Weiterlesen: Frauenhandel Freierbefragung
© ProLitteris, Rahel Zschokke
4.3 Migrationssituation in Osteuropa nach der Wende
4.3.1 Hintergrund: Postsozialistische Gesellschaften
Osteuropa ist weder geopolitisch noch kulturell eine klar definierbare Region. (387) Es gibt zwar grundlegende Tendenzen, die sich von der westeuropäischen Entwicklung abheben, aber die Unterschiede unter den osteuropäischen Ländern sind beträchtlich. „Generell kann ein West-Ost-Gefälle postuliert werden, das teilweise durch eine Nord-Süd-Differenzierung zu ergänzen ist. Insbesondere lassen sich drei relevante Teilregionen unterscheiden: Ostmitteleuropa, Südosteuropa bzw. Balkanregion und die GUS-Länder bzw. die Ex-Sowjetunion.“ (388) Als vor mehr als zehn Jahren das „realsozialistische System‘ zusammenfiel, hofften viele auf bessere Verhältnisse. „Die Erwartungen richteten sich dabei auf eine Verbesserung der Wirtschaftslage, aber auch auf die Bildung demokratischer Verhältnisse, auf eine gerechte, ‚moralisch‘ erneuerte Gesellschaft schlechthin. Heute herrscht in den postsozialistischen Staaten Osteuropas Ernüchterung vor. Selbst in den ostmitteleuropäischen Ländern, die den schwierigen Transformationsprozess am besten bewältigt haben, sieht eine Mehrheit der Bevölkerung wenig Grund zum Feiern. Sowohl die Umstellung der Wirtschaft wie die politischen Reformen erwiesen sich als komplizierte Prozesse mit enormen Problemen. Sie brachten auch große regionale und länderspezifische Unterschiede mit sich, wobei vor allem die Länder Ostmitteleuropas und der GUS auseinanderdrifteten“ (Juchler, 2001). Auf der Ebene der makroökonomischen Entwicklung haben die ostmitteleuropäischen Länder wie Slowakei, Slowenien und Polen den wirtschaftlichen Umbau am besten überstanden und den Rückgang des Bruttoinlandprodukts (BIP) vom Tiefpunkt 1993 (Polen 1991) zum Teil wettgemacht oder den Stand von vor 1989 sogar übertroffen (Polen 1999 um einen Fünftel). Die GUS-Länder erzielten klar schlechtere Resultate, mit großen Unterschieden. Russland lag 1999 (1989=100) mit minus 44% ungefähr im Durchschnitt der GUS-Länder, die Ukraine mit minus 64% deutlich darunter, während die südosteuropäischen Staaten zwischen diesen Extremen lagen. Im heftigen Konkurrenzkampf um die Neuverteilung der wirtschaftlichen und politischen Spitzenpositionen spielten sozial nicht legitimierte Praktiken eine große Rolle: Korruption, Steuerbetrug in großem Stil, Hintergehen von Gesetzen und Vorschriften aller Art, Missachtung von Zoll-, Sozial- und Arbeitsgesetzen, direkte Betrugsmanöver wie Pyramidensysteme von „Finanzgesellschaften“, „Vetternwirtschaft“, Monopole der Schattenwirtschaft durch Finanzoligarchien und gewöhnliche Verbrechen wie Mord. Die makroökonomischen Veränderungen und das unübersichtliche, sich neu formierende Wirtschaftsgeflecht mit den relativ schwachen Staatsapparaten und den anomischen sozialen Verhältnissen wirkten sich prägend auf die Lebensverhältnisse der betroffenen Bevölkerung aus. „Dabei resultierten ambivalente Effekte. Einerseits eröffneten die Umstellungen auf Marktstrukturen mit ihrem erweiterten Konsumangebot und teilweise auch neuartigen Beschäftigungsmöglichkeiten sowie die Umgestaltung der Macht- und Besitzstrukturen mit ihren Mobilitätschancen neue Möglichkeiten; andererseits führten diese Prozesse, gerade im Zusammenhang mit der krisenhaften Adaptation an die neuen Bedingungen, zu schwerwiegenden Problemen. Insgesamt gesehen überwogen dabei für die Mehrheit der Bevölkerung eher die Nachteile, allerdings mit deutlichen länderspezifischen Unterschieden“ (Juchler, 2001). Die Versorgungslage hat sich vor allem in ostmitteleuropäischen Ländern verbessert. Diese „Marktharmonisierung“ wurde aber zu einem großen Teil durch Senkung der Reallöhne und Einkommen erreicht, und für viele verlagerten sich nur die Probleme: Im alten sozialistischen Mangelsystem konnte man nichts kaufen, jetzt fehlte das Geld. „Die Situation verschlimmerte sich sogar, da ein beträchtlicher Teil durch die wirtschaftlichen Krisen und die zunehmende Ungleichheit unter ein ‚soziales‘ Minimum gedrückt wurde oder in eigentliche Armut fiel. Lebten nach Angaben der Weltbank 1989 in ganz Osteuropa (inklusive der UdSSR) rund 14 Millionen oder 4 Prozent der Bevölkerung in Armut, waren es 1994 schon fast 150 Millionen bzw. Ein Drittel der Bevölkerung. Durch die Folgen der jüngsten russischen Finanzkrise sind schätzungsweise nochmals 20 Millionen dazugekommen, vor allem in Russland selber sowie in andern GUS-Staaten. (389) Obwohl der Bevölkerungsanteil in extremer Armut – mit einem Einkommen unter 1 8 pro Tag – weniger stark zugenommen hat, zeigte sich auch hier eine massive Verschlechterung. 1998 waren rund 6% davon betroffen, 1987 erst 1%“ (Juchler, 2001). Am meisten von der Armut betroffen sind kinderreiche Familien, allein erziehende Mütter und Arbeitslose, eine Armutsstruktur, die mit westlichen Ländern vergleichbar ist. Während im alten System Arbeitslosigkeit kaum oder nur verdeckt aufgetreten war, zeigt sich dies im Postsozialismus als besonders akutes Problem. Zudem entwickelten sich die Realeinkommen ungünstig. „1998 war das Niveau immer noch rund 10% geringer als 1989. Auch im internationalen Vergleich waren die Durchschnittslöhne sehr bescheiden.“ (390) „Der Lebensstandard wurde auch durch den Abbau von Leistungen wie unentgeltlichen Kinderhorten, subventionierten Mieten, staatlichen Gesundheitsdiensten deutlich reduziert. Zudem wurden, vor allem in den GUS-Ländern, die Löhne und Renten oft nicht vollständig oder nur mit großer Verspätung ausgezahlt. Viele konnten sich so nur mit Hilfe von Schrebergärten, Schwarzarbeit und Darlehen von Verwandten und Bekannten einigermaßen über Wasser halten“ (Juchler, 2001). Die zentralen Veränderungen schufen auf der einen Seite neue soziale Unterschiede, die, ähnlich wie im alten System wenig legitimiert waren, und machten andererseits die wachsende Armut einer Mehrheit der Bevölkerung durch das neue Phänomen der conspicious consumption, eines eigentlichen Protzens einiger Neureicher, sichtbar. Gegen zwei Drittel der Osteuropäer befinden sich in mehr oder weniger großer wirtschaftlicher Bedrängnis, also der Großteil der Arbeiter, hauptsächlich aber unqualifizierte Arbeiter und die Bauern. Lebten nach Angaben der Weltbank 1989 in ganz Osteuropa (inklusive der UdSSR) rund 14 Millionen oder 4 Prozent der Bevölkerung in Armut, waren es 1994 schon fast 150 Millionen bzw. ein Drittel der Bevölkerung. Durch die Folgen der jüngsten russischen Finanzkrise sind schätzungsweise nochmals 20 Millionen dazugekommen, vor allem in Russland selber sowie in andern GUS-Staaten. (391)
Unter den postsozialistischen Ländern existiert ein deutliches Ost-Westgefälle. In den meisten GUS-Staaten lebte bereits Mitte der 90er Jahre mindestens die Hälfte der Bevölkerung in Armut. (392) In den am meisten entwickelten ostmitteleuropäischen Ländern, Slowenien und Tschechien, waren die Raten mit 1% hingegen sehr gering geblieben. Nur in Polen war die Rate auf rund 20% angestiegen. Noch mehr war sie in den baltischen Staaten angewachsen, während in Südosteuropa große Unterschiede herrschten. Rumänien wies fast 60% aus, Bulgarien 33%, eine Zahl, die nach der Krise von 1996 nach Angaben der Gewerkschaft 1998 ebenfalls 60% betrug. Während vor der Wende noch eine geringe, allerdings aufgrund diverser versteckter Privilegien unterschätzte Einkommensungleichheit vorgeherrscht hatte, war schon Mitte der 90er Jahre in allen Ländern eine große Ungleichheit feststellbar (Milanovic: 135ff). In den ostmitteleuropäischen Ländern war die Zunahme der Ungleichheit deutlich weniger ausgeprägt als in den GUS-Staaten, Dazwischen lagen wiederum die baltischen Staaten sowie die südosteuropäischen Länder Rumänien und Bulgarien.
Es überrascht nicht, dass unter diesen Umständen eine Mehrheit der Osteuropäer die wirtschaftliche Situation vor der Wende als besser einschätzt und das ehemalige sozialistische Regime in Umfragen besser bewertet. Die Tendenz, Wert- und Verhaltensorientierungen primär an der Privatsphäre auszurichten, sieht Juchler als Strategie, um auf diese ungünstigen materiellen Verhältnisse, auf die wachsenden und wenig legitimierten sozialen Unterschiede und auf die weit verbreitete Frustration zu reagieren. Die schon zu Zeiten des Realsozialismus angewandte private „Pufferstrategie“ bindet den Großteil der Ressourcen privat, wodurch die soziale Atomisierungstendenz, die trotz formalem „Kollektivismus“ bereits im alten System dominierte, kaum abgebaut wird, aber die Einschätzung der eigenen Lage fällt weniger dramatisch aus. Auch die im alten System erprobte Flexibilität und Adaptationsfähigkeit leistet weiterhin ihre Dienste, indem die geringeren Verdienst- und Beschäftigungsmöglichkeiten durch die Erschließung anderer Einnahmequellen kompensiert werden. So gaben nach einem Bericht des New Democracies Barometer 1995” nur jeweils eine Minderheit der regulär Beschäftigen an, der Verdienst reiche für die Deckung der Lebenskosten aus, im Durchschnitt 36%. Die Übrigen waren auf die eigene Nahrungsmittelproduktion, auf einen Nebenerwerb, auf Unterstützung von Verwandten und Freunden oder auf Gelegenheitsarbeiten angewiesen. Zudem bietet sich mit der temporären oder langfristigen Migration in reichere Länder für viele ein attraktiver Ausweg. „Das ändert allerdings nichts an der Tatsache, dass sich die wirtschaftlichsozialen Verhältnisse insgesamt für eine Mehrheit enttäuschend entwickelt haben. Selbst in den Ländern, die makro-ökonomisch eine deutliche Erholung und Stabilisierung erreicht und die Reformen relativ weit vorangetrieben haben, traf dies zu, wenn auch weniger deutlich als in den immer noch von akuten Krisenerscheinungen heimgesuchten Ländern“ (Juchler, 2001).
Migrationsströme reflektieren die internationale und nationale Arbeitsteilung. Durch die Entwicklungen in Osteuropa und die Aufhebung der Ausreise- und Reisebeschränkungen stieg die Mobilität der Einzelnen. In den ersten 18 Monaten nach dem Fall der Mauer verließen mehr als 1,5 Millionen Menschen die osteuropäischen Länder. Zugleich gewann aber Mittel- und Osteuropa selbst Bedeutung als Aufnahmeregion, wobei auch hier sehr unterschiedliche Migrationsmuster zum Tragen kommen. In früheren Auswandererländern gibt es heute neben den Auswanderern auch Einwanderer und Asylbewerber, illegale Arbeitskräfte und Touristen, die als Straßenhändler oder eben als Prostituierte arbeiten. Länder wie Polen, die Tschechische Republik oder Ungarn befürchteten eine Masseninvasion von „Touristen“ aus der ehemaligen Sowjetunion, da ein 1993 in Kraft getretenes Gesetz allen Russen ein uneingeschränktes Ein- und Ausreiserecht erlaubte. Dazu steigt die Zahl der Migranten anderer Herkunft, die sich in diesen drei Ländern aufhalten, da die ursprünglich geplante Weiterreise in den Westen wegen unüberwindbarer Einreiseschranken abgebrochen werden musste. Die wirtschaftliche Neuordnung und die politischen Veränderungen der Sowjetunion haben auch zur Entwicklung von Saisonwanderungs- und Pendlerströmen geführt, was vor allem auf die Aufhebung der Aus- und Einreisebeschränkungen zurückzuführen ist.” Während früher die Ausreise eine unwiderrufliche Entscheidung war, ist heute die Rückreise jederzeit möglich. (396)
4.3.2 Frauen als Verliererinnen nach der Wende
Wie für die Gesamtbevölkerung gab es für die Frauen durch den Transformationsprozess positive wie negative Veränderungen. Für die Mehrheit überwiegen aber insgesamt die Nachteile, und zwar noch ausgeprägter als bei den Männern. Es existieren deutliche Unterschiede nach Regionen und Ländern, wobei auch hier ein West-Ostgefälle vorherrscht. Die Frauen gehören seit der Wende zu den Verliererinnen im postsozialistischen Osten. (397) Die vorhandenen Statistiken sprechen eine deutliche Sprache. Frauen bekommen die negativen Auswirkungen der Aufhebung von sozialer Infrastruktur am unmittelbarsten zu spüren. Dazu gehört die Demontage des Sozialstaats ebenso wie der Rückgriff auf vorsozialistische Gesetze, wie zum Beispiel die Scharia oder kulturelle Muster, die die Gleichstellung der Frauen bedrohen.
