Auswirkungen Drogenrepression Maeder Strafvollzug

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Christoph Maeder

„Drögeler, Giftler und Paffer“: Zum kompetenten Umgang mit drogensüchtigen Insassen im Strafvollzug

Die soziologische Grundfrage, wie soziale Ordnung entsteht und stabilisiert wird (Berger/Luckmann 1969), stellt sich im Alltag des Strafvollzugs dem praktisch Involvierten nicht in dieser Form. Für ihn ist vielmehr entscheidend, was aus seiner Sicht, gemäß seiner ihm gegebenen sozialen Umgebung, funktioniert und sich bewährt. Doch gerade in diesem alltäglichen Wissen liegt für die interpretative soziologische Perspektive der Schlüssel zum Verständnis dessen, was in Handlungsfeldern mit der Metapher ,Gesellschaft‘ bezeichnet wird. (1) Mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung lassen sich solche oftmals fremden Lebenswelten von Interpretationsgemeinschaften und deren Methoden zur Konstruktion sozialer Wirklichkeiten erschließen. Aufgrund mehrjähriger Feldforschungsarbeiten in einer offenen Strafvollzugsanstalt in der Ostschweiz wird in diesem Aufsatz der Frage nachgegangen, wie sich im Strafvollzug eine von Behörden und Praktikern vor Ort unerwünschte Subkultur präsentiert und wie mit ihr im Praxisfeld umgegangen wird. (2) Dazu wird ein zentraler Auszug aus dem kommunikativen Repertoire rekonstruiert, den das Personal für den Umgang mit drogensüchtigen Insassen verwendet.

Interessant ist als Ausgangspunkt die Beobachtung, dass das Ausmaß der Durchsetzung der Anstalt mit Drogen aller Art gar nicht genau bekannt ist. Auch vor Ort wissen weder das Personal, noch die Insassen genau, wie viele Drogen welcher Art auf dem Markt sind. Trotz der ununterbrochenen und punktuell durchaus auch erfolgreichen Bemühungen des Personals in der Anstalt um die Erfassung und Bestrafung von Drogenkonsum und -handel, sind weiche Drogen wie Cannabis und Marihuana fast immer, und harte Drogen, wie Kokain und Heroin erstaunlich häufig in der Anstalt vorhanden. Die Disziplinarstrafenregister der Anstalt können erste Hinweise liefern. Sie enthalten die vom Personal geahndeten Verstöße gegen das absolute Drogenverbot in der Organisation, in der auch legale Rauschmittel wie Alkohol streng untersagt sind. Infolge dem Personal sozialstrukturell auferlegter situativer Praktiken des Erkennens und Durchgreifens bei sogenannten

„Drogenfällen“ sind diese Statistiken bei genauer Betrachtung aber unvollständig (siehe dazu: Maeder 1994, 171-177). (3) Gänzlich dem genauen Wissen des Personals entzogen ist schließlich der harte Kern des Schwarzmarktes mit Drogen. Es vermutet zwar jeweils aufgrund der Stimmungsschwankungen in der Anstalt einen Zusammenhang mit der Versorgungslage durch „Stoff“. Doch diese intuitiven Einschätzungen lassen keine Rückschlüsse auf die Anzahl der Drogenkonsumenten und die konsumierten Arten und Mengen von Drogen zu. Es lohnt sich deshalb, sich Überlegungen zum Phänomen von Drogen im Gefängnis zu machen, die nicht auf statistische Verteilungen und Repräsentativität ausgerichtet sind, sondern vielmehr nach für die Vergemeinschaftung typischen Mustern und vorsichtig nach generalisierbaren Handlungsarrangements in totalen Institutionen (Goffman 1973a) zu fragen. (4) Oder einfacher und als Frage formuliert: Wie wirken denn Drogen, neben dem eigentlichen Konsum, in einer Anstalt?

