Bern).

Auch andere Interviewpartner berichten von Strafaktionen. Es gibt sicher eine bedeutende Dunkelziffer, aber solche scheinen eher Ausnahmefälle zu sein. Hinweise zur Gewaltentwicklung im Prostitutionsgeschäft aus Zeitungsmeldungen und Interviews lassen keine eindeutigen Schlussfolgerungen über deren Ausmaß zu. Dies bedarf einer systematischen Überprüfung einschließlich der Gewaltakte, die zwar vermutet, der Polizei aber nicht gemeldet werden, wie etwa Anschläge auf Autos von Lokal-BetreiberInnen, Brandstiftungen, ein Sprengstoffanschlag im Untergeschoß eines Tessiner Lokals und Anschläge auf Leib und Leben von Prostituierten.

Die Gewalt im Milieu hat sich trotz des boomenden Geschäfts aber nicht stärker ausgebreitet, wie Polizeistellen und NRO übereinstimmend bestätigen. Dies habe vor allem damit zu tun, dass die Schweizer Szene übersichtlich sei und die Kontrolle durch Polizeiorgane und NRO Wirkung zeige: „In diesem Bereich haben wir keine übertriebenen Feststellungen gemacht, das ist eher selten, zum Glück. Es ist immer noch übersichtlich. Es braucht doch eine verdeckte Szene, dass sich Gewalt ausbreiten kann, das ist hier nicht gegeben. Physische Gewalt, da haben wir praktisch keine Anhaltspunkte. Man muss auch sagen, dass wir keine größere Organisation gefunden hätten, die im Luzerner Rotlichtmilieu Fuß gefasst hätte“ (Polizeikommandant, Kanton Luzern).

Trotzdem gibt es Formen schwerer Gewalt, wie die Ermordung von zwei lateinamerikanischen Prostituierten im Sommer 2002 im Kanton Aargau belegt. Damals hatte sich eine Welle der Solidarität ausgebreitet, die in einem Trauerumzug in Zürich mit gegen 3000 LateinamerikanerInnen aus der ganzen Schweiz ihren Höhepunkt fand.

Aber meist handelt es sich um leichtere physische Gewalt, die aber den Polizeistellen kaum gemeldet werden, so dass nur Sfreetworkerinnen und Mediatorinnen davon erfahren. So üben Cabaret-Betreiber Druck auf Tänzerinnen aus, wenn sie nicht genug Champagnerumsatz erwirtschaften oder wenn sie gegenüber unlauteren Klienten misstrauisch sind, aber es gibt auch Zwang zur Prostitution bei Unpässlichkeit oder Erschöpfung, Gewaltdrohungen, kränkende Zurechtweisungen und grobe Umgangsmanieren: „Es gibt psychologische Gewalt, aber auch körperliche Gewalt, etwa indem sie gestoßen werden oder auch durch Gesten. Ich habe auch gehört, dass sie an den Haaren gerissen werden sehr stark, indem man ihnen mit der anderen Hand auf die Schulter drückt. Und dann habe ich auch von Patrons gehört, die kommen und dann ganz stark auf die Hand der Frau drücken gegen den Tisch, was sehr schmerzhaft ist. Ich habe auch andere Beschreibungen von Frauen, die sehr starke Drohungen erlebt haben. Doch, man kann sagen, es gibt Gewalt im Milieu. Vielleicht kann man auch sagen, dass das mehr in den Cabarets auf dem Land passiert als in der Stadt, weil auf dem Land alle Männer Copains sind, auch mit der Polizei. Viele Frauen berichten, dass sie in solchen Lokalen auf dem Land überhaupt nicht respektiert worden seien“ (Leiterin AHS, Barfüsser-Projekt, Chur).

Welche Möglichkeiten Cabaret-Betreiber haben, auf nicht prostitutionswillige Tänzerinnen Druck auszuüben, zeigt die folgende Aussage einer NRO-Mitarbeiterin und ehemaligen Prostitutionsmigrantin: „Zum Beispiel, wenn sie einen Service nicht machen wollten, dann sind sie zeitweise entlassen worden, wenn sie sich dann weiterhin verweigerten, dann kamen härtere Drohungen, dass sie keine Arbeit mehr bekämen. Dann kommen auch Drohungen, dass die Familie unterrichtet werde, was sie hier in der Schweiz machen. Es gibt viele Arten von Drohungen. Psychischer Druck, konstante Drohungen, etwa auch, sie bei der Polizei zu verzeigen. Dies ergibt einen harten Konkurrenzdruck unter den Frauen, so dass es wenig Unterstützung und Zusammenhalt auf ihrer Seite gibt. So werden die Frauen stark verunsichert. Die Arbeitgeber können auch mit ganz einfachen Drohungen arbeiten, zum Beispiel: ‘Ich entziehe dir die L-Bewilligung, du wirst nie mehr in der Schweiz arbeiten können, ich habe Verbindungen’, etc.“ (ehem. Prostituierte, Mediatorin, AHS, Barfüsser-Projekt, Chur).

Was ebenfalls vorkommt, sind starke Drohungen von Zuhältern und Betreibern, wie sie in verschiedenen Gerichtsfällen aktenkundig sind, welche von „Ich schlage Dir alle Zähne aus, wenn Du nicht mehr Geld ablieferst“ bis zu Todesdrohungen reichen. Zudem kennen die Vermittler und Zuhälter oft die Adressen von Eltern und Angehörigen im Herkunftsland, so dass auch Gewaltandrohungen gegen Verwandte und Kinder der Frauen ihre Wirkung meist nicht verfehlen. Massive Gewaltanwendungen, wie etwa die Vergewaltigung und Misshandlung einer russischen Tänzerin durch zwei Landsmänner in Genf (Avakiants, 2000), dienen in erster Linie zur Abschreckung und Einschüchterung anderer Sexmigrantinnen.

Trotzdem kann im Allgemeinen nicht von einem brutalen Sexmilieu in der Schweiz gesprochen werden. Die guten Verdienstmöglichkeiten in der Schweiz bieten den meisten Migrantinnen trotz Ausbeutung genug Anreiz, der Prostitution „freien Willens“ nachzugehen, ohne dass die Zuhälter und LokalinhaberInnen sie deswegen — überspitzt gesagt — in Ketten legen müssten.