Wenn Frauen häufig auf den unteren Stufen des sozialen Gefälles einer Gesellschaft anzutreffen sind, dann liegt das vor allem an ihrer Rolle zur Wahrung der Interessen der nachfolgenden und älteren Generation. Das Wohlbefinden der Frauen gilt in der Unicef-Studie über Osteuropa als sensibler Indikator genereller gesellschaftlicher Entwicklungen. (398) Unicef stellte sich folgende Fragen: Existierte die Gleichstellung der Geschlechter hinter der Rhetorik des Eisernen Vorhangs? Was haben die sich entwickelnden „Markt-Demokratien“ den Frauen gebracht? Wird der aktuelle und potenzielle Beitrag der Frauen für eine sozial „abgefederte“‘ Wende anerkannt und kann er umgesetzt werden?
4.3.2.1 Existierte Gender Equality vor der Wende?
Analysen von Entwicklungsindices zeigen, dass die Länder im Übergang einen relativen Vorteil in Bezug auf Gleichstellung und Gesundheit aufweisen, wenn man sie mit Ländern auf einem ähnlichen Entwicklungsniveau außerhalb dieser Region vergleicht. Dieser Befund kann mit den Errungenschaften der früheren kommunistischen Regierungen erklärt werden, die einen besseren Zugang zu medizinischer Grundversorgung, zu Bildung und zu bezahlter Arbeit für Frauen garantierte. So lässt sich denn Beschäftigungsrate für Frauen wie auch die gender-spezifischen Lohnunterschiede vor der Wende mit den Werten von Schweden bzw. den USA und Frankreich vergleichen. Außerdem verfügten berufstätige Frauen über den Zugang zu gut ausgerüsteten Familien- Unterstützungs- und Kinderhütediensten, Mutterschaftsurlauben, reservierten Arbeitsplätzen nach der Mutterschaft und Tageshorten für Schulkinder — ein Angebot, von dem Schweizer Frauen nur träumen können.
4.3.2.2 Indikatorenliste für Gender Equality
Folgende Indikatoren zur Gleichstellung der Geschlechter entwickelte u.a. Unicef (1999), um internationale Vergleiche machen zu können.
1. Politik
Vor der Wende saßen Frauen auf ca. einem Drittel der Parlamentssitze, ein Anteil, der nur mit den nordischen, westeuropäischen Ländern vergleichbar war. Dieser Anteil sackte nach den ersten demokratischen Wahlen massiv ab. Dies kann so interpretiert werden, dass das kommunistische Regime nicht in der Lage war, die politische Gleichstellung auch soziokulturell zu verankern, aber auch, dass das demokratische politische System die reellen Machtverhältnisse adäquater spiegelt.
2. Wirtschaft
Fünfzehn Jahre nach der Wende zeigt sich, dass Frauen vor allem im öffentlichen Sektor Arbeit finden, während ihre männlichen Kollegen leichter in der Privatwirtschaft Fuß fassen konnten. Dies erklärt sich aus dem höheren Wettbewerbsdruck in der Privatwirtschaft, die sich den globalisierten ökonomischen Herausforderungen anzupassen sucht. Der Staat hingegen, den Wählern und Wählerinnen verpflichtet, erweist sich als sozialer Arbeitgeber und federt dort ab, wo es die Privaten aus Gründen des Wettbewerbdrucks nicht zu tun bereit sind, eine Tendenz, die für die lokale Gesellschaft verheerende soziale Folgen haben kann.
3. Arbeit
Frauen hatten im alten Regime nicht die gleichen Karrierechancen wie Männer. Hier kann man von Occupational Segregation sprechen, denn die Frauen waren unter Parteiführern, Planern und Direktoren von großen staatlichen Betrieben untervertreten, genau die Positionen, die ökonomisch und gesellschaftlich eine Rolle spielten. Nun fallen die Reallöhne unter gleichzeitigem Druck auf die Zahl der Arbeitsplätze. Begleitet wird diese Tendenz durch heftig steigende Lohndifferenzen. Die Regierungen haben gewaltige Einbußen bei den Steuereinnahmen hinnehmen müssen, da sie offenbar nicht in der Lage waren, adäquate Steuererhöhungen durchzusetzen.
Seit 1989 sind in den postsozialistischen Ländern geschätzte 28 Millionen Arbeitsplätze verloren gegangen, wovon über die Hälfte von Frauen besetzt waren. Die Zahl der registrierten Arbeitslosen ist in diesem Zeitraum von fast Null auf über zehn Millionen angewachsen. Beispielsweise betrug 1997 der Frauenanteil an Arbeitslosen sechs Millionen, also wiederum ein deutlich höherer Anteil als die vergleichbare Männerquote. Die Dunkelziffer der Arbeitslosen und Ausgesteuerten dürften unterdessen enorme Ausmaße angenommen haben, wobei aufgrund von Erfahrungen im Westen auch hier der Anteil der Frauen deutlich höher ausfallen dürfte.
4. Familie
Die Frauen bezahlen am Arbeitsplatz einen hohen Preis für die Wende und haben auch im Haushalt das schlechtere Teil erhalten: Obwohl ein Familienhaushalt immer noch auf zwei Einkommen angewiesen ist, finden verheiratete Männer offenbar eher einen Job als verheiratete Frauen. Aufgrund fehlender Kinderbetreuungseinrichtungen sind Frauen teilweise bei ihrer Arbeitssuche behindert, weil sie Kinder versorgen müssen. Dies ist sicher mit ein Grund, dass die Geburtenrate um 10 bis 50% zurückgegangen ist. Ein drastisches Resultat, vielleicht dazu geeignet, kurzfristige Probleme zu lösen, das aber längerfristig wiederum fatale soziale Folgen haben kann, wie die Überalterungsproblematik im Westen zeigt.
Obwohl die Gesetze eine gleiche Machtverteilung in der Ehe vorsahen, belief sich bereits vor der Wende die Doppelbelastung der Frauen auf etwa 70 Stunden pro Woche, verglichen mit 55 Stunden in Westeuropa.
Ein weiteres Hindernis auf dem Weg zur Gleichstellung ist die Gewalt gegen Frauen, vor allem die häusliche Gewalt, die offenbar in diesen Regionen weit verbreitet war und offenbar immer noch ist. Ein Thema, das in Westeuropa leider ebenso aktuell ist, gilt doch beispielsweise die Schweiz häusliche Gewalt als größtes Sicherheitsrisiko.
5. Gesundheit
Die neonatale Sterblichkeitsraten wiesen im alten Regime eine sehr hohe Varianz auf und lagen teilweise weit über den WHO Richtlinien, obwohl für Spezialprogramme in diesem Bereich sehr viel Geld ausgegeben wurde. Auf Gesundheitsrisiken wurde ebenso wenig geachtet wie auf eine gesunde Lebensführung, worauf Zahlen über Alkoholmissbrauch und Fehlernährung schließen lassen. Familienplanung fand kaum statt. Die Fruchtbarkeitsrate unter Teenagern betrug oft ein Mehrfaches der westlichen Länder, und medizinische Abtreibungen waren leichter zu haben als Maßnahmen zur Familienplanung. Fremdplatzierungen von Säuglingen und Kinder in Heime zu geben waren mit weniger Umtrieben verbunden als Elternbeihilfe zu bekommen. Die Erkenntnis hat sich langsam durchgesetzt, dass Männer und Frauen gesundheitlichen Risiken unterschiedlich ausgesetzt sind und anders darauf reagieren. Jedenfalls wird die Gesundheit der Frauen in Osteuropa nach der Wende durch niedriges Einkommen, größere Einkommensdifferenz und reduziertes Gesundheitswesen beeinflusst.
6. Bildung
Trotz allem weisen doch einige Zahlen nach oben, so zum Beispiel im Bereich Bildung, in welchem die Frauen in einzelnen osteuropäischen Ländern sehr gut abschneiden. Als Schlüsselfaktor kann dieser Bereich die Ressourcen von Frauen auf den neuen Märkten günstig entwickeln und unterstützen.
4.3.2.3 Frauen und Migration
In der Ukraine wurden Ende der neunziger Jahre 1100 Frauen i im Alter zwischen 15 und 35 Jahren zu ihrer Migrationsbereitschaft befragt. (399) Für den größten Teil der Frauen, nämlich für 54%, wäre ein „besseres Einkommen“ die stärkste Triebkraft, um ins Ausland zu migrieren, gefolgt von „Arbeit finden“, was 32% der Befragten als Hauptmotivation zur Migration angaben. Die Wahl „Startkapital sparen“ (5%) deutet darauf hin, dass diese Befragten die Opportunitäten des Westens lediglich als kurzfristiges „Sprungbrett“ nutzen möchten, um nach der Rückkehr ins Herkunftsland bessere Chancen im Erwerbsleben zu haben. Beachtliche 10% fühlen sich vom „westlichen Lebensstil“ und der „politischen Freiheit“ angezogen, ein Hinweis auf die sozio-kulturelle Attraktivität und die Wertschätzung demokratischer Errungenschaften westlicher Gesellschaften. Die restlichen Befragten gaben „Familienzusammenführung“ oder andere Gründe an.
„Arbeitslosigkeit“ nahmen 25% der Befragten als größtes Problem im Heimatland wahr, gefolgt von „Korruption“ (16%), „ökonomischer Krise“ (15%), „Armut“ (14%) und „mangelnde Zukunftsperspektiven“ (9%). Von „Kriminalität“ und „Gewalt“ fühlten sich 4% am stärksten bedroht.
Eine Frau ist gefährdet, Opfer von Frauenhandel zu werden, wenn ihre Ausreisebereitschaft groß ist und wenn sie Optionen, die einer Migration entgegenstehen könnten, nicht wahrnimmt, nicht wahrnehmen kann oder diese tief bewertet. Daraus lassen sich die Gründe ableiten, die migrationsbereite Frauen von einer Migration abhalten könnten.
Über die Hälfte der Frauen, die ausreisen möchten, würde eine bezahlte Arbeit in ihrer Heimat davon abhalten, die Ukraine zu verlassen (58% Nennungen, Mehrfachnennungen). Mit 35% Nennungen an zweiter Stelle steht die „Angst“ der Frauen, im Ausland übervorteilt zu werden, gefolgt von „familiären Verpflichtungen“ (33%). Auch fürchten sie, aus Mangel an Informationen im Ausland keine Chancen zu haben (24%). Fehlende Finanzen spielen bei 22% eine Rolle, je 15% werten ihre fehlenden Fremdsprachenkenntnisse, die fehlende Berufsausbildung und unzureichende Reisedokumente als Schranken. Die Nennung „Negative Erfahrungen mit Freunden“, die 7% der Frauen von einer Reise ins Ausland abhält, ist deshalb relevant, da „Freunde und Bekannte“ von 80% der Befragten als wichtigste Informationsquelle über Frauenhandel und sexuelle Ausbeutung im Ausland wahrgenommen werden, weit vor „Lektüre“ und „Diskussionsveranstaltungen“ (48%) oder Informationen von Frauenorganisationen (12%).
Interessant sind in diesem Zusammenhang die Ergebnisse einer Umfrage (repräsentatives Sample von über 15- bis 30-jährigen Polen) über die Bereitschaft zur Schwarzarbeit im Ausland. (400) Entschieden Ja sagten 11%, eher Ja 14%, eher Nein 21%, entschieden Nein 52%. Insgesamt war also rund ein Viertel geneigt, eine Schwarzarbeit anzunehmen. Bei den Frauen waren es allerdings nur gut 16%, bei den Männern ein Drittel. 95% gaben aber an, dass man zu Offerten, die Frauen eine attraktive gut bezahlte Arbeit im Westen anbieten, kein Vertrauen haben könne. 93% hatten auch schon von Frauenhandelsfällen gehört, vor allem aus den Medien. Aufgrund dieser Zahlen kann das Potenzial von Frauen, die in Polen auf die gängigen Anwerbungsmethoden „hereinfallen“ könnten, nicht sehr hoch sein. Bei der eigentlichen Zielgruppe, den jüngeren Frauen zwischen 15 und 30, ist allerdings sowohl die Bereitschaft wie das Vertrauen etwas größer, so dass yon einem Opferpotential im niedrigen Prozentbereich ausgegangen werden kann. (401) Das scheint zwar gering zu sein; in absoluten Zahlen sind das aber an die 100’000 junge Frauen und Mädchen.
In anderen Ländern dürften es wesentlich mehr sein, da der Informationsstand bisher eher dürftig war und erst in letzter Zeit vermehrt Kampagnen angelaufen sind, die meist, yon internationalen Organisationen wie der IOM oder der EU unterstützt werden. (402) In Ungarn ergab eine kürzlich durchgeführte Umfrage, dass 50% der 13- bis 24-jährigen Frauen sagten, sie wollten im Ausland arbeiten; 40% davon meinten aber gleichzeiti itig, sie wüssten nicht, wie sie die damit verbundenen Gefahren vermeiden könnten. (403) In Tschechien ergab eine Untersuchung nach einer breit angelegten Informationskampagne, die in den Medien gestartet und Ende Februar 2000 beendet worden war, dass damit nur 51% der Zielgruppe junger Mädchen und Frauen im Alter von 15 bis 25 Jahren erreicht wurde. Während Ungarn und Tschechien zu den Ländern gehören, in denen der unmittelbare materielle Druck auf junge Frauen weniger stark ist, sieht es in Ländern wie Bulgarien, der Ukraine oder Russland deutlich schlechter aus, obwohl auch dort in letzter Zeit vermehrt auf die Thematik aufmerksam gemacht worden ist.