Die alltägliche Ordnung im Gefängnis ist, wie in anderen Kontexten, eine ausgehandelte Ordnung (McDermott/King 1988; Fine 1984; Strauss 1993). In zentralen soziologischen Untersuchungen zum Gefängnis als einer sozialen Organisation werden die Ergebnisse solcher Aushandlungsprozesse präsentiert. Es handelt sich dabei um Beschreibungen der grundlegenden Anpassungsmodi von Insassen an die auferlegte Alltagsorganisation (Goffman 1961a, 1961b), zugeschriebener Verhaltenserwartungen an Häftlinge im Sinn von sozialen Rollen unter den Bedingungen absichtsvoller Deprivation (Sykes 1956, 1958), verdichtend rekonstruierter Verhaltensmuster von Gefangenen (Irwin 1970, 1980) oder anhand eines analytischen Modells formulierte Insassenkategorisierungen (Cohen/Taylor 1972). (5) Diese soziologischen Befunde verweisen darauf, dass man im Gefängnis, wie in jeder anderen Organisation auch, zunächst und vor allem wissen muss, mit wem man es zu tun hat. Dieses gemeinsame Wissen der Mitglieder einer Organisationskultur um die dazugehörigen Akteure wird in einer spezialisierten Sprache symbolisiert und indiziert das Repertoire des angemessenen und kompetenten Handelns.

Zur soziologischen Erschließung des Fragenkomplexes, wie man mit drogensüchtigen Insassen sinnvollerweise umgeht, wird anhand einer ausführlichen Interaktionssequenz die Struktur des kompetenten Umgangs des Personals mit „Drögelern“ vorgeführt. Anschließend werden die Insassentypisierungsmuster des Personals in dieser Drogenkultur vor dem Hintergrund der ihnen grundsätzlich auferlegten Handlungszwängen eingeführt. Mit der Beschreibung dieses Sonderwissensbestandes des Gefängnispersonals wird deutlich, wie Drogen zur Herstellung der sozialen Ordnung in einer Zwangsorganisation bearbeitet werden und wozu die umgangsprachlichen Etikettierungen drogenkonsumierender Insassen wie „Drögeler, Giftler und Paffer“ dienen: Sie stellen, funktional gesehen, kommunikative Ressourcen zur Stabilisierung einer einfachen Rollenstruktur unter totalen Daseinsbedingungen dar.

Mitgliedschaftskategorien als Elemente sozialer Organisation

Nach Aussagen des Personals der Anstalt verursacht eine „Sorte von Insassen“ seit Jahren kontinuierlich zunehmend Schwierigkeiten: die „Drögeler“. Während „Normale“ sich im Anstaltsalltag gegenüber dem Personal unauffällig verhalten würden und die Anstaltsroutinen nicht offen stören, bereiteten die „Drögeler und Giftler“ vielfältige Schwierigkeiten und würden das Personal und die nicht süchtigen Insassen in mancherlei Hinsicht immer wieder herausfordern. Wichtig zu wissen sei dabei, dass weniger die Anzahl, als vielmehr der jeweilige „Zustand“ der Drogensüchtigen das Ausmaß der Schwierigkeiten bestimme. Ein einziger wirklicher „Drögeler“, der vorübergehend einen „Affen“ habe, „herumtigere“ oder „verladen“ sei, könne eine ganze Gruppe bei der Arbeit nachhaltig stören, oder in einer Freizeitveranstaltung von der vorgesehenen Anstaltsordnung abbringen. In dieser Beschreibung wird das Grundproblem aufseherischen Handelns, die Gewinnung von Kooperation seitens der Insassen artikuliert. (6) Entlang dieses Problems ist denn auch die Insassentypisierung des Personals schwerpunktmäßig organisiert. (7) Es ist aus verständlichen Gründen und abgesehen von punktuell durchgeführten systematischen Kontrollen, weniger am präzisen Wissen über Drogenkonsum, als an der Integration der Insassen in den Tages- und Arbeitsablauf interessiert. Die Schwierigkeiten, auf die es in seiner Arbeit dabei stoßen kann, beschreibt folgende protokollierte Interaktionssequenz. Dieser Ablauf dauerte gerade siebzehn Minuten und erscheint auf den ersten Blick als ein triviales, nebensächliches Ereignis. Doch wird hier mit Goffman die Überzeugung vertreten, dass die soziale Ordnung gerade in den flüchtigen und wenig spektakulären Begebenheiten des Alltagslebens hergestellt wird und dort auch beobachtet werden muss. (8) Es wird das langgestreckte Ende einer Kaffeepause in einer Gruppe von mehrheitlich drogenabhängigen Insassen beschrieben und analysiert. (9) Dabei wird erkennbar, dass subtile und aufwendige Handlungskompetenzen erforderlich sind, um die soziale Ordnung als eine Kooperationsordnung aufrechtzuerhalten; Mechanismen, die keinesfalls starren Befehls- und Unterordnungsformen entsprechen.