Medien thematisieren das aggressive Klima und die Gewalt im Milieu, was aber die Resultate dieser Arbeit nicht bestätigen. Im Rahmen dieser Studie kann höchstens gesagt werden, dass Angst ein Thema ist, das von Prostitutionsmigrantinnen angesprochen und teilweise betont wird. Ob sich die Angst auf die Arbeitsbedingungen und die Akteure in der Schweiz bezieht, ob die Rückkehr ins Heimatland oder in ein geregeltes Leben von Angst besetzt ist, oder ob die Angst von der eigenen Grenzüberschreitung herrührt, die den individuellen Lebenslauf belastet, muss hier offen bleiben.

4.1.7 Freiwilligkeit

Die Frage nach der Freiwilligkeit von Migrantinnen, die sich außerhalb des gesetzlichen Rahmens prostituieren, ist zentral. Kommen sie nun aus freien Stücken in die Schweiz, um das große Geld zu verdienen, oder geraten sie ahnungslos in die Fänge krimineller Organisationen, die sie versklaven und ausbeuten?

Wie NRO-Expertinnen und Mediatorinnen berichten, identifizieren sich Migrantinnen meist nicht mit der Prostitution, im Gegensatz zu den Schweizerinnen, die sich für diesen „Beruf“ entschieden haben. Die Migrantinnen hingegen seien meist durch äußere Umstände dazu gezwungen gewesen oder angeworben worden (Leiterin Barfüsser-Projekt, AHS, Basel).

Auf der anderen Seite ist es ein offenes Geheimnis, dass Frauen aus Osteuropa, Lateinamerika, Asien oder Afrika von sich aus die Initiative ergreifen. So konnten im Rahmen von Ermittlungen bei einer Begleitagentur Telefongespräche des Betreibers mit einem Vermittler abgehört werden, die diskutieren, ob sie die Nummer des Mobiltelefons wechseln sollten, da sie mit Anfragen von Frauen aus Polen richtiggehend überschwemmt würden (Polizeistelle Basel-Stadt).

Bei den interviewten Polizeibeamten besteht Konsens, dass die Freiwilligkeit differenziert betrachtet werden muss: „Viele der Frauen, die sich in der Schweiz prostituieren kommen, haben sich noch nie vorher prostituiert. Vielleicht wurden sie von einer Freundin gedrängt, die sagte, komm mit, dort kannst Du viel Geld verdienen. Meist wird es dann schöner dargestellt, als es in der Realität ist. Manchmal werden sie auch unter falschen Bedingungen hierher gelockt. Aber dass sie dann in die Prostitution gezwungen würden, habe ich nie erlebt, meistens machen sie das freiwillig, die meisten sind sich dessen bewusst, ich gehe dorthin, mache das, nehme das Geld und gehe zurück. Das ist die Armut, die sie dazu bringt, oftmals haben sie auch Kinder in ihrem Heimatland. Es ist eine Wahl“ (Polizeikommandant, Kanton St. Gallen).

Einig ist man sich auch in Polizeistellen und NRO, dass Lokal-BetreiberInnen hier in der Schweiz Druck auf die Frauen ausüben. In den härteren Fällen nehmen sie den Frauen ihre Reisedokumente ab, drohen mit Nachteilen für die Familie im Herkunftsland oder mit dem Informieren der Angehörigen über ihre Tätigkeit als Prostituierte, zwingen sie zur Einhaltung von Präsenzzeiten und zur Annahme von unerwünschten Aufträgen oder schlagen sie.

Viele Frauen kommen auch aufgrund falscher Versprechungen und Erwartungen in die Schweiz und erkennen die Realität zu spät. Unter diese Kategorie fallen Arbeitsangebote als Kellnerin oder Babysitterin. Sind die Frauen erst einmal in der Schweiz und haben Kredite für ihre Anreise und Vermittlung aufgenommen, ist es für Vermittler einfach, sie zur Prostitution zu drängen oder zu zwingen.

„Sicher, die Ausbeutung ist bei den Ostfrauen viel raffinierter. Sie haben zum Beispiel erzählt, dass ihnen der Pass bei ihrer Ausreise aus Russland abgenommen wurde und sie einen zweiten, der sie nur zur Ausreise legitimiert, erhalten haben. Aber sie können nicht mehr einreisen, ihr anderer Pass ist dort bei der Agentur blockiert. Das ist natürlich sehr perfid, denn sie möchten ja wieder zurückkehren können. Aber es ist nicht einfach, Informationen zu bekommen, auch für die Polizei“ (Leiterin AHS, Barfüsser-Projekt, Chur).

Der Ausbeutungsansatz entlastet die Prostituierten von eigener Schuld an den Umständen der Prostitution, über die sie sich beklagen: „Die Sauerei schnell vergessen“, „sich ausgenützt vorkommen“, “Man musste alles machen, was der Chef sagte, sonst gab es Strafen. Ich habe gesehen, wie eine geschlagen wurde“. Die Freiwilligkeitsdeutung spiegelt den Prostituierten zwar eine Souveränität über Lebensentscheide wider, behaftet sie aber unerbittlich auf der Eigenverantwortung für ihre individuellen Lebensumstände. Ein Dilemma, das auf die Prämissen der freien Marktwirtschaft zurückgeführt, aber kaum individuell gelöst werden kann.

Es scheint, dass die „Schuld“ der in widrige Umstände geratenen, außerhalb des gesetzlichen Rahmens tätigen Prostituierten darin besteht, dass sie den Versprechungen des Marktes und ihren Fähigkeiten, darin erfolgreich zu agieren, vertraut haben, ohne dessen Mechanismen, das Umfeld und ihre eigenen beschränkten Möglichkeiten zu berücksichtigen. Denn die Überschätzung der eigenen Möglichkeiten kann fatale Folgen haben. Nicht nur für das Individuum, sondern für die Gesellschaft. Sind auf der individuellen Ebene kurz-, mittel- und langfristige Problembereiche angesprochen wie physische und psychische Versehrtheit, Suchtverhalten, Bewältigung von biographischen Brüchen oder Traumas, (324) so stellen sich auf gesellschaftlicher Ebene Fragen der sozialen und ökonomischen (Re-)Integration sowie Fragen über Ansprüche auf Solidarleistungen von Familie und staatlichen Einrichtungen. Die Vorstellung von einem internationalen Prostitutionsmarkt, der soziale, ökonomische und politische Probleme von osteuropäischen und Dritt-Welt-Frauen löst, beruht wohl eher auf einem kurzfristigen, die individuellen Ressourcen überschätzenden Wunschkalkül.