Die Gefahren werden angesichts des lockenden Angebots und der eigenen Perspektivlosigkeit oft verdrängt. Hier sind die Ergebnisse einer allerdings kleinen Umfragestudie unter ausreisebereiten Russinnen aufschlussreich. Selbst unter denjenigen, die in „Hoch-Risiko-Beschäftigungen“ wie Tanzlokalen, Bars usw. einen Job in Aussicht hatten, waren sich zwar 52% der Möglichkeit sexueller Ausbeutung bewusst, meinten aber, dass sie es schon schaffen würden, dem zu entgehen, während 40% eine solche Möglichkeit überhaupt verneinten. (404) Dabei spielte eine mehr oder weniger bewusste Kalkulation der Risiken mit eine Rolle. An einem Arbeitsplatz in Russland werde man oft zu sexuellen Handlungen genötigt, ohne jedoch viel damit verdienen zu können. (405)
4.3.3 Frauenhandel und Prostitution
Vor der Wende von 1989/90 waren Frauen aus Osteuropa im westlichen Sexgeschäft kaum vertreten und Frauenhandel war kein Thema. Das hat sich in den letzten fünfzehn Jahren gründlich geändert. Heute sind Prostituierte aus Osteuropa, vor allem aus Polen, Tschechien und Bulgarien, sowie aus GUS-Ländern wie Russland und der Ukraine in vielen westlichen Ländern aktiv, Frauenhandel ist zu einem wichtigen gesellschaftlichen Problem geworden. Das hängt nicht nur mit der generellen Globalisierung zusammen, sondern vor allem mit den Veränderungen in Osteuropa selbst, die sich nach der Wende von 1989/90 abgespielt haben.
4.3.3.1 Voraussetzungen für Prostitutionsmigration
Die Veränderungen der wirtschaftlich-sozialen Lage sind besonders typisch und von einiger Relevanz für die Entwicklung der Prostitution und des Frauenhandels. Im realsozialistischen System hatten zwar gerade die Frauen durch die Mangelwirtschaft mit ihrem schlechten Angebot und den Warteschlangen gelitten, was sich nach der Wende massiv verbesserte. Aber die wirtschaftlich-soziale Sicherheit verschlechterte sich für sie besonders deutlich, so dass viele nicht oder nur partiell vom reichhaltigeren Konsumangebot profitieren konnten. Die Frauen waren u.a. von der Arbeitslosigkeit stärker betroffen als die Männer. Ende 1990 waren z.B. in Polen insgesamt 6,5% aller Beschäftigten oder 1,126 Millionen Personen arbeitslos; davon waren etwas mehr als die Hälfte Frauen. Ende 1995 betrug die Zahl 14,9% oder 2,629 Millionen; darunter bereits 55% Frauen. Ende 1998 war die Arbeitslosigkeit auf 10,4% oder 1,826 Millionen zurückgegangen, aber der Anteil der Frauen betrug nun 58,5%. Im März 2000 schließlich hatte sich die Arbeitslosigkeit erneut auf 13,9% bzw. 2,534 Millionen erhöht; darunter 54,4% Frauen. Unter 24-Jährige, die 1998 über 30% aller arbeitslosen Frauen ausmachten, waren besonders stark betroffen. (406) In andern Ländern, insbesondere den GUS-Ländern, ist der Frauenanteil bei der Arbeitslosigkeit noch höher. In Russland z.B. betrug er 1996 durchschnittlich zwei Drittel, in bestimmten Regionen sogar bis zu 85%. (407)
4.3.3.2 Bereitschaft zur Prostitutionsmigration
Berücksichtigt man zudem den in Umfragen festgestellten Wertewandel (Verschiebungen von traditionellen, auf Familie und Sicherheit ausgerichteten Werthaltungen zu Präferenzen in Richtung Karriere und Geldbesitz) sowie eine größere „Liberalisierung“ gegenüber abweichenden Verhaltensweisen ergibt sich, dass die gesellschaftlichen Veränderungen der Transformationsphase die Bereitschaft der Frauen zur Prostitution förderten. Unter den neuen Verhältnissen, wo grundsätzlich alle materiellen Güter über die Ressource Geld zugänglich sind und diese Güter für eine wachsende Zahl hohe Priorität gewinnen, ist gelegentliche oder professionelle Prostitution als relativ lukrative oder leicht zugängliche Einnahmequelle deutlich attraktiver geworden. „Dies gilt umso mehr, als die ‚normalen‘ Wege zur Erlangung materieller Güter durch geringe Löhne, schlechte Karrierechancen sowie direkte Stressfaktoren wie Arbeitslosigkeit und Armut massiv eingeschränkt und die sozialen und psychologischen Hemmschwellen durch einen gesellschaftlichen Wertewandel reduziert sind. Dabei wird etwa im Rahmen der Marktliberalisierung auch die vorherige offiziell vorherrschende Prüderie durch ein breites öffentlich zugängliches Angebot an Sex-Produkten abgelöst. (408)
Entsprechend den unterschiedlichen Ausgangsbedingungen differieren laut Juchler (2001) die sozialen Milieus der der Prostitution nachgehenden Frauen. In Polen reichten sie z.B. von gut gebildeten Studentinnen bzw. Hochschulabsolventinnen bis zu wenig gebildeten, vom Land kommenden Frauen ohne Berufsperspektiven. Dabei existieren, noch mehr als im Westen, unterschiedliche Formen der Prostitution, die meist mit den Herkunftsmerkmalen korrelieren. In exklusiven Call-Girl-Ringen finden sich vor allem gebildete, großstädtische Frauen, in der Hotelprostitution und Massagesalons bzw. Fitnessclubs bis hin zur Straßenprostitution und der gelegentlichen Hausfrauen-Prostitution oder Weekend-Prostitution in Kleinstädten und Dörfern anteilsmäßig mehr Frauen aus tieferen Schichten. (409) Während vor der Wende praktisch nur die Hotelprostitution praktiziert wurde, nahmen danach die Massagesalons stark zu, später auch die Straßenprostitution, die vor allem an bestimmten Autobahnstrecken floriert. Aufgrund länderspezifischer Besonderheiten existieren unterschiedliche Akzentsetzungen: Im kleinen baltischen Estland gibt es zum Beispiel praktisch keine Straßenprostitution, während diese in Lettland und Litauen ausgeprägt ist. Am ausgeprägtesten und sichtbarsten ist sie jedoch in Moskau, wo sie alle anderen Formen dominiert.(410)
Obwohl die Prostitution, allerdings verdeckter, auch zu sozialistischen Zeiten existierte, hat sie nicht nur wegen des größeren und zugänglicheren „Angebots“, sondern auch wegen der gestiegenen „Nachfrage“ seit der Wende zugenommen. Daran sind nicht nur die zahlreicheren Touristen beteiligt, die sich dank des immer noch großen, teilweise sogar horrenden Wechselkursgefälles die luxuriöseren Formen der Prostitution leisten können, sondern auch die einheimischen Männer, die aus finanziellen Gründen mehrheitlich billigere Varianten, insbesondere Straßenprostitution, konsumieren. Zudem werden meist auch die gesetzlichen Bestimmungen liberaler gehandhabt und, noch wichtiger, die Justizorgane und die Polizei sind durch Überforderung und Korruption weniger imstande, die illegalen Erscheinungen wie etwa Kinderprostitution, Schutzgelderpressungen oder den Frauenhandel zu bekämpfen. Recherchen vor Ort bestätigen dies und ergaben übereinstimmend, dass die Behörden wenig Interesse zeigen, die Problematik um Frauenhandel, Prostitution und Prostitutionsmigration wahrzunehmen oder gar zu bekämpfen, da dieser Erwerbszweig die Sozialhilfekassen wesentlich entlastet. (411)
4.3.3.3 Das Ausmaß der Prostitution
Über das Ausmaß der Prostitution in Osteuropa existieren nur grobe und unzuverlässige Schätzungen. Hohe Zahlen werden zum Beispiel für Moskau angegeben. Dort wurde die Zahl der im Sexgewerbe tätigen Frauen Mitte 1999 nach einem starken Anstieg in den letzten Jahren von offiziellen Stellen auf rund 60’000 geschätzt (bei einer Einwohnerzahl von gut 8 Millionen), wobei viele Frauen, die meist aus den umliegenden Regionen stammen, nur für eine bestimmte Zeit der Prostitution nachgehen, um ihre prekäre materielle Situation zu sanieren. (412) Im kleinen Lettland mit seinen 2,5 Millionen Einwohnern wird die enorm angestiegene Zahl der Prostituierten auf 10’000 bis 15’000 geschätzt, in Litauens Hauptstadt Vilnius mit seinen 600’000 Einwohnern auf rund 1000 bis 5000. (413) Das sind relativ hohe Zahlen, wenn man sie mit entsprechenden Angaben aus westeuropäischen Ländern vergleicht, etwa mit der Schweiz, wo die Zahl auf etwa 14’000 Frauen, einschließlich der Prostitutionsmigrantinnen, geschätzt wird. (414) Auch in Polen wurde 1998 allein die Zahl der in der Straßenprostitution tätigen Frauen mit rund 10’000 angegeben. (415) Interessant ist, dass davon rund 40% Ausländerinnen waren, deutlich mehr als noch Anfang der 90er Jahre. Die meisten kamen aus osteuropäischen Ländern, wo die Löhne und die wirtschaftlich-sozialen Bedingungen deutlich schlechter waren, etwa aus den Balkanstaaten Bulgarien und Rumänien oder den GUS-Staaten Ukraine, Weißrussland oder Russland. Diese 14- bis 35-jährigen Frauen verdienten auch deutlich am wenigsten: rund 20 bis 50 Zloty für einen Freier (8 bis 20 Franken), wobei der höhere Tarif für ungeschützten Geschlechtverkehr bezahlt wurde, der von den meisten Polinnen nicht mehr angeboten wurde. In den exklusiven Call-Girl-Ringen bezahlten Freier hingegen bis zu 1’500 Zloty, also immerhin gegen 600 Franken. Auf dem Arbeitsmarkt waren im Jahr 1999 gemäß polnischen Schätzungen 200’000 bis 500’000 „SchwarzarbeiterInnen“ aus dem Osten aktiv. (416) Während Prostituierte aus den besser gestellten Ländern Osteuropas, insbesondere den mittelosteuropäischen Ländern Polen, Ungarn und Tschechien, verstärkt in die lukrativeren Märkte westlicher Länder drängten, arbeiteten Prostituierte aus schlechter gestellten Ländern wie Bulgarien, Ukraine und Russland und selbst aus asiatischen GUS Ländern wie Kazachstan vermehrt in den relativ zugänglichen ostmitteleuropäischen Ländern. Allerdings war auch eine große und schnell wachsende Zahl aus den bevölkerungsreichen GUS-Ländern, vor allem aus Russland und der Ukraine, im Sexgewerbe westlicher Länder tätig.
4.3.3.4 Die Methoden von Frauenhandel: freiwillig – unfreiwillig
Die Frage, inwieweit sich Frauen freiwillig in die Abhängigkeit von Anwerbungs- und Vermittlerorganisationen begeben oder ob sie gewaltsam entführt, verschleppt oder unter falschen Versprechungen gelockt wurden, ist für eine praktikable und anerkannte Definition von Frauenhandel zwecks Bekämpfung und Rechtsprechung zentral. Die Beurteilung der „Freiwilligkeit“ ändert aber womöglich wenig an den Einflussmöglichkeiten auf die von physischem und psychischem Druck und finanziellen Zwangssituationen geprägten Erwerbsbedingungen, denen sich Frauen im internationalen Prostitutionsmarkt ausgesetzt sehen. Dazu die Aussage einer Prostitutionsmigrantin während eines Interviews: „Bald werde ich zum vierten Mal nach Deutschland reisen. Eine Freundin kommt mit, eine andere hat sich noch nicht entschieden. Ich habe sie ehrlich informiert, dass sie nicht im Service arbeiten, sondern dass sie Männern zu Diensten sein müssen. Ich helfe ihnen mit den Reisedokumenten, und sie bezahlen mir später je 500 DM.“ (417)
Bei der Analyse von Gerichtsentscheiden und Polizeiprotokollen und bei Interviews mit betroffenen Frauen, NRO, Opferhilfestellen, Migrationsämtern und Polizeistellen waren keine Fälle von gewaltsam in die Prostitution verschleppten Frauen bekannt. NRO und internationale Hilfswerke in Herkunfts- und Transitländern der internationalen Prostitution gehen jedoch von geschätzten 10 bis 15% Frauen und Mädchen aus, die unter Anwendung von Gewalt ihrer Freiheit beraubt und der internationalen Prostitution zugeführt werden. (418)
Dass sich risikofreudiges Verhalten oft zum Schaden der Frauen umkehrt, ist zu vermuten. Unterstützt durch häusliche Gewalt gegen Frauen und verstärkt durch ethnische Konflikte, in denen Gewalt gegen Frauen als Waffe im Krieg (419) eingesetzt wird, scheint sich die Kultur der Instrumentalisierung von Frauen bis in die westeuropäischen Städte auszubreiten, wohin Frauen zwecks Einkommenserwerb auf dem Sexmarkt unter verschiedensten Bedingungen gebracht werden.
Einige Opfer von Frauenhandel kehrten laut IOM-Bericht (1999, S.96) in die Ukraine zurück, nachdem es ihnen gelungen war, aus den Sexclubs und Bordellen zu flüchten. Aber viele junge Frauen in vergleichbaren Situationen sind verzweifelt über die Situation zuhause: „Es war schrecklich dort, und ich versuchte nach Hause zu kommen. Aber was muss ich hier sehen? Dort war es wenigstens schön und sauber“.