Der Ort des Geschehens ist eine Kaffeepause. Das Gespräch zwischen den sechs Insassen, den zwei weiblichen Betreuerinnen für Ernährung und Töpfern, dem Betreuer für das Steinbildhauen, dem Leiter des Nachmittagsprogramms und dem anwesenden Soziologen dreht sich um kleine Alltäglichkeiten. Man frotzelt einander, plaudert über die kleinen Ereignisse des Nachmittags und dies und das. Es herrscht eine lockere Stimmung. Um 16 Uhr 10 läutet das Telefon im Büro nebenan. Bernhard, der Leiter der Nachmittagsarbeit erhebt sich vom Stuhl und verlässt den Raum. Auf seinem Weg zur Türe ermahnt er die Anwesenden, die Pause pünktlich um 16 Uhr 15 zu beenden.

Inzwischen ist es 16 Uhr 18 und die Pause geht munter weiter. Niemand schaut auf die Uhr oder macht irgendwelche Anstalten sie zu beenden. Die Zeit scheint wie vergessen. Um 16 Uhr 20 betritt Bernhard wieder den Raum und muss feststellen, dass die Pause, entgegen seiner Anweisung, noch nicht beendet ist. Er fordert nun, während er sich von der Türe zum Tisch hin bewegt, freundlich in die Runde hinein, die Pause sei jetzt aber zu beenden. Auf diese Aufforderung hin wirft der Insasse Anton die Frage auf, wer denn eigentlich heute den Tisch abräumen müsse und welche beiden das Geschirr abzuwaschen hätten. Bernhard bemerkt dazu, dass dies doch bereits bestimmt worden sei, es stehe ja auf dem Plan. An der Wand neben dem Türrahmen hängt jeden Tag ein A4-Blatt mit dem Programm des Nachmittags und den Arbeitszuteilungen für die Insassen. Der Insasse Karl meint nun in die Runde hinein, der Plan könne nicht stimmen, denn er habe ja gestern den Tisch abgeräumt, ohne auf dem Plan aufgeführt gewesen zu sein. Es sei sicher nicht gerecht, wenn er heute schon wieder an der Reihe sei. Überhaupt müsse der Plan angepasst werden, weil nämlich vorgestern ein anderer freiwillig geholfen habe, weil der zum Abräumen bestimmte Kuno ja beim Anstaltsdirektor „vortraben“ musste. Dies habe der Bernhard auch gewusst, und jetzt stimme eben der Plan nicht mehr. Bernhard wendet sich von der Gruppe ab, schaut auf den Plan an der Wand und sagt nichts mehr. Die anderen anwesenden Insassen stimmen Karl zu: Ja, der Plan stimme nicht mehr.