Bei einer Fokussierung auf die Strategie der individuellen Initiative geraten zudem das Umfeld des Marktes wie gesetzliche Bestimmungen der Prostitution, Kontrolltätigkeit von Polizeibehörden und NRO sowie ein gesellschaftlich-politisches Umfeld, das auf Rechtssicherheit, demokratischen Strukturen und Solidareinrichtungen beruht, aus dem Gesichtsfeld — aus dem Gesichtsfeld von Geschäftsleuten und Prostituierten, die den Erfolg auf dem Markt zwar als eigenes Verdienst verbuchen, ansonsten aber auf die Einrichtungen des Umfeldes (wie Strafverfolgungsbehörden, Rechtssprechung, Sozialversicherungen, NRO etc.) zum Schutze des Marktes angewiesen sind. Denn der Erfolg des Marktes, auch des internationalen Prostitutionsmarktes, ist wesentlich von diesem Umfeld abhängig.

4.1.8 Organisierte Kriminalität

Wenn unter organisierter Kriminalität international tätige, hierarchisch strukturierte Organisationen einer bestimmten Größe verstanden werden, verneinen die Interviewpartner übereinstimmend ihre Existenz im Schweizer Markt der Prostitutionsmigration. Wenn auch vereinzelte Fälle auf dem Niveau der Ermittlungen vorliegen, konnten diesbezügliche Vermutungen weder mit einer qualifizierten Anklage noch mit einem Gerichtsurteil belegt werden. Obwohl von Seiten der Strafverfolgungsbehörden Vermutungen über größere kriminelle Organisationen geäußert werden, die vor allem in Herkunftsländern Osteuropas bei der Anwerbung und Vermittlung von Prostituierten, aber auch bei der Dokumentenbeschaffung und bei der Kontrolle des Personen- und Geldtransfers eine dominierende Rolle spielen, können aufgrund unserer Datenlage keine Aussagen darüber gemacht werden. Hier lässt sich lediglich feststellen, dass keine bestätigten Hinweise auf Verbindungen von Akteuren auf dem Schweizer Markt der Prostitutionsmigration und organisierter Kriminalität im engeren Sinne vorliegen.

„Mit der OK hat man eigentlich gar keine Chance weiterzukommen, weil die Frauen Ja viel zu schnell wieder draußen sind (…). Wir haben ja auch Daten zur OK gesammelt und dort sieht man, dass Frauenhandel auch mit weiteren Deliktgruppen, wie etwa Betäubungsmittel zusammenhängen könnten“ (Sprecher Kantonspolizei Zürich). „[…] wobei man sehen muss, dass unser Markt auch nicht so groß ist und weitgehend gesättigt ist. Organisationen wie die Russenmafia, die interessieren sich schon immer wieder, es sind immer wieder Anzeichen vorhanden, dass sie Leute aus der Szene bewegt haben, aber effektiv chancenlos, es ist schon übersichtlich, sie können sich nicht hineinfiltern, die Nachtclubbesitzer kennen sich alle untereinander und tauschen Informationen aus, das ist quasi der Vorteil davon“ (Kommandant Kantonspolizei Luzern).

Die meisten interviewten Polizeibeamten sind sich einig, dass nicht die Bekämpfung, sondern die Prävention organisierter Kriminalität im Vordergrund steht, sodass sich diese gefürchteten Strukturen gar nicht erst etablieren können. Neben der „Russenmafia“, welche aufgrund ihrer aggressiven Praktiken gefürchtet wird, hat man auch Angst vor albanischen Organisationen, die sich via Italien auf dem Schweizer Markt etablieren könnten. Doch bisher liegen keine konkreten Anhaltspunkte vor, sodass die Äußerungen als Vermutungen qualifiziert werden müssen.

Gerben und Meershoek haben empirisches Material aus Polizeiquellen untersucht und machen sich ein Bild über den Teil der Prostitution, der für den Frauenhandel attraktiv ist. (325) Sie unterscheiden drei Bereiche, wo kriminelle Organisationen tätig sind: die Anwerbung, der „Handel“ selbst (trafficking-process) und die Art von „Arbeit“ im Prostitutionssektor. Sie machen zwei Arten von Organisationen aus, die sich im Menschenhandelsgeschäft betätigen: lose organisierte Cliquen von professionellen Händlern und größere organisierte kriminelle Gruppen von durchschnittlich etwa 11 Personen mit einer klaren Arbeitsteilung unter den Mitgliedern. Diese Gruppe ist ebenfalls aktiv im Verschieben und Schmuggeln von Drogen, Waffen und gestohlenen Autos.

Die von Gerben und Meershoek beschriebene Gruppe lose organisierter Cliquen von professionellen Händlern entspricht eher den Resultaten vorliegender Untersuchung. Dabei geht sowohl aus den Interviews wie auch aus Gerichts- und Polizeiakten hervor, dass der Markt auf dem Platz Zürich sowie in weiteren urbanen Regionen der Deutschschweiz durch seine Offenheit und seine große Diversifizierung geprägt ist. Lose personell vernetzt ist der Austausch von Frauen in verschiedenen Lokalen nach Bedarf möglich und das Wissen über verschiedene Praktiken der Prostitutionsmigration verbreitet. Es konnten sich aber keine marktbeherrschenden Strategien und Akteure durchsetzen. Vielmehr bearbeiten kleingewerblich strukturierte Marktteilnehmer die Bereiche unterschiedlich, die von Gerben und Meershoek als Tätigkeitsfelder organisierter Kriminalität identifiziert werden.

In der Westschweiz, wo die einheimischen Prostituiertenorganisationen stark auf dem Markt auftreten, der Markt aber relativ offen ist, sind Verzeigungen von außerhalb des gesetzlichen Rahmens tätigen Prostituierten gerade aus Ost- und Mitteleuropa relativ häufig (Polizeisprecher Genf). Der Markt in kleineren Tourismusregionen, auf dem Land und in kleineren Städten wird von ansässigen Betreibern beherrscht. Es ist denkbar, dass professionelle, osteuropäische Organisationen versucht haben, sich in der urbanen Zone Genf-Lausanne auf dem Markt der Prostitutionsmigration zu etablieren. Wenn es denn diese Versuche gegeben hat, so sind diese offensichtlich nicht gelungen, wie NRO und Strafverfolgungsbehörden übereinstimmend feststellen. Gerichtsurteile in diesem Bereich sind keine bekannt. (326)

In der Region Tessin, wo das Marktvolumen durch die Nähe zu Italien relativ groß ist, sind es ausgeprägt kleingewerbliche, eng miteinander verflochtene und sich teilweise konkurrenzierende Strukturen, die den Markt kontrollieren. Dass Verbindungen zu osteuropäischen Vermittlern bestehen, wird durch verschiedene Aussagen und Gerichtsfälle belegt. Inwieweit diese als Mittelspersonen von hierarchischen, in Osteuropa ansässigen und international auch in anderen Bereichen operierenden Organisationen tätig sind, entzieht sich unseren Kenntnissen. Es fehlen die Voraussetzungen, um sich als „Neuling“ im überschaubaren Netzwerk des Tessiner Prostitutionsmarktes, das außerdem einer zunehmenden sozialen Kontrolle unterliegt, eine marktbeherrschende Stellung erobern zu können.