Solche Statements haben großen Einfluss auf die Entscheidung von Frauen und Mädchen, sich Frauenhandel auszusetzen oder nicht, denn die meisten potenziellen Prostitutionsmigrantinnen verlassen sich auf den Rat und die Informationen ihrer Freundinnen und Bekannten.
Vor allem in den ärmeren Ländern mit erschwertem Zugang zu westlichen Ländern (insbesondere wegen des Visumszwangs) sind Formen des Frauenhandels häufig. Denn selbständige Migration ist kaum möglich, und meist fehlt auch das Geld für die Reisekosten und die Beschaffung der erforderlichen Reisedokumente. Bulgarien, das wirtschaftlich-sozial stark zurückgefallen ist, liefert ein illustratives Beispiel für die südosteuropäische Region. Nach einer Recherche einer bulgarischen Zeitschrift waren von 345 Agenturen, die „Jobs“ im Westen anboten, nur 45 legal zugelassen; selbst von diesen war keine einzige im Bereich Tourismus oder Showbusiness spezialisiert. Die Zahl der vom Frauenhandel betroffenen Opfer wird von einer einheimischen, bulgarischen Hilfsorganisation auf 10°000 geschätzt, wobei die untere Altersgrenze der Frauen bis 14 Jahre reichte. Oft sind es „naive“ Mädchen vom Lande, zum Teil aber auch gebildete Frauen mit Sprachkenntnissen, die sich einen Ausweg aus ihrer prekären materiellen Situation erhoffen oder einfach gut bezahlte Jobs im Westen erlangen wollen. Auch der eigentliche „Verkauf“ durch die Familie ist bekannt, vor allem bei mittellosen Romas. (420) Besonders betroffen vom Frauenhandel sind die europäischen GUS-Länder. Ein typisches Land ist die Ukraine, wo die wirtschaftliche Lage selbst für GUS-Verhältnisse besonders prekär ist. Hier wurde die Zahl der im ausländischen Sexgewerbe tätigen Frauen von offiziellen Stellen auf über 100’000 geschätzt, davon taten dies rund 85% gegen ihren Willen. (421) Diese geschätzte Zahl scheint allerdings stark übertrieben, wird doch beispielsweise in Albanien, einem Transit- und Exportland von Prostitutionsmigrantinnen, mit etwa 10 bis 15% gewaltsam in die Prostitution verschleppten Frauen gerechnet.
Obwohl einige westliche Studien zum Schluss kommen, dass die Zahl der direkt oder indirekt ins Sexgewerbe gezwungenen Frauen aus den GUS-Staaten hoch ist, (422) lässt sich dies aufgrund der vorliegenden Schweizer Daten nicht bestätigen. Es fehlen zudem komparative, länderübergreifende Studien. Auch ist weder der Begriff Frauenhandel noch die Rechtslage in den einzelnen Ländern harmonisiert, und die Rechtspraxis und Rechtsprechung ist nicht ohne weiteres vergleichbar.
4.3.3.5 Bekämpfung von Prostitution und Frauenhandel in osteuropäischen Ländern
Im besser gestellten und westerfahreneren Polen schätzte die Polizei die Zahl der Fälle von gewaltsamem Frauenhandel für das Jahr 1997 auf nur rund 200, wobei etwa 60% der Frauen schon in Polen Prostituierte gewesen sein sollen (Juchler, 2001). (423) Für den Zeitraum 1995-1998 wurden nach Angaben der Justizministerin 131 Fälle abschließend untersucht, wobei 709 Frauen betroffen waren, nicht nur Polinnen, sondern auch Frauen aus anderen osteuropäischen Nationen. In Polen mit 40 Millionen Einwohnern sind, auf die Bevölkerungszahl bezogen, deutlich weniger Frauen betroffen als beispielsweise in Bulgarien mit 8 Millionen Einwohnern oder in der Ukraine mit 51 Millionen. Zudem scheint der Trend wieder abzunehmen. 1994 wurden in Polen von der Polizei immerhin 52 Fälle von Frauenhandel aufgedeckt, 1995 noch 36 und 1997 27 Fälle, 1998 nur 18 und 1999 sogar nur fünf (Juchler, 2001).
Juchler schätzt diese Zahlen als zu tief ein, da es bei osteuropäischen Polizeistellen allgemein üblich sei, Probleme um Frauenhandel und Prostitution zu bagatellisieren. (424) Die Auffassung, dass in osteuropäischen Staaten kein großes Interesse besteht, gesellschaftliche Probleme wie Armut, Arbeitslosigkeit, häusliche Gewalt etc., unter denen besonders Frauen zu leiden haben, und die sich für einen Teil der Frauen und Mädchen in Form von Prostitution, gewaltsamem Frauenhandel, Migrationsprostitution, „Zwangsprostitution ausdrücken, ernst zu nehmen, bestätigen Recherchen vor Ort. (425)
4.3.4 Ein Länderbeispiel: Die CR nach der Wende
4.3.4.1 Prostitution in der CR
Anhand eines Situationsberichts eines osteuropäischen Landes, werden hier die Bedingungen der Internationalisierung der Prostitution beleuchtet. (426)
Prostitution findet man in erster Linie in den grenznahen Gebieten zu Deutschland und Österreich und in den durch Tourismus geprägten Großstädten wie Prag und Brünn. Ein dritter möglicher Standort sind Raststätten und Tankstellen entlang des nationalen und internationalen Straßennetzes. Es wird geschätzt, dass zwischen 80 bis 90% der Freier der in der CR tätigen Prostituierten Ausländer sind.
In Prag stehen die Prostituierten, von denen ein sehr großer Teil Ausländerinnen sind, in einigen wenigen Zonen des Stadtzentrums. Hier zeigen sich Ansätze der Prostitutionssubstitution: jüngere Tschechinnen werden in den Westen exportiert, während bei der Straßenprostitution in Prag immer mehr Frauen aus Bulgarien und der Ukraine sowie Roma zum Einsatz gelangen. (427)
Man kann unterscheiden zwischen Frauen und Mädchen, die sich freiwillig prostituieren, um ihre soziale Situation zu verbessern (Studentinnen, Hausfrauen, allein erziehende Mütter) und anderen, die zur Prostitution durch psychische oder physische Gewalt gezwungen werden. Soweit es sich um den ersten Typ handelt, suchen sich die Frauen bei Bedarf ihren Zuhälter aus und vereinbaren mit ihm die Konditionen ihres Schutzes. In die zweite Gruppe gehören Frauen, die unter falschen Versprechungen angeworben wurden (Anstellung als Serviertochter, Hostess, Gesellschafterin in Clubs, Tänzerin oder Model), sowie Frauen und Mädchen, die gewaltsam entführt und an den Zielort verfrachtet wurden. Die meisten Frauen, die bewusst in die Prostitution einsteigen, haben die Vorstellung eines temporären Zusatzverdienstes.
Die osteuropäischen Länder unterscheiden sich bezüglich Alternativen zur Prostitution. So gibt es Länder mit zahlreicheren Optionen für Frauen, wie die Tschechische Republik, Polen und Ungarn, und Länder mit weniger Möglichkeiten, wie etwa Russland, Ukraine, Bulgarien und Rumänien. Die Prostitution in der CR und der Frauenexport aus der CR ist folglich weniger durch ökonomische Probleme verursacht und erzwungen als zum Beispiel in Russland, in der Ukraine und Bulgarien. So sind viele der inländischen Prostituierten in der CR bzw. in Prag Ausländerinnen, während in Russland fast ausschließlich einheimische Prostituierte tätig sind. (428)
Die meisten Probleme finden sich in der Gruppe mit dem niedrigsten Status, die Strassenprostituierten, die in den Städten, grenznahen Gebieten und in den Bars und Restaurants in der untersten Preisklasse tätig sind. Sie sind meist sehr jung, ungebildet und verfügen über wenige Selbstschutzmechanismen, weshalb sie häufiger als andere zum anonymen, schnellen und risikoreichen Sex bereit sind. Sie laufen am stärksten Gefahr, sich mit sexuell übertragbaren Krankheiten anzustecken oder zu Opfern von Kupplern, Frauenhändlern und gewalttätigen Klienten zu werden. Die Straßenprostitution wird denn auch fast immer von Kupplern organisiert und kontrolliert.
Die Gesamtzahl der Personen, die in der CR von der Prostitution leben, wird bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 10 Millionen Einwohner auf 15’000 bis 20°000 Menschen geschätzt; das heißt, dass jeder Tausendste der Gesamtbevölkerung und Jeder Fünfhundertste der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter von der Prostitution lebt. (429)
4.3.4.2 Frauenhandel in der CR
Frauenhandel gehört nach Einschätzung von lokalen Experten zu den weicheren bzw. weniger stark strukturierten Formen des organisierten Verbrechens. Aus der Analyse von Gerichtsakten und Polizeischriften kann man ableiten, dass es um planmäßige, organisierte und koordinierte Straftätigkeit geht. Im Jahre 1994 wurden insgesamt 220 Frauenhandelsfälle in der CR registriert, davon die meisten in den Provinzen an der Deutsch-Tschechischen Grenze. Die Täter sind vorwiegend männlichen Geschlechts, doch gibt es auch ehemalige Opfer, die sich später als Vermittlerinnen oder Kupplerinnen betätigen. Von den insgesamt 371 Straftätern waren 286 Männer und 85 Frauen, mehrheitlich zwischen 19 bis 33 Jahre alt. Bei den 314 Opfern handelte es sich um 292 Frauen und 22 Kinder. (430) „Prostitution and traffic in women increased rapidly in the Czech Republic and Slovakia since the political, economic and social changes at the end of the 1980s. Especially at the Czech-German border, between Bohemia and Bavaria, a growth of prostitution of more than 200% is being observed“ (Butterweck: 39).
Im Zusammenhang mit Frauenhandel und Prostitution treten eine ganze Reihe von Sittlichkeitsdelikten, Gewalt- und Eigentumsdelikten, Drogenkonsum sowie verschiedene Formen der organisierten Kriminalität auf. Diese Art von Folgekriminalität konzentriert sich in gewissen Regionen, wie etwa im Bezirk Cheb (Eger), wo 87% aller Straftaten im Zusammenhang mit der Prostitution stehen.
Verzweigte und gut eingespielte Organisationen, die über große Mengen an Falschdokumenten verfügen, handeln und exportieren die jungen Frauen und Mädchen aus osteuropäischen Ländern. Es wird zunehmend schwieriger, zwischen Herkunfts-, Transit- und Zielländern des Frauenhandels zu unterscheiden. Weit verbreitet ist auch das Rotationsprinzip, wobei die Frauen nach gewisser Zeit den Ort und das Land ihres Wirkens wechseln.
Die Herkunft der Opfer des Frauenhandels konzentriert sich auf Großstädte, aber auch auf ehemalige Schwerindustriegebiete, die heute wegen der wirtschaftlichen Transformation stark unter der Arbeitslosigkeit leiden, wie etwa Ostrava, Pilsen und Nordböhmen. In diesen Regionen ist oft der familiäre und gemeinschaftliche Hintergrund gestört, was die Migrationsbereitschaft erhöht. Zudem werden Frauenhandelsopfer in verschiedenen Heimen und sozialen Institutionen rekrutiert, in denen viele Mädchen ohne Familienangehörige leben.
So gibt es denn zwei unterschiedliche Typen des Frauenhandels aus Tschechien: die Anwerbung, der Transfer und die Vermittlung von gut ausgebildeten, jungen Frauen aus den Städten, die häufig über ihre künftige Arbeit gut informiert sind und das Geschäft mit marginalisierten, und eher schlecht ausgebildeten Frauen aus den ehemaligen Industrieregionen.
Tschechische Frauen migrieren nach Westeuropa, aber auch in die Türkei, nach Israel, in die USA und in verschiedene reiche arabische Länder. Es bestehen Gründe für die Annahme, dass die nach Westeuropa migrierenden Frauen in der Regel über bessere Bildung und Sprachkenntnisse verfügen. (431)
Im Inland kostet die Vermittlung einer Prostituierten zwischen 300 und 800 Euro, im Falle eines Transfers ins Ausland um 1’500 Euro. Der Preis für eine Prostituierte richtet sich nicht nur nach ihrem Aussehen, sondern auch nach Fähigkeit, Willigkeit und Bereitschaft „Geld zu machen“.
4.3.4.3 Charakteristischer Verlauf von Frauenhandel
Die Vermittlung der Kontakte im Ausland beginnt mit der Belohnung des Vermittlers und dem Festlegen des Ausreisetermins. Diese Tätigkeit üben vorwiegend Männer aus Ex-Jugoslawien, Deutschland, Italien, Griechenland, der Ukraine, Polen und Russland aus. Vermehrt werden auch Fälle registriert, in denen tschechische Kuppler für tschechische Frauen Arbeit im Ausland suchen. Zieldestinationen sind in solchen Fällen vor allem Deutschland, Italien, Frankreich und Österreich, in letzter Zeit auch Holland.
Die Suche nach geeigneten Frauen ist professionell. Nach einer Phase der aktuellen Marktanalyse wenden die Anwerber vor allem Täuschungspraktiken an, wie etwa Inserate, in welchen Vermittler und Agenturen gut bezahlte attraktive Jobs im Ausland versprechen. Die jungen Frauen bekommen manchmal Vorschüsse bzw. rückzahlbare Darlehen und müssen Verträge unterschreiben, die nach tschechischem Recht gültig sind. Es gibt aber auch zahlreiche Fälle, in welchen Frauen entführt und ohne vorherige Absprachen durch unbekannte Personen ins Ausland verschleppt werden. Bekannt ist ebenfalls, dass Frauen ohne ihre Einwilligung von ihren tschechischen Zuhältern gegen Honorar vermittelt und gewaltsam an ihre Destination gebracht werden. Für die gehobene Prostitution werden Frauen mit guter Bildung angeworben.