Die Diskussion am Tisch dreht sich nun darum, wer denn gestern, vorgestern usw. was gemacht habe, und es wird unter den Insassen – kaffeetrinkenderweise – nach einer Lösung des Problems für den „falschen“ Plan und das heutige Abräumen und Abwaschen gerungen. Dabei gerät einer der Anwesenden (Bruno) ins Schussfeld der Aufmerksamkeit. Niemand am Tisch kann sich erinnern, wann denn der abgeräumt habe. Zu seiner Verteidigung bringt Bruno vor, er habe einmal abgewaschen, als er nicht musste, doch er könne eben nicht gut abräumen, weil er „das huerä Zitterä“ (sinngemäß: das verdammte Zittern) in den Händen habe. Wegen dem Zittern habe er zudem bereits einmal eine zerbrochene Tasse bezahlen müssen. Das Zittern komme von den „gottverdammten Medi vom Müller“. Zur Erläuterung: Dr. Müller ist der Anstaltspsychiater. Eine wichtige Aufgabe von ihm besteht darin, den Insassen ihre Medikamentenration zuzuteilen. Viele Insassen bekommen Psychopharmaka, vor allem für die Nacht. Bernhard verspricht jetzt in die Runde hinein, den Plan anzupassen. Die Diskussion teilt sich praktisch gleichzeitig in zwei Gruppen: Die einen sprechen über den Sinn und den Unsinn der Medi und darüber, wie „Chloralsirup“ und „Habli“ (Haschisch) eben zusammen eingenommen, ein „Downer“ seien. Die anderen suchen immer noch nach einer Lösung für die Bestimmung desjenigen, der abräumen soll. Jetzt meldet sich Erwin freiwillig zum Abräumen und verlangt, dass dies aber im Plan auch berücksichtigt werde, denn er habe schließlich schon vorgestern abgeräumt. Sein Kollege Karl meint nun, dies sei aber nicht gerecht, wenn jetzt schon wieder der Erwin abräume. Der „huerä Zitteri“ (sinngemäß: der verdammte Zitterer) solle das Geschirr nur

„überäzitterä“ (hinüberzittern, d.h. vom Tisch zum Abwaschtrog tragen). Dies sei doch ein Affentheater, was der da mache. Er müsse sich ja nicht dauernd verladen lassen vom Müller, denn der gebe ja immer doppelt soviel, wie man eigentlich brauche. Deshalb und wegen der Drogen sei ja ohnehin und überhaupt der ganze Laden „zu“. Eine Betreuerin versucht nun die Diskussion beim Abräumen zu halten. Sie kann sich aber nicht durchsetzen. Die Insassen sind beim Thema Medizin eingeschnappt. Mittlerweile ist es 16 Uhr 23. Die Lautstärke der Diskussion nimmt zu. Unvermittelt steht der „Zitteri“ (der Zitterer) auf und entfernt sich vom Tisch mit der Bemerkung, das sei ja ein völliges Irrenhaus, und er haue sich jetzt auf das Sofa nebenan bis „die da“ (er zeigt in Richtung der Gruppe am Tisch) wieder normal seien. Die Angesprochenen reagieren mit herablassenden Sprüchen und setzen ihre Diskussion über die Medi und den Dr. Müller fort. Inzwischen hat Karin, die zweite Betreuerin, den Insassen Anton in ein Gespräch verwickelt, und beide beginnen nun ohne Ankündigung abzuräumen. Die anderen helfen ein wenig mit, indem sie die Tassen und Teller auf dem Tisch so verschieben, dass die beiden Abräumenden diese knapp erreichen können. Insasse Karl meint nun zum Anton, er könne ja nun gemütlich abräumen, denn schließlich mache er das ja freiwillig. Wenn er langsam mache, könne er zudem der Karin noch länger schöne Augen machen. Anton stimmt zu, dass er es nicht eilig habe. Aber nicht wegen der da – die habe ja schon einen „dafür“ und macht mit dem Finger eine unmissverständliche Geste -, sondern weil er es eben tue, aber nicht tun müsse und weil Karin immer nett zu ihm sei. Karin, bereits am Waschtrog stehend, fordert Anton auf, nun doch das „Gschnörr“ (Geschwätz) zu beenden und endlich das Geschirr zu bringen. Umständlich und langsam findet nun das Geschirr seinen Weg zum Waschtrog. Langsam verlassen die Leute den Raum in Richtung der zugewiesenen Arbeitsplätze. In der Sprache des Personals heißt dies: „zur Büäz uusätröpflä“ (zur Arbeit hinaus zu tropfen). Die Betreuerin Karin und der Insasse Anton bleiben allein im Raum zurück um aufzuräumen. Zum Abtrocknen meldet sich niemand. Die Uhr zeigt 16 Uhr 27.