4.1.9 Soziale Kontrolle des Marktes

Einen Beitrag zur sozialen Kontrolle des internationalen Prostituiertenmarktes in der Schweiz leisten hier allen voran die Strafverfolgungsbehörden und die über die ganze Schweiz verteilten NRO, vor allem die Aids-Hilfe Schweiz (AHS) mit dem Barfüsserprojekt oder das FIZ in Zürich (Fraueninformationszentrum) oder Prostituiertenselbsthilfe-Organisationen wie Aspasie (Genf) und weitere Frauen unterstützende Vereinigungen wie Xenia (Bern). Obwohl viel Datenmaterial aus Interviews und Aktivitäten dieser Gruppen vorliegt, sprengt es den Rahmen dieser Arbeit, eine Evaluation der Tätigkeit und Wirkung von Behörden und NRO in diesem Zusammenhang zu präsentieren. Soweit Stellungnahmen und Informationen dieser Institutionen nicht bereits im Text eingeflossen sind oder in anderem Zusammenhang zitiert wurden, beschränkt sich dieses Kapitel mit einer kurzen Zusammenfassung der Ergebnisse aus den Interviews.

Zuerst ist festzuhalten, dass lokale Strafverfolgungsbehörden mit NRO grundsätzlich zusammenarbeiten. Trotz unterschiedlicher Aufgabendisposition beruht dies auf der gegenseitigen Einsicht in die Notwendigkeit der Arbeit aus verschiedenen Perspektiven und auf der Anerkennung der Beiträge als Ergänzung zum eigenen Aufgabenbereich. Während Polizeibehörden primär dazu verpflichtet sind, den geltenden Gesetzen Achtung zu verschaffen, beruht die Arbeit der Frauenorganisationen auf dem Vertrauen der Klientel gegenüber ihren Mitarbeiterinnen. Diese Disposition kann gelegentlich zu Interessenkonflikten führen, die die Beteiligten jeweils kommunikativ lösen. (327) So ist denn der Informationsaustausch nebst Ansätzen zur gemeinsamen Entwicklung von Strategien zur Bekämpfung von Frauenhandel — in Zürich wurde beispielsweise ein „Runder Tisch“ ins Leben gerufen, an dem sich Polizei, Opferhilfe und NRO beteiligen — grundlegend für die Kooperation von NRO und Polizeibehörden.

Auch muss das Instrumentarium zur Kontrolle des Marktes der neuen Gesetzeslage bzw. die Hilfeleistungen von NRO der neuen Klientel aus Osteuropa angepasst werden. Dazu die Leiterin der Aids-Hilfe Tessin:

„Sie erzählen nicht sehr viel. Man muss auch sagen, dass die Frauen, mit denen wir sprechen können, uns dies erlauben, und dann gibt es ganz viele Frauen, mit denen wir nicht in Kontakt treten können. Und gerade jene werden viel mehr unter Druck von Zuhältern stehen. Die, mit denen wir sprechen können, haben ihre ‚Schulden‘ wahrscheinlich schon abbezahlt und sind jetzt freier. Die fragen einem zum Beispiel auch, wo es gut sei sich zu prostituieren, wo sie hingehen sollen, was zeigt, dass sie die Möglichkeit haben, sich frei zu bewegen. Aber in gewisse Etablissements kommen wir kaum rein, darum kann ich nicht für alle sprechen, z.B. im Tortuga kommen wir nicht rein. Wenn eine Frau ruhig ist, wird sie Dir auch mehr erzählen, als wenn sie unter Druck steht. Wir möchten ein Vertrauensverhältnis aufbauen, darum stellen wir wenig Fragen, wenn schon muss es von ihnen aus kommen, dass sie erzählen. Und da gibt es einen Unterschied zwischen den Ostfrauen und den Südamerikanerinnen, letztere erzählen viel häufiger und spontaner. Dies kann kulturell bedingt sein, aber auch von ihren Bedingungen her. (…) Aber es ist nicht einfach, Informationen zu bekommen, auch für die Polizei.“

Da NRO in diesem Bereich oft mit der Aids-Hilfe Schweiz zusammenarbeiten, hat sich ihre Tätigkeit um die aufsuchende Aids-Prävention direkt in den Lokalen, wo Prostituierte tätig sind, erweitert. Dort werden Informationsblätter und Kondome verteilt und nach Möglichkeit Kontakt mit den Prostitutionsmigrantinnen aufgenommen. Ansonsten verstehen sich NRO in diesem Bereich als niederschwellige Anlaufstelle für Migrantinnen im Sexgewerbe, denen Beratung, Vermittlung von Rechts- und medizinischer Hilfe sowie Strategie-Entwicklung aus Notsituationen angeboten wird. Es versteht sich von selbst, dass die einzelnen NRO unterschiedliche Prioritäten-Agendas entwickelten, um der lokalen Situation und den unterschiedlichen Vereinsstatuten gerecht zu werden. So legt zum Beispiel das FIZ Zürich großen Wert auf Öffentlichkeitsarbeit und die Arbeit mit Migrantinnen auch außerhalb des Sexgewerbes, während sich andere Organisationen vor allem auf die Aids-Prävention bei Prostituierten konzentrieren (Aids-Hilfe Schweiz). Als Subventionsempfängerinnen sind die NRO nebst ihrer Klientel und den Trägervereinen auch der Öffentlichkeit und ihren Organen verpflichtet.