Für den Transport an den Bestimmungsort liegt grundsätzlich Evidenz für zwei Varianten vor: den legalen Transfer, der mit der Einwilligung der Betroffenen und unter Kenntnis ihrer künftigen Arbeit mit echten und gültigen Reisedokumenten organisiert wird und den illegalen Transport, der mit Hilfe von Gewalt und gegen den Willen der Frauen mit falschen Dokumenten oder versteckt in einem Fahrzeug über die grüne Grenze führt. Zum Ausmaß der jeweiligen Methode liegen keine Angaben vor.
Die Vorbereitung auf die Ausübung der Prostitution findet in der Regel außerhalb der CR statt. Den Frauen werden die Reisedokumente weggenommen und die freie Bewegung untersagt. Nachteilig wirkt sich dabei die Unkenntnis fremder Sprachen und Milieus aus. Die Frauen, die einen Vorschuss erhalten haben, wissen, dass sie diesen Vorschuss abzuarbeiten haben. Zu Beginn werden die Frauen falls nötig auch durch Gewalt, Drogen und Drohungen zur Prostitution gezwungen.
Zu den traditionellen Aufgaben des Kupplers gehören die Verhandlungen über die Art der angebotenen Dienste und Preise, Geldinkasso etc. Der Kuppler überwacht auch, dass die Frauen arbeiten und beschützt sie vor gewalttätigen und abartigen Klienten.
Nach ein bis zwei Monaten gilt eine Frau als „abgeguckt“ und wird an einen anderen Ort vermittelt. Der Preis wird nicht nur durch Aussehen und Alter, sondern auch dadurch bestimmt, ob die Frau im Besitz von gültigen Dokumenten ist oder nicht. Im Falle einer schlechten Leistung können Frauen auch früher bzw. schneller als nach zwei Monaten weitervermittelt werden. Die Frauen werden oft ins Ausland vermittelt, wo es ihnen manchmal gelingt, sich abzusetzen. Dort stellen sie sich in seltenen Fällen der Polizei. Öfter werden sie von dieser aufgegriffen und festgehalten.
In der tschechischen Republik kreuzen sich seit alters her bedeutende Handelswege zwischen Ost und West. Man schätzt, dass seit dem Fall des eisernen Vorhangs mehrere zehntausend Frauen auf dem Weg in die Prostitution diese Routen benutzt haben und über Grenzen geschleust worden sind. Es handelt sich dabei in erster Linie um Russinnen, Frauen aus der Ukraine und Polinnen, aber auch um Chinesinnen, Vietnamesinnen, Filipinas und andere Asiatinnen. Der Frauenhandel, dem die CR als Transitland dient, wächst noch immer. Die Asiatinnen kommen in der Regel über Moskau als Studentinnen oder Touristinnen. Für die Frauen aus Osteuropa ist es kein Problem, in die CR zu gelangen. Von da aus werden sie dann von Gangs in die BRD, Holland, Österreich, Italien und weitere Staaten, wie USA, Kanada und Länder im Nahen und Fernen Osten transferiert. Begehrt sind reiche Länder, die eine große und wenig reglementierte Sexindustrie haben wie Deutschland, Österreich, die Schweiz und Italien. (432)
Nach Expertenschätzung beteiligen sich am Frauenhandel aus der CR zu ca. 15 bis 30% Personen ohne vorherige Kriminalkarriere. Die Täter sind zu 25% Tschechen, 5% Slowaken, 48% Romas, 13% Deutsche. 9% sind Ex-Jugoslawen, Russen, Ukrainer, Italiener und Griechen.(433)
4.3.4.4 Die Bekämpfung von Frauenhandel in der CR
Seit 1991 verzeichnet die CR einen starken Anstieg von Fällen der Kuppelei. (434) In den Jahren 1995 bis 1997 betrafen fast 60% der registrierten Kuppeleifälle Personen, die zur Tatzeit unter 18 Jahre alt waren.
Eine der wichtigsten NRO, die sich mit Prostitution und Frauenhandel befasst, ist La Strada mit Filialen in mehreren ost- und zentraleuropäischen Städten. La Strada Prag befasst sich einerseits mit der Beratung betroffener Frauen und ist andererseits auch in der Prävention tätig. Zusammen mit dem IOM starteten sie die Informationskampagne „Frauenhandel“.
Die Frauen, die zu den tschechischen Beratungszentren kommen, wurden eher von kleineren familiären und verwandtschaftlichen Netzwerken angeworben und ausgebeutet. Prostituierte, die von großen internationalen Netzwerken kontrolliert werden, sind untervertreten. Möglich ist, dass sich diese aus Angst vor Repressionen seltener melden, wie NRO vermuten. Diese Fakten lassen aber auch den Schluss zu, dass Vorstellungen über international, arbeitsteilig und professionell agierende kriminelle Organisationen revisionsbedüftig sind.
Tabelle: Strafrechtlich verfolgte Fälle von Kuppelei in der CR von 1989-1998
Jahr, registrierte Fälle, geklärte Fälle
1989 56 53
1990 9 9
1991 42 40
1992 6 63
1993 113 109
1994 203 192
1995 238 226
1996 157 156
1997 120 115
1998 333 348
Quelle: Innenministerium der CR, Prag, Stand 2000.
Das Desinteresse des Staates an der Unterdrückung der Frauenprostitution und des Frauenhandels wird von verschiedenen Seiten konstatiert. Dies kann zumindest teilweise mit den ökonomischen Interessen staatlicher Einrichtungen erklärt werden: Angesichts der großen Anzahl Arbeitsloser, die auf staatliche Unterstützung angewiesen sind, ist man mit der Aussicht auf Einsparungen an Sozialhilfegeldern offenbar geneigt, Personen möglichst in Erwerbszusammenhängen zu belassen, wenn sie auch nur ein kurzfristiges existenzsicherndes Einkommen versprechen.
Dass auf der anderen Seite staatliche Einnahmen in Form von Steuergeldern verloren gehen, ist ebenfalls bekannt. Denn die beträchtlichen Beträge unversteuerter Gelder, die Prostitution und Frauenhandel akkumulieren, werden als ökonomisch bedeutsam eingeschätzt. Laut Interviewpartner besteht Anlass zur Vermutung, dass diese Finanzmittel in der „Schattenökonomie“ verbleiben und als Grundkapital für weitere Aktivitäten im illegalen Bereich verwendet werden.
4.3.4.5 Die tschechische Gesetzgebung in Bezug auf die Prostitution
Nach der Wende von 1989 dominiert eine völlig neue Grundauffassung von Recht: Jedermann darf machen, was durch das Gesetz nicht verboten ist, und niemand darf gezwungen werden, etwas zu machen, was das Gesetz nicht verlangt. Prostitution ist in der CR nicht strafbar, Kuppelei (Art. 204) hingegen schon, wie in den meisten CEC-Ländern. Es gibt auch zahlreiche andere Paragraphen, die auf Prostitution und Frauenhandel angewendet werden können, wie Art. 246 Frauenhandel, Art. 216a Handel mit Kindern, Art. 171a unerlaubter Grenzübertritt und Art. 232 StGB, Freiheitsberaubung.
Die tschechische Gesetzgebung befasst sich jedoch mit der Prostitution auf der Grundlage von abolitionistischen Grundsätzen, indem sie die negativen Folgen der Prostitution einzugrenzen versucht. Sie bietet bislang wenig Spielraum für die notwendige Reglementierung und Kontrolle der Prostitution. Es bräuchte neue Gesetze als Instrument gegen die schlimmsten Auswüchse, denn das enorme Wachstum der Prostitution in den letzten zehn Jahren stellt für verschiedene Bereiche der tschechischen Gesellschaft eine große Herausforderung dar.
Der illegale und tabuisierte Charakter der Prostitution bietet ideale Bedingungen für den aggressiven Frauenmissbrauch und die Straflosigkeit jener, die vom Frauenhandel profitieren. Die Gesetzgebung und Rechtsprechung bietet den Opfern wenige Möglichkeiten zu rechtlichen Schritten gegen ihre Ausbeuter und Nutznießer, weil gerade Prostitutionsmigrantinnen sowohl von der Gesetzgebung als auch von weiteren gesellschaftlichen Zusammenhängen ausgegrenzt sind. Frauen, die in diesem Bereich erwerbstätig sind, riskieren ihre Verhaftung als Prostituierte und ihre Ausschaffung als illegale Migrantinnen. Durch diese Maßnahmen gegen Zeuginnen in allfälligen Gerichtsverfahren wird nicht nur die Bestrafung von tatverdächtigen Personen verunmöglicht, sondern auch Signale von staatlicher Toleranz gegenüber allfälligen Straftaten transportiert bzw. das staatliche Wegschauen perpetuiert.
Auch wenn das Gesetz den Frauen ermöglicht, eine Strafanzeige zu erstatten, haben die meisten von ihnen Angst vor Verfolgung und Repressionen. Die Erfahrung der Korruption lehrt, keinen Schutz von Polizisten, Richtern und Behördenvertretern zu erwarten, da sie mit den Nutznießern oft gemeinsame Sache machen. Das Vertrauen in die Polizei und die Rechtsprechung ist klein, da die Frauen befürchten, dass die Strafverfolgungsbehörden die Rechte der Prostituierten missachten.
4.3.4.6 Organisierte Kriminalität in der CR
Die im Rahmen dieser Forschungsarbeit konsultierten Experten und Akteure sind sich darin einig, dass Gruppierungen organisierter Kriminalität in der CR und deren Aktivitäten zunehmen und sich die verschiedenen Banden an der Prostitution und am Frauenhandel stark beteiligen. Für die Tätigkeit von Gruppen der organisierten Kriminalität haben sich Ende der 80er und Anfang der 90er Jahre günstige spezifische Bedingungen ausgebildet. Die nationalen Grenzen wurden geöffnet, es begann eine umfassende ökonomische und politische Reform mit großen Verschiebungen der Macht- und Eigentumsverhältnisse.
Die Gesetzgebung, die nur mit Verzug und ungenügend auf die vielen Änderungen zu reagieren vermag, ist nicht in der Lage, die Rechtssicherheit in allen Bereichen zu garantieren. Auch der gerichtliche, polizeiliche und administrative Apparat ist schnellem Wandel unterworfen, was einschneidende Konsequenzen für die Strafverfolgung, die Rechtsprechung und die politisch administrativen Prozesse nach sich zieht.
International organisierte Kriminalität stellt für die Tschechische Republik eine große und ernsthafte Gefahr dar, denn es wirken heute zahlreiche Organisationen ausländischer Herkunft auf tschechischem Territorium, aber auch einheimische kriminelle Gruppen sind aktiv. Zwischen diesen Gruppen kommt es zum Wettstreit um Macht sowie zur Teilung der Einflusssphären und zur arbeitsteiligen Zusammenarbeit. Das organisierte Verbrechen muss als Konsequenz günstiger Rahmenbedingungen gesehen werden, wie etwa der geographischen Lage und dem visumfreien Verkehr mit vielen Ländern, dem schnellen Umbau der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verhältnisse, legislativer Unklarheiten und Mängel der juristischen und polizeilichen Autorität. Es können zwei Formen der organisierten Kriminalität unterschieden werden: 1) Organisationen, die auf der Tradition der familiären Clans und des autoritären Führungsanspruchs beruhen und 2) zweckgebundene kriminelle Vereinigungen mit freiem Charakter. Die Organisationen ausländischer Herkunft sind Gruppen aus der ehemaligen UdSSR, (435) aus Italien, Ex-Jugoslawien, Albanien, der Türkei sowie aus China, Vietnam und arabischen Ländern. Alle kriminellen Vereinigungen sind in einer konkreten regionalen oder ethnischen Kultur entstanden und behalten trotz Zusammenarbeit auch später ein ethnisches Grundgerüst. Das Kriterium dieses ethnischen Ursprungs stellt das Hauptkriterium zur Unterscheidung der verschiedenen kriminellen Gruppierungen dar. Insgesamt richtet sich das organisierte Verbrechen in der CR auf höhere Organisationsformen aus und ist mit den wirtschaftlichen und politischen Strukturen des Staates verknüpft. In diesem Zusammenhang ist auch vom Versuch des Durchdringens der „normalen“ Gesellschaft die Rede.
4.3.5 Zusammenfassung: Migrationssituation in Osteuropa
Die sozialen Umwälzungen nach der Wende weisen besonders Frauen als Verliererinnen des politisch-ökonomischen Regimewechsels aus. Der Zugang zu den knappen bezahlten Arbeitsstellen ist für Frauen aufgrund der Doppelbelastung eingeschränkt, Familienverbände sind aber auf den Verdienst von Frauen angewiesen. Die Aussicht auf bezahlte Arbeit im In- oder Ausland beeinflusst den Migrationsentscheid von Frauen wesentlich.
Nach der politischen Wende entsteht eine neue Positionierung osteuropäischer Länder, wobei nebst wirtschaftlicher Stärke u.a. auch die historische und kulturelle Nähe zu Westeuropa eine Rolle spielt. Mit den neuen Möglichkeiten zu Binnenwanderungen im osteuropäischen Raum wird versucht, ökonomische Gefälle durch Migration auszugleichen.
Mangelnde Mittel und Einrichtungen in osteuropäischen Ländern erschweren es, organisierte Kriminalität, Transitprostitution und Frauenhandel zu bekämpfen. Das Methodenarsenal der auf Frauenhandel spezialisierten Strukturen und Netzwerke wie physische Gewalt, psychischer Druck und Strategien zwecks finanzieller Abhängigkeit der Migrantinnen schafft die Voraussetzung für die Abwicklung von Geschäften mit der internationalen Prostitution.