Nichts, auch nicht die kleinste Verrichtung, geschieht hier ,einfach so‘. Vielmehr bedarf es der dauernden Aushandlung, was jetzt wie und als nächstes geschehen soll. Es wird in der Beschreibung deutlich, wie das Personal solche Probleme fast nie mit grober Macht, sondern meistens mit dem angeht, was es selber als „uuskoche loo“ (auskochen lassen) bezeichnet. Dabei setzen die Insassen im Aushandlungsprozess immer wieder verschiedene Anknüpfungspunkte für ein Wegkommen vom ,eigentlichen Thema‘ aus, die ein problemloses Weiterstricken des Gesprächs ermöglichen und damit die Pause verlängern. Insgesamt haben in unserem kleinen Fall die Insassen dreizehn solche diskussionsfähigen, indexikalen Markierungen (Verweise, Anknüpfungspunkte) gesetzt, von denen sich die Medikamentenfrage und der damit in Verbindung gebrachte Anstaltspsychiater als die wirksamsten erwiesen haben. In der vorliegenden Interaktionssequenz verhilft letztlich die Chance mit einer weiblichen Person sprechen zu können dazu, dass die Anstaltsordung nicht allzu stark ins Wanken gerät; wobei darauf hinzuweisen ist, dass die Betreuerinnen infolge der sexuellen Komponente, die sie ungewollt in das Programm einbringen, ab und zu auch heikle Situationen zu bewältigen haben. (10)

Klar erkennbar ist, dass das anwesende Personal zur Beendung der Pause nicht auf irgendeine amtliche Autorität zurückgreift. Die lnteraktionsregeln folgen nicht dem Muster von ,Befehl und Gehorsam‘ und Androhung von Strafen und Sanktionen. Bernhard gibt Anordnungen, erzwingt aber nicht ihre sofortige Durchführung. Er zieht sich sogar minutenlang zurück, als er von einem der Insassen auf einen (vermeintlichen?) Fehler in der Planung hingewiesen wird. Es wird diskutiert, es werden Begründungen vorgebracht und eingefordert. Beim Versuch der Steuerung müssen die Betreuer versuchen, von der Notwendigkeit der Anordnungen zu überzeugen. Man verzichtet auf Androhungen, man appelliert an die Kooperationsbereitschaft der Gruppe und der einzelnen Teilnehmer und die Drogenfrage wird nicht als Anlass genommen, irgendwelche Sanktionen anzudrohen oder einzuleiten. Beispiele in der Beschreibung sind: Bernhard mahnt das Pausenende an, er verspricht den Plan anzupassen, er lässt die Diskussion um die Medikamente gewähren, eine Betreuerin versucht jemanden zum Abräumen zu bewegen, Karin löst einen einzelnen Insassen aus der Gruppe und beginnt selber mit der Arbeit. Die Insassen kooperieren – aber erst, nachdem sie sich die Kooperation haben abhandeln lassen und schon die Fährte für künftige Neuverhandlungen angelegt worden ist. Die aktuelle Lösung stellt jetzt nämlich schon die Weichen für die zukünftigen Verhandlungen darüber, wer morgen abzuwaschen hat. Es leuchtet unmittelbar ein, dass diese Art des besonders langsamen und in der Alltagsstruktur einer Strafanstalt relativ verhandlungsintensiven Umgangs den insbesondere die „Drögeler“ verursachen, diesen beim Personal den Ruf als besonders mühsame und aufwendige Insassen eintragen.