Auch die Polizeistellen verfügen aufgrund von kantonaler Gesetzgebung und Kompetenzabgrenzungen etwa von Stadt- und Kantonspolizei über unterschiedliche Voraussetzungen:

„Natürlich gilt es die schlimmeren Vergehen in erster Linie zu bekämpfen, wobei es ehr schwierig ist, solche Organisationen zu treffen. Wenn wir z.B. Zeugenaussagen von Frauen haben, und dann kann man ein Verfahren eröffnen. Das kann auch Monate dauern, und mit der Prostituierten, was machen wir dann? Geben wir ihr eine spezielle Aufenthaltsbewilligung, geben wir ihr Schutz und machen eine Gegenüberstellung, verstecken wir sie? Es ist eben nicht so einfach. Auf der anderen Seite verlangt die Verteidigung bei Prozessführung meist Zeugenaussage vor dem Gericht, ein Zeugenprotokoll genügt da meistens nicht. Das sind die Schwierigkeiten. Dazu kommen Gesetzeslücken im Tessiner Kantonalrecht, z.B. der Art. 199 des StGB, der besagt, dass jeder, der gegen Kantonalrecht verstößt, belangt werden kann, nur haben wir im Tessin keine kantonalen Gesetze in diesem Bereich, also können wir ihn nicht anwenden. Jetzt gibt es eine Kommission, die abklärt, hier eine legale Basis zu schaffen, wo ein Dekret verabschiedet worden ist, das vielmehr die Prostitution diszipliniert, bezüglich Zeit und Ort. Aber es bräuchte mehr Kontrollen und wir können nicht, da uns die kantonalen Gesetze fehlen“ (Polizeichef Lugano).

Sind es auf der einen Seite fehlende Gesetze, so bereitet auf der anderen Seite die Durchsetzung des neuen Sexualstrafrechts Schwierigkeiten. Die maßgebende Rechtsprechung, allen voran Bundesgerichtsentscheide, wirkt sich direkt auf das Instrumentarium der Polizeibehörden aus, da die Spruchpraxis letztlich festlegt, was als kriminelles Verhalten zu gelten hat und von der Polizei geahndet werden muss. Die zeitliche Verzögerung dieses Top-Down Diffusionsprozesses führt besonders in Übergangszeiten von altem zu neuem Recht zu Unsicherheiten der Fahndungsbehörden, die beispielsweise aufwendige Ermittlungen wegen Menschenhandel führen, um später vom Bezirksanwalt zu erfahren, dass sich die Beweislage nicht für diesen Straftatbestand eignet.

Trotzdem verfolgte die Polizei regional teilweise eine härtere Gangart. So schloss die Tessiner Polizei ab Ende 1999 verschiedene Hotelbars und Lokale. Einzelne Etablissementbetreiber kamen in Untersuchungshaft, und alle Rechtsmittel wurden ausgeschöpft, um die Lokale an einer Wiedereröffnung zu hindern, wie es in der Vergangenheit wiederholt vorgekommen war. Dieser Schlag gegen das Tessiner Sexbusiness führte zu großen Veränderungen, zumal die Hauptanziehungspunkte mit einem Mal verschwunden waren. Auch wenn anzunehmen ist, dass nur ein Teil der Prostitutionsmigrantinnen den Kanton verließen (Schätzungen gehen von 200 bis 300 Sextouristinnen aus) und sich das Angebot auf kleinere Etablissements und Appartements verlagerte, so verunsicherte die neue Situation zum Teil doch auch die Nachfrageseite, im speziellen die italienischen Freier, welche über diese Umwälzungen weniger informiert waren.

Auch in anderen Kantonen ist der Einsatz der polizeilichen Instrumente weder unbestritten noch immer koordiniert. So findet die Barfüsser-Projekt-Leiterin im Kanton Basel-Stadt die polizeilichen Razzien zum Teil kontraproduktiv, da sie die schwächsten Glieder in der Kette träfen und die Abhängigkeit zu den LokalbetreiberInnen verstärkten. Zur Kontrolle des Sexmilieus sind polizeitaktische Differenzen zwischen der Kantonspolizei und der Stadtpolizei Zürich Ursache für mangelnde Koordination.
Während die Kantonspolizei mit Razzien im Sexmilieu in Erscheinung tritt, setzt die Stadtpolizei mehr auf regelmäßige Einzelkontrollen und auf den Einsatz verdeckter Fahnder. (328)

Die Reaktionen der Bevölkerung auf das sich ausbreitende Sexgewerbe beschränken sich auf einzelne Anzeigen aus besonders betroffenen Bezirken, Quartierinitiativen (zum Beispiel im Zürcher Langstrassen-Viertel) und Leserbriefe. Im Kanton Tessin hingegen beginnt sich politischer Widerstand von Bürgerinitiativen gegen Hotel- bzw. Bordellbesitzer zu formieren.

„Das ist wirklich ein Problem, vor allem deshalb, weil es der Mehrheit der Bürger bis jetzt nicht auffiel. Da wird banalisiert nach dem Motto: ‚Das gibt es doch seit ewig’ auch wenn man sie darauf hinweist, was das alles mit sich bringt“ (Polizeichef, Lugano). (329)

Zudem gibt es Hinweise aus der Bevölkerung zu illegalen Aktivitäten, vor allem von Anwohnern, die das Treiben beobachten können und sich davon gestört fühlen. Doch nur selten reichen diese Hinweise als handfeste Beweise, welche der Polizei ein Eingreifen ermöglichen. Solange das jeweilige Sexgewerbe keine zu auffälligen Störungen verursacht, wird es ignoriert. Erst wenn Lärm oder zu starker Freierverkehr aufkommt, wenn Kinder Zeugen werden oder Anwohnerinnen von Freiern angesprochen werden, kommt es zu Anzeigen oder Hinweisen an die Polizei.

„Wir hatten in Rottenschwil einen Fall, der bereits acht Jahre zurück liegt. Das ist sehr lange gut gegangen, bis eines Tages die Kinder auf dem Nachhauseweg ‚Pornoheftli’ und Präservative gefunden haben. Dann hat sich Widerstand geregt bei der Bevölkerung, man musste einschreiten und das Etablissement räumen. Aber sonst kann das sehr lange gehen, vor allem, wenn etwas sehr abseits gelegen ist, wo keine Kinder vorbei müssen, wo weder Lärm noch Zufahrten ein Problem sind, dann wird das toleriert. Wir von der Polizei wissen, dass es das gibt, wir wissen auch, dass sie frequentiert sind, aber wir können nur in begründeten Verdachtsmomenten eingreifen“ (Polizeikommandant, Kanton Luzern).

Die Anonymität in größeren Städten erschwert zudem die soziale Kontrolle. Anwohner werden Zeugen vom fruchtlos erscheinenden Eingreifen der Polizei, die bei Razzien wohl einzelne Prostituierte festnimmt und in ihr Herkunftsland abschiebt, was aber das internationale Prostitutionsgeschäft nicht hindert, ohne Unterbrechung auf Hochtouren weiterzulaufen — mit neuen Frauen. Auch spielt womöglich die Unsicherheit der Bevölkerung über die Grenzen der Legalität eine Rolle. Mit der Abschaffung des Zuhälterei-Artikels im Strafgesetzbuch scheint für unbeteiligte Beobachter oder Anwohner die Unterscheidung zwischen Illegalität und Legalität in diesem Bereich nicht mehr klar.