Die liberalere Handhabung der Gesetze in osteuropäischen Ländern, die teilweise große Korruptionsbereitschaft der zuständigen Strafverfolgungsbehörden, aber auch die fehlende Kenntnisnahme der Problematik und die Aussicht auf Entlastung der Sozialhilfekassen fördern die internationale Prostitution und schränken die Effizienz der internationalen Kooperation der Strafverfolgungsbehörden ein.
Mit direkter Anwerbung, Zeitungsinseraten, aktiven Agenturen und Informationen von Freundinnen und Bekannten werden Gelegenheiten und konkrete Angebote zur Ausreise präsentiert, die den Auswanderungsentscheid von migrationsbereiten Frauen beeinflussen.
Die Attraktivität des Westens zeigt sich an den Wohlstandsgrenzen, die sich von Westen nach Osten schieben. Die geographische und kulturelle Nähe zu Westeuropa mag die Nachfrage nach osteuropäischen Frauen beeinflussen. Von entscheidender Bedeutung ist aber eher ihre Bereitschaft, schlechte Bedingungen und ein niedriges Einkommen zu akzeptieren. Weil die Einkommenschancen im Westen immer noch ungleich besser sind als im Osten, lassen sich osteuropäische Frauen zwingen, sich unter Umständen zu prostituieren, die für westliche Prostituierte unakzeptabel sind. Es ist also vor allem die leichtere Ausbeutbarkeit von Frauen in wirtschaftlicher Not, die die Nutznießer von Prostitutionsmigration veranlassen, Osteuropäerinnen für den Schweizer Sexmarkt anzuwerben. Die Nachfrage nach ausbeutbaren Prostituierten und das Wohlstandsgefälle von West nach Ost beeinflussen wiederum die Migrationsmotivationen, -ziele, und -chancen von migrationsbereiten Frauen.
4.4. Aussagen von Prostitutionsmigrantinnen in der Schweiz
4.4.1 Die Aussteigerin: Eine ehemalige Tänzerin berichtet
Yulia, die ehemalige Tänzerin und illegale Prostituierte aus der Ukraine, ist 32 Jahre alt und lebt heute geschieden von ihrem Schweizer Ehemann mit ihrem 5-jährigen Sohn in einer größeren Ortschaft in der Schweiz. Neben ihrer Arbeit in einer Fabrik ist sie als Mediatorin für das Barfüßerprojekt der Aids-Hilfe Schweiz tätig. Über diesen Kontakt war sie bereit zu einem Gespräch. (436)
1. Motivation zur Einreise
Ich habe schon vorher als Tänzerin gearbeitet. Vor acht Jahren. Das war die erste Etappe. In Griechenland und Bulgarien. Dann kam das Angebot Schweiz. Man hat uns viel Geld versprochen. Das war gut. Ich wollte einfach eine Chance.
2. Kontakt
Ich habe das Angebot über eine Agentur in St. Petersburg bekommen. Die Agenturen suchen Mannequins, Models, aber auch Zimmermädchen und bieten „luxuriösen Job“ in Dänemark, Österreich oder der Schweiz an. Also, jemand hat die Telefonnummer einer Agentur. Die brauchen ein Foto im Badeanzug von dir. Dann machen die einen 3-monatigen Vertrag und aufgrund dieses Vertrages bekommen die ein Visum von der Botschaft. Die seriöse Agentur geht selber nach Moskau. Die Frau sitzt zuhause und wartet. Wenn der Entscheid kommt, arbeitet man zuerst einen Monat im Cabaret. Man bekommt ja die L-Bewilligung (8 Monate Aufenthalt). Die Schweizer Agenturen verlangen dafür 1300 Franken. Dann wird ein Gesuch an die Fremdenpolizei gemacht und man wechselt den Kanton und geht woanders hin. Das erste Jahr geht das so, das nächste Jahr machen die Frauen das selbst. Die Agentur streckt Geld vor (für Reisekosten, Kleider etc.), das man zurückzahlen muss.
So bin ich in die Schweiz gekommen. Aber viele Frauen kommen auch ohne Visum rein, als Touristinnen. Vor allem in Deutschland. Aber auch in die Schweiz. Heute gibt es eine neue Tendenz: Frauen, die früher selber dieses Business gemacht haben, gehen in ihre Heimatorte und treffen andere Frauen in Kantinen, Cafes oder Wohnheimen. Sie locken sie mit guten Angeboten. Dann müssen die Frauen also 1000 Franken für eine Telefonnummer bezahlen (Stellenvermittlung als Prostituierte in Westeuropa). Man muss sich verpflichten, auch das Reisegeld und Vermittlungsgebühren zu bezahlen. Andere kommen direkt als Ehefrau in die Schweiz. Das ist früher auch über Agenturen gelaufen.
3. Information
Es war aber nicht so einfach, in die Schweiz zu kommen. Man hat uns erzählt, dass wir tanzen. Einige Frauen haben dann eine Tanzausbildung gemacht. Man hatte Angst, dass man zur Prostitution gezwungen würde. Man musste eine gute Statur haben und hübsch aussehen. Ich hatte ja einen Vertrag als Tänzerin. Aber ich wusste schon, dass ich noch andere Sachen machen muss, sonst hätte ich das Geld ja nie zurückzahlen können (Vorschuss für Reisekosten und Vermittlungsgebühren). Einige Frauen sind aber naiv und bilden sich ein, sie hätten einen Traumjob gefunden.
4. Tätigkeit vor der Einreise
In der Ukraine arbeitete ich in einer Fabrik. Habe keine Wohnung gehabt. War schon über 20, also schon alt. Musste einfach nehmen, was kommt. Mama hat gesagt, du springst wie ein Schmetterling und denkst nicht an die Zukunft. Das war der Grund, warum ich weggegangen bin. Ich wollte nicht im Wohnheim bleiben bis 40. Und dann langsam alt werden. Gut, ich verdiente nicht schlecht, so für primäre Bedürfnisse schon. Aber ich hatte keine eigene Wohnung etc. Dann dachte ich, weg, so schnell wie möglich. Dann habe ich als Tänzerin gearbeitet. In Bulgarien und Griechenland.
5. Tätigkeit in der Schweiz
Ich habe fünf Jahre lang in der ganzen Schweiz in Cabarets und Bordellen gearbeitet. Ich bin dann immer wieder zurückgegangen und habe einen neuen Vertrag gemacht. Ohne Bewilligung ist es schwierig in der Schweiz. Es hat eine Polizei und Gesetze. Ich habe Frauen aus Ungarn oder Bulgarien ohne Bewilligung gesehen, die wurden geschleppt. Die konnten dann nur in einem Hotel animieren. Aber das ist nur in großen Städten möglich. In Zürich oder in Genf. Dort ist dann alles viel tougher. Ich musste trinken, tanzen und Show machen. Und man kann selber noch dazu verdienen. Wenn dir ein Mann gefällt, kannst du das Geld behalten.
Ich habe dann einen Schweizer geheiratet, aber es hat nicht so gut geklappt. Er wollte ein liebes „Meiteli“ heiraten. Keine erwachsene Frau. Ich war auch stur. Schwarzweiß. Er ist dann einfach weggegangen. Im Moment habe ich keinen Freund. Ich habe keine Zeit und will beruflich weiterkommen. Ich habe eine Familie gefunden. Schweizer. Ich habe ja auch ein Kind, das ist fünf Jahre alt. Mein Kind hat einen Götti (Paten). Ich fühle mich wohl. Ich habe auch Schweizer Freunde. Jetzt mache ich eine Anlehre und will dann später in die Modefachschule gehen. Ich arbeite fünf Tage pro Woche. Ich habe mit dem Chef abgemacht, dass ich zweimal später kommen kann. Aber dann muss ich bis 18 Uhr bleiben. Ich bin sehr ehrgeizig und muss zusätzlich Schulen machen. Ich habe einen Deutsch- und einen Computerkurs besucht. Ein Jahr lang. Ich mache mir Sorgen um meinen Sohn. Hat er genug Mittel, um eine gute Ausbildung zu machen? Kann er zur Universität gehen? Hat er bessere Chancen als ich? In zehn Jahren wird es hier vermutlich noch strenger als jetzt schon. Ich habe einen Plan. Zuerst Deutsch, dann das Diplom. Man kann nicht sofort die goldenen Berge haben. Aber mit der Zeit schon. Wenn man Geduld und viel Willen hat.
Ich arbeite auch als Mediatorin. Das mache ich für die Frauen. Ich gehe dann in die Lokale und verteile gratis Kondome und Informationsblätter. Dort stehen auch Telefonnummern, wenn sie Hilfe brauchen.
6. Der Verdienst
Als Tänzerin verdient man nicht genug. Man muss dann noch animieren und so. Aber auch wenn man drei Männer pro Tag hat, ist es einfach unmöglich, soviel Geld zurückzuzahlen. Daraus wird dann eine langwierige Sache. Man muss auch noch Kundentaxe zahlen. Das heißt, man muss eine Flasche Champagner pro Kunde bezahlen. Da gibt es ein Minimum und ein Maximum. Das ist, bevor man ins Separee oder ins Zimmer geht mit dem Kunden.
In Zürich kann man schon mehr Geld verdienen. Dort gibt es Cabarets der höheren Klasse und Männer mit dicken Portemonnaies. Ich fand es schwierig, in Zürich zu leben, da geht es immer um Geld. Überall wird immer alles für Geld gemacht. Ich finde das wahnsinnig. Oder vielleicht noch im Tessin. Dort gibt es viele Touristen und riesige Discos.
7. Das Beziehungsnetz
Wenn man lange im Geschäft ist, spricht es sich rum unter den Frauen, wo es gute Arbeitsplätze hat, und wo man viel Geld verdienen kann. Bei der Agentur kennt man sich.
Ich habe in Russland auch eine Freundin, die eine Karriere hat, aber keine Kinder. Wenn man eine gute Ausbildung hat, hat man dort schon Chancen. Wäre ich ein Mann, hätte ich auch gerne drei Kinder und eine Karriere.
All die russischen Männer, die in der Schweiz arbeiten, die gehen ins Cabaret und nennen uns Nutten. Das ist keine Gleichberechtigung.
Es gab hier mal eine Drogenmafia. Hatte aber mit uns Frauen wenig zu tun. Die Frauen haben eine große Klappe. Das ist ungünstig fürs Geschäft.
8. Körperliche Drohungen/psychischer Druck
Als ich zum ersten Mal im Cabaret arbeitete, habe ich zuerst geweint. Nach einigen Monaten ist das vorbei. Man adaptiert sich. Zuhause sagen die Mädchen ja nicht, was sie machen. Wenn die Familie es erfährt, wird es peinlich. Sie sagen nicht die Wahrheit. Sie sagen, sie arbeiten als Kellnerin oder so. Und wenn sie verheiratet sind, fragt niemand mehr. Bei mir war das nicht so. Ich habe Vorwürfe gehört von zuhause. Ich lebe in Luxus und gebe zuwenig Geld ab. Nach einigen Jahren habe ich dann trotzdem die Wahrheit gesagt. Ich sagte, sorry, das ist kein Luxus, all die Geschenke und so. Das habe ich selber verdienen müssen. Ich habe ihnen dann gesagt, was für eine Arbeit ich gemacht habe.
In Deutschland wurden vor ein paar Jahren vier Russinnen ermordet. Privat. In einem normalen Wohnhaus. Niemand wusste, was dort lief. Manchmal war es lärmig. Plötzlich ist die Polizei gekommen und alle vier Frauen waren erschossen. Eine davon habe ich gekannt. Niemand wusste genau, was passiert ist. Man sagt ja nicht, was man macht.
9. Finanzieller Druck
Als Tänzerin muss man auch noch animieren. man verdient nicht genug. Ich habe verrückte Summen gehört (für die Vermittlung). Die Frauen verpflichten sich, das zu bezahlen. Sie haben Angst. Also ich kenne eine Frau, die hat nicht bezahlt. Schon am Flughafen waren Leute da mit ihrem Sohn und haben gesagt, wenn du nicht bezahlst, dann siehst du deinen Sohn nie wieder. Also alle zahlen.
10. Gesundheitliche Risiken
Frauen schlucken schon manchmal (Drogen). Aber vor allem trinken sie Whisky. Man kann sonst nicht so leben. Man muss ja ein bisschen entspannt sein. Einfach zu einem Mann gehen und sagen, ich möchte was trinken, das braucht schon Laune. Man ist dann beschwipst. Dann können die Frauen nicht mehr aufhören zu trinken, auch wenn sie verheiratet sind.
Pilze oder andere Krankheiten bekommt man schon. Man arbeitet ja ohne Unterwäsche und der Mann greift dann an jede Stelle. Und die Frauen müssen ja Umsatz machen und greifen auch überall hin. Da steckt man sich leicht an.
Oder die unerwartete Schwangerschaft. Nach der Arbeit sind alle betrunken und dürften keinen Mann ins Bett nehmen. Der Mann macht dann, was er will. Am nächsten Morgen stellt man fest, dass das Kondom nicht benutzt wurde. Dann, nach einem Monat, bleibt die Periode weg. Dann reist man nach Zürich für eine Abtreibung. Eine hat mal ein Kind gekriegt. Die hat es nicht gemerkt und dann war es zu spät. Sie dachte nicht daran. Dann war es zu spät und der Bauch schon da.