Die hier ausführlich beschriebene, interaktive Umgangskompetenz mit drogenabhängigen Gefangenen stützt sich auf einen als „folk theory“ (Spradley 1979, 1980) beschreibbaren Sonderwissensbestand einer Insassentypisierung der für viele Situationen einen Rahmen (Goffman 1977) bereitstellt. Das Personal ist in der Beobachtung immer wieder damit beschäftigt, die Insassen im Hinblick auf ihren Drogenstatus zu kategorisieren. Es unterscheidet im semantischen Feld „Drögeler“ idealtypisch zwischen den „Giftlern“ und den „Paffern“.

Die „Giftler“ sind die „richtigen Drögeler, die Fixer“, von denen angenommen wird, dass sie harte Drogen konsumieren und die auch ausnahmslos wegen Verstößen gegen Betäubungsmittelgesetz oder wegen der Beschaffungskriminalität inhaftiert sind. Die „Giftler“ umfassen ein relativ breites Spektrum von Personen in Bezug auf die Sichtbarkeit ihres Kontaktes mit harten Drogen. Es finden sich darunter gesundheitlich bereits schwer gezeichnete junge Männer mit ärztlichen Diagnosen wie Hepatitis, HIV-positiven Blutbefunden und fast immer mit auffallend zerstörtem Gebiss. Daneben sind jedoch auch durchaus noch gesund wirkende, kräftige und vom harten Drogenkonsum körperlich noch nicht gezeichnete Insassen anzutreffen. Entscheidend für das Personal und die übrigen Insassen ist

weniger der auch für Außenstehende sichtbare gesundheitliche Zustand eines Mitglieds des Typus „Giftler“, als vielmehr was mit dieser Etikettierung mitkommuniziert wird: Diesen Personen kann und darf man nicht trauen und es ist konstant erhöhte Aufmerksamkeit verlangt. „Giftler tun alles für die Drogen und die hauen jeden in die Pfanne für ihren Stoff“, so lautet für die Aufsicht die umgangssprachliche Generalregel. In der Tat ist mit den Drogen eine inoffizielle Unterorganisation der Anstalt verbunden, deren Vorhandensein allgemein zugestanden wird, über deren konkrete Ausgestaltung und insbesondere personelle Ausstattung jedoch das Personal nur sehr ungenau informiert ist. Selbstredend führt genau dieses Wissens zu vielen Kontrollen im Gefängnisalltag und diese wiederum kosten nicht nur das Personal, sondern auch die Drogenkonsumenten Sympathie und Kooperation bei den übrigen Insassen. In diesem übertragenen Sinn ,vergiften‘ harte Drogen das Klima in der Anstalt.

Andere Handlungsinventare werden bei den als „Paffern“ erkannten Insassen benötigt, die Haschisch und Marihuana konsumieren. Diese Häftlinge gelten prinzipiell als friedlich und umgänglich, solange sie nicht durch Kontrollen oder andere Einschränkungen „scharf gemacht werden“, wie es im Jargon heißt. Diese Drogenkonsumenten, die, im Unterschied zu den „Giftlern“, sich selber auch nicht in eine den Nichtkonsumenten völlig verschlossene Subkultur ausgrenzen, lösen zudem auch zwei wichtige Probleme für die gesamte Insassenschaft. Erstens beschaffen sie ein fungibles Wertautbewahrungs- und -weitergabemittel an einem Ort, an dem der Geldbesitz durch die Anstaltsorganisation stark eingeschränkt ist, und zweitens verschaffen sie den Insassen ein wirksames Substitut für den verbotenen Alkohol. Dies wird vom Personal durchaus anerkannt, wenn auch nicht gutgeheißen. Für den Umgang mit Cannabiskonsumenten hat sich ein prekäres Arrangement, nicht unähnlich dem außerhalb des Gefängnisses, etabliert: Der individuelle Konsum führt, solange er unsichtbar bleibt und nicht provokativ erfolgt, nur sporadisch zu Sanktionen. Jedenfalls erfolgt wegen einer einzigen Marihuanazigarette, auch wenn sie gerochen werden kann, kein Eingriff, sondern bestenfalls ein mündlicher Hinweis man solle mit diesem „Scheiß“ aufhören. Der Handel und insbesondere der Transfer in die Anstalt hinein werden hingegen strikt und konsequent geahndet.