Ein weiterer Faktor, der das Fehlen von breiterem Widerstand aus der Bevölkerung erklären mag, zeigt sich im gesellschaftlich aktuellen Gebot der political correctness: Weder Land- noch Stadtbevölkerung, weder Politiker noch Strafverfolgungsbehörden oder Gerichte wollen heute mit dem Etikett „moralisch“, „intolerant“ oder „altmodisch“ versehen werden oder entsprechende Werthaltungen öffentlich verteidigen müssen.” So bräuchte Widerstand gute, konkrete Gründe, wie zum Beispiel die genaue Kenntnis und Ersichtlichkeit von legaler und illegaler Prostitution, Informationen über Mietzinswucher, Belästigung von Kindern, Männern und Frauen im Quartier etc. um sich mit Aussicht auf Erfolg formieren zu können.

Zudem beklagen Polizeistellen und NRO-Vertreterinnen, dass sich kaum Politiker für diese Problematik engagieren, weil Prostitution tabuisiert ist.””! Sie wünschen sich mehr politischen Druck, um den jeweiligen Sexmarkt und störende Begleitumstände effektiver kontrollieren zu können.

„Zudem ist das Thema Prostitution mit Scham behaftet, und es gibt viele Politiker, die sich nicht mit diesem Thema in Verruf bringen möchten, oder selber Klienten sind. Zudem stören ja die Mädchen nicht groß. Darum interessiert es die Öffentlichkeit nicht. Wir erhalten deshalb auch selten Anzeigen im Sittenbereich“ (Sprecher der Stadtpolizei Bern).

Wie verschiedene Beispiele zeigen, ist die Schweizer Bevölkerung durchaus aufmerksam, informiert und besorgt über Geschehnisse auf dem Markt der Prostitutionsmigration. Allein die Komplexität der Sachlage, das Fehlen einer Definition von Frauenhandel, die über den juristischen Einzelfall hinausgeht, und das Fehlen einer kontinuierlichen, kooperierenden Praxis von Politik, NRO und Strafverfolgungsbehörden mögen ein öffentliches Engagement erschweren. Die zunehmend aufdringlichere Sichtbarkeit der Prostitutionstätigkeit in Wohn- oder durchmischten Quartieren sowie die Entwertung von Liegenschaften und Quartieren durch das Milieu, aber auch konkrete Vorfälle wie etwa Lärmbelästigung durch Freierverkehr oder die sexuelle Belästigung durch aufdringliche Angebote, veranlassen die betroffene Bevölkerung zu lokalpolitischem Handeln.

4.1.10 Zusammenfassung: Der Prostitutionsmarkt in der Schweiz

1 Entwicklung und Ausbreitung

Der Prostitutionsmarkt hat sich neu strukturiert, diversifiziert und schätzungsweise vergrößert. Dabei kommen Methoden des professionellen Managements sowie neuesteKommunikationstechnologie zum Einsatz.

Die Diversifizierung verläuft zugunsten der neuen Angebotsstrukturen auf Kosten der traditionellen, lebenszeitlich und vollzeittätigen, unabhängigen Prostituierten. Die typische Prostituierte ist heute temporär oder teilzeitlich aktiv und ist auf Auftragsbasis als Selbständige mit einem kleinen, mittleren oder großen Unternehmen der Sexindustrie verbunden.

Die neuen Marktstrukturen bieten Raum zur Vermarktung von außerhalb des gesetzlichen Rahmens tätigen Prostituierten. Das betrifft vor allem Prostitutionsmigrantinnen, aber auch einheimische, teilzeitlich oder temporär aktive Prostituierte, die auf eine Registrierung und damit auf Steuer- und Sozialversicherungsabgaben verzichten. Die neuen Marktstrukturen erlauben es den Unternehmen, sowohl Verantwortung für die Tätigkeit ihrer „Angestellten“ diesen selbst zu überlassen als auch wesentliche Beträge aus dem Prostitutionsgeschäft am Fiskus vorbei zu erwirtschaften.

Es herrscht ein Konkurrenz- und Verdrängungskampf sowohl zwischen alteingesessenem Sexgewerbe und neuen Angebotsformen als auch zwischen etablierten Prostituierten, neuen, temporär oder teilzeitlich tätigen, nicht registrierten Prostituierten und Ausländerinnen, die sich außerhalb des gesetzlichen Rahmens als Prostituierte betätigen. Auch unter den Prostitutionsmigrantinnen selbst haben sich Hierarchien herausgebildet.

Bedürfnisse und Selbstverständnis der Prostituiertenkunden finden in den neuen Angebotsstrukturen Ausdruck. Trotz ungesicherter Zahlen über das Volumen des Schweizer Prostitutionsmarktes ist zu vermuten, dass der größere Teil der Geschäfte außerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens getätigt werden. Dadurch wird die Kontrolle des Marktes und der Arbeitsbedingungen der Prostituierten erschwert. Bei den Frauen, die unter diesen Umständen der Prostitution nachgehen, handelt es sich vor allem um Migrantinnen aus Lateinamerika, Asien, Afrika, Ost- und Mitteleuropa, aber auch um teilzeitlich und temporär aktive Einheimische. Es öffnen sich Räume für illegal operierende Netzwerke, die gesetzliche Bestimmungen und die Forderungen des Fiskus umgehen. Die Legitimität des Prostitutionsmarktes ist auch aus diesen Gründen in Frage gestellt.

  1. Geschäftsleute

Eine ganze Reihe von Akteuren ist am Geschäft mit der Prostitutionsmigration beteiligt. Sie operieren teilweise im Graubereich der Legalität, indem sie durch Arbeitsteilung Aufgaben an ausländische Akteure delegieren oder Leistungen von ihnen einkaufen.

Kontakte zwischen Akteuren finden sowohl im gesetzlich geregelten Bereich wie auch im Graubereich der Legalität zwischen Agenturen, Vermittlern, Betreibern und Inhabern von Clubs und Begleit-Agenturen statt. Es gibt Absprachen, und es gelten allgemein beachtete Regeln. Als „unfaire Konkurrenz“ gilt, wer diese Regeln nicht beachtet.