11. Freiwillige Abhängigkeit — abhängige Freiwilligkeit
Ich komme aus einer Arbeiterfamilie, aus einer Familie, wo die Frauen nicht gefragt wurden, was sie wollen. Die Mutter hatte nie Geld und musste Schulden machen. Viele von uns müssen die Schulden von Vater oder Mutter zurückzahlen. Die Familie zuhause macht großen Druck. Das war bei mir auch so. Meine Nichte hat sich später auch auf ein solches Inserat gemeldet. Ich sagte ihr: Vergiss es, du weißt, wo du landest. Was stellst du dir eigentlich vor? Welche Fabrik nimmt dich? Die Schweiz hat genug Arbeitslose.
Ich kenne die Schweiz von allen Seiten. Man muss viel Disziplin und Geduld haben, wenn man etwas will. Das ist schwierig. Ich lebe allein mit meinem Kind. Ich habe keine Zeit, einen Freund zu suchen.
Und im Moment läuft hier nicht so viel. Viele Frauen kommen aus ländlichen Gebieten der Ukraine und aus Bulgarien und Rumänien. Das sind die Ärmsten. Die kommen ohne Sprache, ohne nichts.
Obwohl es Frauen gibt, die Erfolg haben. Tschechinnen, weniger Ungarinnen, aber auch Russinnen. Die haben schon Chancen. Die investieren dann Geld in ihrem Heimatland. Kaufen Wohnungen in Russland und vermieten sie weiter, an Hotels und so. Oder sie bleiben im business und lassen Frauen kommen. Das macht mich verrückt, dass Russinnen, die anständige Schweizermänner haben, andere Frauen vermitteln und dafür Geld verlangen. Ich finde das unmoralisch.
Viele Frauen denken, dass sie das (Tänzerin, Prostituierte) nur für kurze Zeit machen. Aber daraus ergibt sich dann eine langwierige Sache. Sie können nicht mehr aussteigen, weil sie Schulden zurückzahlen müssen.
Wenn man einmal draußen ist, ist es am besten, man vergisst diese ganze Sauerei schnell.
12. Zusammenfassung
Yulia ist ein Beispiel für die vielen Frauen, die mit einer Bewilligung L in einem Schweizer Nachtclub als Striptease-Tänzerin arbeiten. Ausgenommen Frauen, die aufgrund ihres hohen Ausbildungsstandes Arbeitserlaubnis für hoch qualifizierte Tätigkeiten an Universitäten, Spitälern, Anwaltskanzleien, Banken und dergleichen erhalten, ist dies die einzige Möglichkeit für Frauen aus visumpflichtigen osteuropäischen Ländern, zivilstandunabhängig in die Schweiz einzureisen und einer legalen, geregelten Tätigkeit nachzugehen.
Dass der „Nebenerwerb“ über die vom Gesetz verbotene Animation und illegale Prostitution üblich und sowohl für Nachtclubbetreiber als auch für Tänzerinnen der lukrative Teil des Anstellungsvertrags ist, wird von Interviewpartnern und Gerichtsakten übereinstimmend bestätigt. Einzig ein Agenturbesitzer hat bestritten, dass Frauen, die über seine Agentur Verträge mit Nachtclubbesitzern abgeschlossen haben, sich der Prostitution und Animation widmeten. Die Polizei ist in solchen Fällen machtlos, da die Grenzen zwischen bewilligter Tätigkeit als Striptease-Tänzerin, Animation und Prostitution fließend sind und weder Clubbetreiber noch Tänzerinnen interessiert sind, auf diese lukrativen Einnahmequellen zu verzichten.
4.4.2 Verhörprotokolle: Polinnen suchen Arbeit
Im Folgenden werden die Aussagen von zwei Frauen wiedergegeben, die als Angeschuldigte einzeln vom Verhörrichter und der Polizei und bei einer Gegenüberstellung einvernommen wurden. Sie sind aufgrund ihres Aufenthaltsstatus der illegalen Prostitution angeklagt. Quellen sind Polizei- und Gerichtsprotokolle aus Einvernahmen und Gegenüberstellungen mit weiteren Angeklagten. Die Protokolle enthalten die wörtlichen Reden, die von vereidigten Dolmetschern aus dem Polnischen ins Deutsche übersetzt wurden. Die Strafverfolgungsbehörde und bei Gegenüberstellungen auch Vertreter der Verteidigung stellten Fragen an die Frauen. Die Protokolle enthalten also weder Erlebnisberichte noch individuelle Erinnerungen der Befragten, sondern gerichtsverwertbar verarbeitete Erfahrungen. Die Gerichtsprozessforschung macht klar, dass die Narration in den konkreten Verhörzusammenhang gestellt und von diesen gegebenen Machtbeziehungen aus interpretiert werden muss. Dadurch unterscheiden sie sich von anderen Formen der Narration, wie z.B. selbst gestaltete Erlebnisberichte oder Interviews. (437)
Diese Protokollausschnitte mögen als Muster für Fälle dienen, wie sie bei den Interviews, bei den Polizei- und Gerichtsakten und bei den Gerichtsentscheiden am häufigsten auftraten. Gleichzeitig eignen sie sich als Vorlage, die Situation von ausländischen Frauen, die sich in der Schweiz ohne die erforderlichen Bewilligungen prostituieren, zum besseren Verständnis zu strukturieren. Neben den Angaben zur Person (Herkunft, familiärer und beruflicher Hintergrund) sind folgende Themenkreise unterscheiden, die wesentlich den Erfahrungshorizont von illegalen Prostituierten in der Schweiz bestimmen: Motivation zur Einreise, Kontakt/Anwerbung, Informiertheit/Information, Tätigkeit vor der Einreise, Tätigkeit in der Schweiz/Arbeitsbedingungen in der Schweiz, Verdienst, Beziehungsnetz in der Schweiz, finanzieller Druck, körperliche Drohungen/psychischer Druck, gesundheitliche Risiken, Freiwilligkeit.
Die Stadtpolizei Zürich ermittelte gegen einen Zuhälterring mit Verdacht auf Menschenhandel (Art. 196 StGB), Förderung der Prostitution (Art. 195 StGB) und Beteiligung an einer kriminellen Organisation (Art. 260ter StGB). Sie griffen u.a. Elzbieta und Marie auf, die sie im September 1995 der Bezirksanwaltschaft als Angeschuldigte zur Befragung vorführten. Ein Jahr später verurteilte sie das Bezirksgericht Zürich in gesonderten Verfahren wegen Vergehen gegen das ANAG in Abwesenheit zu Gefängnis und „Buße, sprach sie aber von der Beteiligung an einer kriminellen Organisation frei.” (438) Die Fremdenpolizei hatte die Frauen bereits vor dem Gerichtstermin des Landes verwiesen. Sechs Jahre später verurteilte das Bezirksgericht Zürich den Hauptangeklagten Goran wegen Förderung der Prostitution (Art. 195 StGB) und Verstoßes gegen das Bundesgesetz über ANAG zu einer zweijährigen bedingten Gefängnisstrafe und zu einer Buße (vgl. Kap. 5.5.1).
Elzbieta aus Polen ist 20 Jahre alt, ledig, hat ein Kind und ist ohne Beruf. Sie ist wegen illegaler Ausübung der Prostitution und Beteiligung an einer kriminellen Organisation angeschuldigt.
Marie ist 20 Jahre alt und ledig. Sie hat keine Kinder und gibt als Beruf Dentalhygienikerin an. Sie kommt ebenfalls aus Polen und lebt ohne festen Wohnsitz in der Schweiz.
Die Befragung der Bezirksanwaltschaft erfolgte in gesonderten Konfrontationseinvernahmen und in Anwesenheit eines Rechtsanwalts. (439)
1. Motivation zur Einreise
Elzbieta: Ich habe früher bereits einmal in Berlin und Stettin als Tänzerin gearbeitet. Ich hatte Interesse, als mir eine Kollegin von einem Job als Tänzerin in der Schweiz sprach. Ich habe mir allerdings ein paar Tage Bedenkzeit ausbedungen. Ursprünglich wollte ich meine Kollegin dazu bringen, mit mir zusammen in die Schweiz zu fahren, doch sie wollte nicht. Ich hatte eigentlich zuerst Angst, alleine in die Schweiz zu fahren, habe aber schließlich eingewilligt. Ich kannte ja niemanden und wusste nicht genau, was für eine Arbeit es war und wo; da ist es ja normal, wenn man Angst hat. Ich wollte nur einen Monat, während der polnischen Schulferien, als Tänzerin in der Schweiz arbeiten.
Marie: Ich kam in die Schweiz, um hier für eine Agentur zu arbeiten. Ich habe in einer polnischen Tageszeitung ein Inserat gefunden und habe mich daraufhin telefonisch gemeldet.
2. Der Kontakt
Elzbieta: Ich kenne den hier anwesenden Boris. Ich habe ihn in Stettin kennen gelernt, kurz vor meiner Anreise in die Schweiz. Eigentlich hat mir meine Kollegin gesagt, dass der Mann, der mich in die Schweiz mitnehmen würde, da sei, und ich habe mit ihm Kontakt aufgenommen. Weil ich mich nicht sofort entscheiden konnte, hat Boris bei mir zu Hause angerufen. Er hat mich dann abgeholt und wir sind in die Schweiz gereist. Auch war noch ein anderer Chauffeur dabei, Günther.
Marie: Auf diese Weise kam ich mit Andrej in Kontakt. Andrej hat mich mit dem Auto aus Polen direkt zu Goran nach A. (Schweiz) gebracht. Goran war der Chef.
3. Information
Elzbieta: Ich sprach mit niemandem in Polen über mein Engagement in der Schweiz, außer mit dieser Kollegin. Sie sagte nur, dass ich einen Monat in der Schweiz arbeiten könnte und dafür gut bezahlt würde. Konkrete Zahlen hat sie aber nicht genannt. Sie hat mich einfach gefragt, ob ich in der Schweiz als Tänzerin arbeiten wolle. Ich wusste nicht genau, was für eine Arbeit es war. Die Kollegin erklärte mir, dass ich in einem Nachtclub tanzen würde und nichts mehr. Ich ging davon aus, dass ich etwa die gleiche Arbeit machen würde wie in Berlin und Stettin. Doch war der Unterschied darin, dass ich nicht in einer Diskothek, sondern in einem Nachtclub tanzen würde. Ein Nachtclub ist meiner Meinung nach exklusiver, während eine Diskothek mehr populär ist. Unterwegs habe ich Boris gefragt, wie viele Mädchen denn im Club arbeiten. Ich glaube, dass er von vier gesprochen hat. Die konkreten Arbeitsbedingungen wurden mir erst in der Schweiz vom Chef mitgeteilt.
Marie: Im Inserat war lediglich die Rede von Arbeit in der Schweiz, wobei nicht geschrieben stand, um was für eine Arbeit es sich dabei handelt. Ich habe mich bei Andrej gemeldet und dabei erfahren, dass es sich um Prostitution handelt. Ich war einverstanden, für einen Monat in die Schweiz zu reisen, um dort der Prostitution nachzugehen. Andrej erklärte mir, dass ich 3’000 Franken im Monat verdienen würde.
4. Tätigkeit vor der Einreise
Elzbieta: In Berlin und Stettin tanzte ich in einer Diskothek und machte Striptease und den Spezialtanz mit der Stange. Ich musste mich dabei nicht ganz ausziehen, sondern war nur topless. Bevor ich in die Schweiz kam, habe ich mich nie prostituiert.
Frage des Rechtsanwalts: Beim Bezirksanwalt sagten Sie aus, dass Sie in Berlin von einem polnischen Zuhälter an einen Türken zur Prostitution vermittelt worden seien. Ist es denn nicht ein bisschen blauäugig von Ihnen, wenn Sie glaubten, in der Schweiz als Tänzerin arbeiten zu können?
Elzbieta: Nein. Vorher lief alles über den polnischen Zuhälter. Die Schweizersache habe ich aber nicht mit ihm, sondern mit meiner Kollegin abgesprochen. Ich habe übrigens verschiedene Angebote von Türken gehabt, als Prostituierte zu arbeiten. Die habe ich aber alle abgelehnt.
Frage des Rechtsanwalts: Der Zuhälter und Boris behaupten, Sie hätten sich in Berlin schon prostituiert. Was sagen Sie dazu?
Elzbieta: Das stimmt nicht. Ich weiß selbst besser, was ich gemacht habe.
Marie: Ich habe schon als Striptease-Tänzerin gearbeitet. Ich habe keine andere Stelle gefunden.
5. Tätigkeit in der Schweiz
Elzbieta: Am Morgen nach der Ankunft erklärte mir Goran, dass ich zu Kunden fahren müsse. Ich würde einen Monatslohn erhalten, der von meinen Einsätzen und der Qualität meiner Arbeit abhängt. Später habe ich von den Mädchen erfahren, dass ich zwischen 2000 und 2500 Franken verdienen könnte, wenn ich gut arbeiten würde. Ich musste Sex mit Freiern machen.
Marie: Die Mädchen, die auch für Goran arbeiteten, haben mir gesagt, was ich zu tun habe. Mit dem Chef (440) habe ich darüber nicht gesprochen, weil ich die Sprache nicht beherrsche.
Der Chef hat die Telefone entgegengenommen und mit den Kunden gesprochen. Und er hat uns teils selbst zu den Kunden gefahren, teils hat er dies durch die Chauffeure machen lassen. Er hat auch den Zahltag gemacht. Die Chauffeure fuhren uns dann zu den Kunden und holten uns wieder ab. Wenn es weit weg war, warteten sie, bis wir fertig waren. Jeder der Chauffeure hatte ein Telefon dabei. Teilweise waren es auch die Chauffeure, die die Mädchen den Kunden zuwiesen.
Wir hatten keine festen Arbeitszeiten und auch keine festgelegten Ruhezeiten. So hatte ich beispielsweise keinen einzigen Tag frei. Meistens sind wir um 9 Uhr nachhause gekommen und konnten dann etwa bis 13 oder 14 Uhr schlafen. Um 15 Uhr mussten wir meistens schon wieder los.