Schlussfolgerung

Entlang den dem Personal auferlegten Relevanzen der Herstellung eines funktionierenden Anstaltsbetriebes werden die drogensüchtigen Insassen mit einem speziellen Begriffslexikon in „native-terms“ (Spradley 1979) sortiert. Die daraus resultierende Unterscheidung von Häftlingen macht es möglich, eine große Bandbreite von Insassenverhalten in den Erwartungshorizont des Personals und in die von ihm stabilisierte Anstaltsordnung einzupassen. Das in Personentypisierungen aufbewahrte Wissen enthält in einer Art kommunikativer Stenographie von Bezeichnungsetiketten wichtige Handlungsanleitungen (Berger und Luckmann 1969, S. 33f), und es erschließt sich den Forschenden und den Mitgliedern der Gefängniskultur durch seine alltägliche Versprachlichung. Die Begriffskategorien als kleine semantische Felder enthalten erfahrungsgesättigte Beschreibungen von erwartbarem Verhalten von Insassen und versorgen das Personal mit interpretativen Ressourcen dafür, was vorfallen kann und wie man zweckmäßigerweise durchaus auch mit Rollendistanz (Goffman 1973b) darauf reagiert.

Das wichtigste und gemeinsame Merkmal aller dieser Bezeichnungen liegt in seinem prognostischen und präventiven Wert, den es für das Personal hinsichtlich des lnsassenverhaltens und -handelns hat. Diese „Organisationsfolklore“ (Jones et al. 1988), die ein Komplement zum sogenannte Insassencode (11) der Gefängnisliteratur darstellt, ist zentral für das Verstehen und die Dauerhaftigkeit der sozialen Ordnung im Strafvollzug, in dem Drogensüchtige inhaftiert sind. Sie verhindert Fehler im Umgang mit Insassen, die leicht zu Irritationen und im Extremfall gar zu Gewalt führen könnten. (12) Funktional betrachtet ergibt dieses inoffizielle Wissen, das ausschließlich in der ethnographischen Beschreibung verschriftet wird, ein wirksames narratives Arsenal für die Aufrechterhaltung der längerfristigen Kontrolle des Personals über die Insassen in der Anstalt.

Anmerkungen

1 Ausführlich und speziell für den ethnographischen Ast in der Soziologie hat Honer (1993) diese Position beschrieben.

2 Das Material, über das hier berichtet wird, stammt aus einer Forschungsarbeit in der kantonalen Strafanstalt Saxerriet im Auftrag des Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartements. Mittels teilnehmender Beobachtung wurde im Rahmen eines sogenannten Modellversuchs (siehe dazu: Bundesamt für Justiz 1996) eine neuartige Vollzugsform, das „Zusatzprogramm für leistungsschwache Insassen“ evaluiert. Methodisch wurden dabei die Verfahren der ethnographischen Semantik eingesetzt, die theoretisch in die sogenannte „ethnoscience“ (Werner/Schoepfle 1987) eingebettet sind (ausführlich dazu: Maeder 1995, 36-84; Maeder/ Brosziewski 1997).

3 Die kleine, genau erfasste Gruppe von zwischen sechs und acht Insassen, die als sogenannte „leistungsschwache“ in einer speziellen Vollzugsform untergebracht waren, hat in drei Jahren 28 Vorfälle mit Drogen verursacht, die zu einer schriftlichen Eintragung in der Insassendokumentation geführt hat. Vierzehnmal wurde Alkoholkonsum, siebenmal Haschisch-, viermal Heroin- und einmal Kokainkonsum registriert und bestraft.