Vor allem im Tessin, wo der Markt überschaubar ist, aber auch in der deutschen Schweiz, wo es einen offeneren Markt gibt, wird unfaire Konkurrenz von den Akteuren wahrgenommen. Es herrscht aber auch ein Verdrängungskampf unter den Akteuren, in den teilweise die Strafverfolgungsbehörde über Anzeigen eingeschaltet wird. Dieses Verhalten deutet auf ein teilweise angespanntes Verhältnis zwischen den einzelnen Branchen und den einzelnen Akteuren hin.

Das Verhältnis zwischen Prostituierten und Vermittlern, Lokalbetreibern, Immobilienbesitzern
etc. ist das eines Verhältnisses zwischen Arbeitnehmer und Arbeitgeber. Dies steht im Widerspruch zu der in der Schweiz erlaubten Prostitution, die auf dem Status von selbständiger Erwerbstätigkeit gründet. Während auf der einen Seite Vermittler, Lokalbetreiber, Immobilienbesitzer und Anwerber je nach Region lose oder enger vernetzt sind, treffen auf der anderen Seite ausländische Frauen, die in diesem Bereich tätig werden wollen, einzeln auf diese vorgefundenen Strukturen. Die Marktmacht dieser Netzwerke bestimmt weitgehend die Umstände, in denen Prostitution außerhalb des gesetzlichen Rahmens ausgeübt wird. Die Voraussetzungen, Prostitution als selbständig Erwerbende auszuüben, wie es der Gesetzgeber vorsieht, sind für diese Gruppe von Prostituierten nicht gegeben. Damit wird grundsätzlich ihre Selbstbestimmung verletzt.

  1. Logistik

Die angeworbenen Frauen sind meist mittellos und arbeiten das ihnen vorgeschossene Geld zur Finanzierung der Reise und der Vermittlung des ersten Arbeitsplatzes durch Prostitution ab. Damit geraten sie in Abhängigkeit einer Reihe von Marktteilnehmern, was zumindest die Mitbestimmung und Mitverantwortung der Umstände der Prostitution wesentlich einschränkt.

Tänzerinnen wechseln den Club in der Regel auf Empfehlung des vormaligen Chefs. Stellt er ein schlechtes Zeugnis aus, finden die Frauen in diesem Segment keine Anstellung. Oft kennen sich die Cabaret-Betreiber über informelle Kontakte. Salon- und BordellbetreiberInnen leihen sich gegenseitig „ihre“ Frauen aus, zum Beispiel wenn wegen eines größeren Anlasses Mehrbedarf vorauszusehen ist (z.B. WEF in Davos, Tourismus-Saison, Parlamentssession in Bern etc.) oder wenn eine angeforderte Person an der Landesgrenze abgewiesen wurde. Außerhalb des gesetzlichen Rahmens tätige ausländische Prostituierte wechseln den Ort ihrer Tätigkeit in der Regel nur mit Zustimmung ihrer eigenen VermittlerInnen und „ChefInnen“.

Obwohl Frauen oft nicht zufrieden sind mit den vorgefundenen Arbeitsbedingungen, muss in den uns bekannten Fällen davon ausgegangen werden, dass die Frauen ohne Gewalt oder Drohungen in die Schweiz eingereist sind, in den meisten Fällen waren sie grundsätzlich über die Art der Tätigkeit in der Schweiz informiert.

  1. Das Klima im Sexmilieu

Erhöhte Gewaltanwendung im illegalen Bereich der Prostitution im Vergleich mit anderen Bereichen der Gesellschaft kann nicht belegt werden und ist auch nicht zu vermuten.

Das Dilemma der illegal tätigen Prostituierten, sich als Freiwillige selbst für die Umstände der Prostitution verantworten zu müssen oder sich als willenloses Opfer von Zwangssituationen zu begreifen, drückt sich oft als Angst vor den Vermittlern und Chefs aus.

  1. Freiwilligkeit

Der internationale Prostitutionsmarkt wirft Profit ab, an dem sich vor allem die verschiedenen Akteure und am wenigsten die Prostituierten selbst bereichern. Ihre Marktmacht wird durch eine Reihe von Faktoren auf ein Minimum reduziert. Während sich auf der einen Seite Geschäftsleute längerfristig auf dem Markt etablieren und so ihre Marktmacht ausbauen können, verhindert die schnelle Fluktuation der außerhalb des gesetzlichen Rahmens tätigen Prostituierten, ihre Unkenntnis in Sprache und Kultur, hierarchische Strukturen unter den Prostituierten sowie Konkurrenzdruck der zur Nachfolge bereiten Landsfrauen die Gleichstellung mit anderen Akteuren auf dem Markt. Sie sehen sich als Einzelne einem tendenziell professionell organisierten Markt gegenüber, der grundsätzlich den Rahmen der Selbstbestimmung absteckt.

Obwohl die unmittelbaren Bedingungen und Umstände des internationalen Prostitutionsmarktes in der Schweiz eine Selbstbestimmung der Prostituierten weitgehend ausschließen, bietet der Markt dank der Einbettung in die gesellschaftlich, ökonomisch und rechtlich-demokratisch privilegierte Position eines westlichen Landes immer noch genügend Anreiz, um freiwillig, ohne Gewalt oder Zwang, und im Wissen um die zukünftige Tätigkeit, daran teilhaben zu wollen.

  1. Organisierte Kriminalität

Versuche von hierarchisch strukturierten Organisationen, die in verschiedenen Bereichen der Kriminalität international agieren, sich am Markt der Prostitutionsmigration in der Schweiz zu beteiligen, können nicht ausgeschlossen werden. Verschiedene, regional differenzierte Faktoren wirken dem Erfolg allfälliger diesbezügliche Projekte jedoch entgegen.

  1. Soziale Kontrolle des Marktes

Außer in besonders betroffenen Gebieten, wo sich lokal-politischer Widerstand formiert und öffentlichen Druck auf Polizei und Politik (Tessin, Stadt Zürich) geltend macht, scheint sich das öffentliche Interesse auf Berichterstattung in den Medien unter dem Thema „Sex and Crime“ zu erschöpfen, wobei einzelne Gewalttaten Wellen der Empörung oder breite Solidarität mit den Opfern auslösen können. Das Thema eignet sich offenbar wenig, eine breite Öffentlichkeit zu mobilisieren und in einen konstruktiven Diskurs einzubinden. Es bleibt vielmehr einzelnen Politikerinnen, aktiven Frauenorganisationen, Berichten von Menschenrechtsorganisationen, Journalisten, wissenschaftlichen Forschern, den Strafverfolgungsbehörden und der Rechtsprechung überlassen, den Gegenstand weg vom Voyeurismus ins öffentliche Bewusstsein zu rücken.