4 Die Untersuchung der Kultur einer Strafvollzugsanstalt wurde in Anlehnung an die klassischen amerikanischen Gefängnis-Studien von Goffman (1973), Irwin (1970, 1980, 1985) und Sykes (1958) mittels teilnehmender Beobachtung und offenen Interviews durchgeführt.

5 Eine umfassende Literaturübersicht zur englischsprachigen Gefängnisforschung, aus der, von wenigen Ausnahmen abgesehen die genuin soziologischen Konzepte zu dieser Einrichtung stammen, gibt Ditchfield (1990). Ein kürzerer Überblick über die zentralen Erkenntnisse zum Gefängnis als einer Sozialisationsagentur findet sich bei Morgan (1994).

6 Zur strukturellen Problematik aufseherischen Handelns zwischen Aufsicht, Kontrolle und Betreuung wird verwiesen auf Schneeberger Georgescu (1996).

7 Die hier vorgenommene Fokussierung auf die Drogenfrage hat zur Folge, dass andere wichtige Dimensionen des semantischen Feldes „Insasse“ mit seinen Attributen hier ausgeblendet werden. Eine vollständiges Insassenbezeichungslexikon findet sich in Maeder (1997).

8 „A sociology of occasions is here advocated. Social organization is the central theme, but what is organized is the co-mingling of persons and the temporary interactional enterprises that can arise therefrom. A normatively stabilized structure is at issue, a ’social gathering‘, but this is a shifting entity, necessarily evanescent, created by arrivals and killed by departures“ (Goffrnan 1967, 2).

9 Aufgrund verhaltensmäßiger, medizinisch festgestellter oder sozialversicherungsrechtlich begründeter Unfähigkeit in den Werkstätten der Anstalt zu arbeiten, wurde 1991 das „Zusatzprogramm für leistungschwache Insassen“ in der Anstalt eingeführt. Die dieser Vollzugsform zugeordneten Insassen arbeiten nur am Morgen im Betrieb und werden nachmittags einem sozialpädagogischen Programm zugewiesen. Etwa zwei Drittel dieser Insassen waren im Beobachtungszeitraum von vier Jahren noch aktive oder ehemalige Drogensüchtige, die harte Drogen konsumierten. Knapp mehr als die Hälfte erhielten in der Anstalt Methadon.

10 Obwohl die Chancen zu handgreiflichen sexuellen Handlungen infolge der extrem dichten sozialen Kontrolle klein sind, müssen sie mit der Tatsache fertig werden, dass die Insassen oftmals kleine Zoten an ihre Adressen richten oder anderswie sexuelle Anspielungen und Bewertungen machen.

11 Als ‚Code‘, ‚Convict Code‘ oder auch ‚Inmate Code‘ wird in der soziologischen Literatur zum Gefängnis jenes normative Wissen bezeichnet, das den Umgang von Insassen mit dem Personal anleitet. Der Begriff des Code wurde von Clemmer (1940) in die Soziologie des Gefängnisses eingeführt und später vielfach verfeinert und variiert (siehe dazu Wieder 1974 und Maeder 1995, 10-16).

12 Die Definition und Operationalisierung von Gewalt im Gefängnis ist ein immer noch nicht befriedigend gelöstes Problem (siehe dazu exemplarisch die Arbeiten in Cohen, Cole und Bailey 1975). Für die Gewaltanwendung unter Insassen, sofern sie dem Personal bekannt wird, oder für von Insassen gegen das Personal gerichtete Handlungen, wird in den meisten Anstalten ein Register geführt und es werden Disziplinierungen mit Akteneintrag verhängt. In umgekehrter Richtung, d.h. bei Gewalt von Personal gegen Insassen, gibt es kaum je eine Dokumentation, und die direkte Beobachtung ist praktisch unmöglich.

Literaturangaben

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