Fussnoten

305 Barthes, Roland (1980) (franz. 1957): „Strip-tease“, in: Mythen des Alltags.
306 Schneider, Friedrich (1995) Der Sexmarkt, in: Cash, Sonderausgabe, Oktober 1995.
307 Der Lagebericht 1999 des Bundesamtes für Polizei (BAP) geht von geschätzten 7’000 Prostituierten in den Kantonen Zürich, Basel, Genf, Bern, Luzern und Tessin aus, wobei registrierte ebenso wie eine geschätzte Zahl illegaler Prostituierter berücksichtigt sind. Nach Hochrechnung auf die Gesamtzahl der Bevölkerung kommt das BAP auf die Gesamtzahl von 14’000 Prostituierten in der Schweiz.
308 Schätzungen vom Bundesamt für Polizei, Lagebericht 1999. Szene Schweiz.
309 Dazu etwa Föllmi, Franzi (1997): Files in the Spider’s Web or Spiderwomen? Mail-order brides and migrant sex workers in Switzerland.
310 Bianchi, R. (2000): Abbild der Prostitution im Kanton Tessin, im Auftrag des Staatsrats des Kantons Tessin.
311 Die letzte Angabe ist der Zeitschrift Area vom 14.4.2000 entnommen.
312 Giornale vom 17.1.2000.
313 Weitere Informationen liefert die Studie der Aidshilfe Tessin, die 1992 80 ausländische Prostituierte und Nachtelubtänzerinnen befragte. Aiuto Aids Ticino (1993): Prostituzione e prevenzione dell’Aids in Ticino. Aids-Hilfe Schweiz und Aiuto Aids Ticino, Lugano.
314 Art. 199 StGB, so genannte „Strichpläne“.
315 Bundesamt für Polizei, Szene Schweiz, Lagebericht 1999.
316 Dabei ist zu vermuten, dass etablierte Prostituiertenorganisationen in Genf besonders stark sind und die Praxis von Anzeigen gegen Prostitutionsmigrantinnen von Seiten legal arbeitender Frauen Schule macht.
317 Schätzung Stadtpolizei Zürich, Stand 2000; Bundesamt für Polizei, Lagebericht 1999.
318 Flavio Farini, Polizeikommandant des Kantons Tessins, in: Il Caffe vom 2.4.2000.
319 En Zum Beispiel das Bordell „Petit Fleur“ im Zürcher Außenquartier Wollishofen.
320 Zum Beispiel der Wellness-Betrieb „Zeus“ in der Nähe des Autobahnkreuzes Basel-Luzern und Zürich-Bern. Die Kantonspolizei Solothurn hat eigens eine Karte erstellt, die die Clubs und Erotik-Zentren verzeichnet.
321 Es handelt sich um die Tessiner Zeitschrift Inchieste. Die Resultate sind in der Ausgabe vom 1.3.2000 publiziert.
322 Der Fernsehjournalist Michel Venturelli hat sich als Bordellbetreiber ausgegeben und konnte ohne weiteres sechs Frauen aus Ungarn für den nächsten Tag ins Tessin bestellen, die bereit gewesen wären, für ihn als Prostituierte zu arbeiten. Dem ungarischen Vermittler, der angab, den Bezirk Oberitalien, das Tessin, Spanien und Portugal abzudecken, hätte er im Gegenzug gleichentags 1500 Franken pro Frau mittels Bankcheck überweisen müssen. Das Telefongespräch wurde vom Fernsehen TSI aufgezeichnet und in der Sendung FAX vom 22.10.1999 ausgestrahlt.
323 Flavio Farini, Polizeikommandant des Kantons Tessins, in: Il Caffe vom 2.4.2000.
324 Dazu die ethnopsychoanalytische Literatur wie etwa: Schär-Sall, Heidi (1999): Überlebenskunst in Übergangswelten, S. 77-106; Moser, Catherine; Nyfeler, Doris und Verwey, Martine (Hg.) (2001): Traumatisierung von Flüchtlingen und Asylsuchenden.
325 Gerben I.N., Meershoek, Guus and Bruinsma (1997): Organized Crime and Trafficking in ‘Women from Eastern Europe in the Netherlands.
326 Vgl. dazu: Estermann, Josef (2002): Organisierte Kriminalität in der Schweiz.
327 Gespräch mit Xenia-Vertreterinnen, Bern, und Kantonspolizeistelle Bern; Gespräch mit Aids-Hilfe Schweiz-Vertreterin, Luzern, und Kantonspolizei Luzern; Gespräch mit FIZ-Leiterin Zürich und Sittenpolizeistelle der Stadt Zürich; Gespräch mit Barfüsser-Projekt-Leiterin St. Gallen und Chef der kantonalen Polizei, St. Gallen; Gespräch mit Aids-Hilfe-Vertreterin Basel und Stadtpolizeistelle Basel u.a.
328 TagesAnzeiger Zürich vom 10.7.2004.
329 Zum Zeitpunkt der Interviews (2000) regte sich noch wenig Empörung, was sich wenig später änderte und im Tessin zur Bildung von eigentlichen Bürgerbewegungen führte und den Politiker und Bordellbesitzer B. zu Fall brachte.
330 Allerdings gelten Verbindungen von öffentlichen Personen zum Milieu ebenso wenig als politisch korrekt. So wurde beispielsweise die Wahl einer aussichtsreichen Kandidatin für das Friedensrichteramt im Kanton Zürich indiskutabel, als sich durch Recherchen von Journalisten herausstellte, dass die gut situierte Kandidatin, die in einer ländlichen Gegend residiert, im Besitz von Immobilien in der Stadt ist, die sie zimmerweise zu hohen Preisen an Prostitutionsmigrantinnen vermietet (Tages Anzeiger Zürich vom 18. Oktober 2003).
331 Es sind vornehmlich Politikerinnen, die sich im Bereich Frauenhandel und Prostitutionsmigration engagieren, so z.B. die Nationalrätin Cécile Bühlmann, Luzern (Motion Bühlmann zum Zeuginnenschutzprogramm), und weitere Mitglieder der Frauenkommission des Nationalrats. Verschiedene Quellen bestätigen zudem einen erheblichen Umsatzzuwachs von milieunahen Lokalen rund ums Bundeshaus während den parlamentarischen Sessionen in Bern.