Frage: Waren Sie bezüglich der sexuellen Praktiken in der Entscheidung frei oder gab es Vorschriften?
Marie: Wir mussten auf Geheiß vom Chef alles machen, was die Kunden wünschten. Frage: Konnten Sie sich während Ihres Aufenthalts in der Schweiz jederzeit frei bewegen oder wurden Sie überwacht?
Marie: Wir hatten zwar nur wenig Freizeit, aber wir konnten uns dabei frei bewegen, respektive wir haben uns extra nicht abgemeldet, damit wir nicht aus der Freizeit zu einem Kunden geholt wurden. Der Pass wurde mir nicht abgenommen. Grundsätzlich waren wir frei. Man hat mich nur beobachtet, als ich nach Polen zurück wollte. Zusatzfrage des Rechtsanwalts: Haben Sie versucht, eine andere Arbeit zu finden? Marie: Nein. Aber einmal meldeten wir uns bei einer Fotoagentur.
6. Der Verdienst
Elzbieta: Ich weiß nicht genau, was abgemacht war. Ich habe zwei Monate gearbeitet, und so, wie mir meine Kolleginnen erzählten, bezahlte er 2500 Franken pro Monat, sodass ich eigentlich 5000 Franken zugute habe. Eigentlich sogar ein bisschen mehr, da ich länger als zwei Monate gearbeitet habe.
Für diese Zeit würde ich etwa von 200 Freiern ausgehen. Man muss dazu allerdings sagen, dass ich einige für eine ganze Nacht hatte, andere wiederum nur für zwei Stunden. Für 90 Minuten mussten sie bar 450 Franken oder mit Kreditkarte 500 Franken bezahlen, für die ganze Nacht 1000 bis 1200 Franken. Das hing davon ab, was der Chef mit den Kunden vereinbarte. Das Trinkgeld durften wir behalten. Einmal habe ich 700 Franken bekommen.
Frage: Hatten Sie bezüglich Preise nichts zu sagen?
Elzbieta: Absolut nein.
Frage: Wer kassierte das Geld jeweils von den Kunden?
Elzbieta: Ich. Ich musste es dann jeweils direkt nach dem Kundenbesuch dem Chauffeur aushändigen, der es wiederum an den Chef weiterreichte.
Frage an Goran: Sind Sie bereit, Elzbieta den vereinbarten Lohn zu zahlen?
Goran: Im Prinzip ja, ich habe jedoch kein Geld. Ich habe Schulden, auch wegen eines Privatprozesses.
Marie: Ganz genau weiß ich das nicht. Ich habe im ersten Monat 1300 Franken bekommen sowie Vorbezüge in der Größenordnung von 1000 Franken. Das Geld gab mir jeweils der Chef.
Wir Mädchen haben das Geld vom Kunden entgegengenommen und dann dem Chauffeur weitergegeben. Was dieser damit machte, weiß ich nicht. Trinkgelder durften wir behalten.
7. Das Beziehungsnetz
Frage: Kennen Sie die hier anwesenden Angeschuldigten? (Die Frage wird für jeden der anwesenden oder auf Foto präsentierten Männer einzeln gestellt.)
Elzbieta: Ich weiß, dass er Stepan heißt und dass Marie in ihn verliebt ist. Ich habe ihn einmal gesehen. Ich weiß von Marie, dass er als Chauffeur kurze Zeit für den Chef gearbeitet hat. — Und das ist Hans. Ich habe ihn durch den Chef kennen gelernt, in einem Restaurant. Später durfte ich bei ihm und seinem Sohn wohnen. Ich bin mit ihm einige Male gefahren. Ich habe vom August bis zu meiner Verhaftung bei ihm gewohnt und bin von seinem Sohn schwanger. Als ich dort wohnte, musste ich etwa einmal pro Tag arbeiten. Ich glaube, es handelte sich dabei um Kunden von Goran. Ich wurde in dieser Zeit von Hans gefahren und ihm musste ich auch das Geld abgeben, wie ich es immer dem Chauffeur abgeben musste. — Und das ist der Chef. Als ich mit Boris (und dem Zuhälter) im Haus in der Schweiz angekommen bin, habe ich ihn dort kennen gelernt. Goran war der oberste Chef. Er erteilte allen Mitarbeitern Befehle.
Frage: Kennen Sie diese Herren? (Die Frage wird für jeden der anwesenden oder auf Foto präsentierten Männer einzeln gestellt.)
Marie: Ja. Das ist Stepan. Ich habe ihn in einem Hotel in Zürich kennen gelernt. Goran hat ihn geschickt, damit er mich zu einem Klienten fuhr. Ich war dann mit ihm zusammen. Gewissermaßen privat. Ich war bei ihm zuhause. In dieser Zeit habe ich nicht gearbeitet. — Ja. Das ist der Chef. — Ja. Das ist ein Chauffeur von Goran. Ich habe ihn bei ihm kennen gelernt. — Ja. Das ist Hans. Der Mann war mein Klient. — Ja. Der hat mich oft chauffiert. Ich lernte ihn auch bei Goran in A. kennen.
Frage: Haben Sie in der Schweiz mit einer anderen Person über ihre Arbeitsbedingungen gesprochen?
Marie: Nein. Die Mädchen haben mir gesagt, was ich zu tun habe.
8. Körperliche Drohungen/psychischer Druck
Elzbieta: Am Anfang, bis ich mich zu dieser Arbeit entschloss, gab es keine Drohungen, später schon. Ich hatte relativ oft Reklamationen von Freiern — einmal drei Mal am gleichen Tag — und dann richtete mir mein damaliger Chauffeur aus, dass Goran sehr wütend sei und er mich töten würde, wenn er mich zu Gesicht bekäme. Am andern Tag hat er die Drohungen mir gegenüber persönlich wiederholt. Ich hatte Angst. Ich hatte ja gesehen, wie er seine Freundin Jana schlug.
Frage: Heißt das, dass Sie glaubten, Goran würde seine Drohung wahr machen?
Elzbieta: Ja, ich war fest davon überzeugt. Er hat mir immer wieder gedroht, ich hatte aber auch immer wieder Probleme mit den Freiern. Ich wollte nicht alles machen und soll einige Dinge auch nicht richtig ausgeführt haben. Beispielsweise war Pascal ein Stammkunde. Ich hatte bei einem Besuch bei ihm Bauchweh und ging weg von ihm zu Boris ins Auto. Goran fragte mich am nächsten Tag, warum ich so gehandelt habe. Ich wollte mich verteidigen und ihm sagen, dass Pascal eine Sexmaschine sei. Goran forderte mich auf, Pascal und den anderen Kunden künftig einen Superservice zu bieten, sonst würde er mich schlagen.
Frage: Hat er dies getan?
Elzbieta: Nein.
Frage: Haben Sie gesehen, wie Goran seine Freundin schlug?
Elzbieta: Nein, aber ich habe sie nachher gesehen.
Frage: Wissen Sie, warum er sie geschlagen hat?
Elzbieta: Ganz genau weiß ich es nicht. Einmal hat er sie aber geschlagen, weil sie in seiner Abwesenheit eine Disco besucht hat. Ich weiß nicht, ob er sie mehrmals geschlagen hat, ich habe dies nur einmal bemerkt. Damals hat sie schrecklich ausgesehen. Ich sah nur ihr Gesicht, aber das leuchtete in allen Farben.
Marie: Ich habe gesehen, wie der Chef Jana geschlagen hat. Nicht nur einmal. Ich hatte auch Angst vor ihm.
9. Finanzieller Druck
Elzbieta: Der Chef hat mir gesagt, dass er mir für jede Reklamation 500 Franken abziehen würde. Ich weiß nicht, ob er es getan hat, da ich bis heute kein Geld von ihm bekommen habe. Ich war aber fest davon überzeugt, dass er dies tun würde. Ich sollte monatlich bezahlt werden, und am 10. August wurde mir versprochen, dass ich nach Hause fahren dürfte. An diesem Tag sagte mir der Chef aber, dass ich nicht fahren dürfte, da zu wenig Mädchen da wären. Er würde mir meinen Lohn erst dann geben, wenn ich tatsächlich nach Polen zurückfahren würde. Ich hatte von ihm nur zweimal einen Vorschuss für das Essen erhalten. Einmal 100 Franken und einmal 200 Franken. Ich reklamierte bei ihm, aber er wollte nicht zahlen. Er hatte Angst, dass ich abhauen würde, was ich tatsächlich auch gemacht hätte. Aber ich hatte ja kein Geld; das hätte nicht einmal für die Rückreise gereicht. Außerdem wollte ich nicht gratis arbeiten.
Frage an Marie: In der Einvernahme vom 31.8. erklären Sie, in einem solchen Falle (Reklamation des Kunden) hätte der Chef das Geld einbehalten, das der Kunde bezahlte. Sie selbst hätten sich geweigert, aber das Geld verlangten Sie trotzdem. Was sagen Sie dazu?
Marie: Das stimmt nicht. Dieses Vorgehen wurde nur angewandt, wenn ein Kunde reklamiert hat. Einmal rannte ich von einem Kunden weg. Der Chef stellte mir in Aussicht, dass das Geld vom Lohn abgezogen würde. Ob das tatsächlich geschah, weiß ich nicht.
10. Gesundheitliche Risiken (441)
Elzbieta: Ich wollte nicht alles machen und soll einige Dinge auch nicht richtig ausgeführt haben. Beispielsweise war Pascal ein Stammkunde. Ich hatte bei einem Besuch bei ihm Bauchweh und ging weg von ihm.
Frage an Marie: Kam es auch vor, dass Sie während des Schlafens geweckt und an einen Kunden vermittelt wurden?
Marie: Ja, das kam vor, und ich bin auch gegangen.
Frage: Konnten Sie sich nicht weigern?
Marie: Man musste einfach gehen. Auch wenn man unpässlich war.
Frage: Haben Sie sich nie konkret geweigert?
Marie: Ich habe mich nicht geweigert. Andere haben geweint, aber das hat nichts geändert. Einmal wollte ich etwas nicht machen, was der Kunde wollte. (Praktiken ohne Kondom). Da hat der Kunde bei Goran reklamiert und ich musste es doch machen.
11. Freiwillige Abhängigkeit — abhängige Freiwilligkeit
Frage: Wie stellen Sie sich dazu, dass Sie Sex mit Freiern machen mussten?
Elzbieta: Eigentlich wollte ich es nicht machen, Goran hat mir das Ganze aber in rosaroten Farben geschildert, so war ich schließlich einverstanden. Er sagte auch, dass ich das nicht lange machen müsste. Später erklärte er mir, dass ich dies während dreier Monate tun müsse. Der Chef erlaubte mir, bis 14 Uhr ins Solarium zu gehen oder in einem nahen Geschäft einzukaufen. Um 14 Uhr musste ich immer zurück sein, manchmal auch früher, wenn ein Kunde nach mir verlangt hatte. Dabei sind wir teilweise erst um 19 Uhr oder 20 Uhr oder noch später von der Arbeit zurückgekommen.
Frage: Wer hatte Ihren Pass?
Elzbieta: Den hatte ich bei mir.
Frage: Hatten Sie bezüglich der Wahl der Freier oder bezüglich der Sexualpraktiken etwas zu sagen?
Elzbieta: Nein. Das wäre schön gewesen, dann hätte ich keinen besucht.
Frage: Wurde Ihnen bezüglich der Sexualpraktiken vorgeschrieben, wie weit Sie zu gehen hatten?
Elzbieta: Generell hieß es, ich müsste Superservice bieten, das heißt, dass ich alles machen musste, was die Klienten wollten. Es hieß aber, dass der Geschlechtsverkehr mit Kondom vollzogen werden müsse, während „französisch“ ohne Gummi gemacht werden musste. Diese Anordnungen kamen von Goran.
Frage: Gab es Freierwünsche, die Sie nicht erfüllen wollten?
Elzbieta: Ja, selbstverständlich. Deswegen hatte ich auch Reklamationen und Probleme.
Frage: Wieso machten Sie Boris am Telefon vom 18.7.95 keine Vorwürfe, dass er Sie an einen solchen Ort vermittelte?
Elzbieta: Ich habe über Jana, die Freundin des Chefs gesprochen.
Frage: Fühlen Sie sich durch die Vorkommnisse in der Schweiz ausgenützt und gedemütigt?
Elzbieta: Ich fühle mich sehr gedemütigt, weil ich für nichts gearbeitet habe. Außerdem konnte ich nicht nach Hause fahren zu meinem Kind und ich konnte nicht in die Schule gehen. Wenn ich nicht verhaftet worden wäre, dann hätte ich bis heute nicht nach Hause fahren können. Ich hätte abarbeiten müssen, bis ein anderes Mädchen meine Stelle eingenommen hätte.
Frage: Ursprünglich wollten Sie nur einen Monat bleiben. Warum sind Sie länger geblieben?
Marie: Als der erste Monat vorbei war, wollte ich eigentlich nach Hause reisen. Ich hatte meinen Lohn auch schon erhalten. Der Chef erklärte mir dann allerdings, dass er Andrej bereits Geld für mich bezahlt hatte, sodass ich jetzt für ihn weiterarbeiten müsse. Ich war damit nicht einverstanden, doch er erklärte mir, dass ich ihm in diesem Falle das Geld, das er Andrej bezahlt habe, zurückerstatten müsse. Da ich in diesem Falle den ganzen Verdienst wieder hätte zurückgeben müssen, entschloss ich mich, weiterzuarbeiten. Ich beschloss dann, einen weiteren Monat zu arbeiten.
12. Zusammenfassung
Die Aussagen der unabhängig voneinander befragten Frauen decken sich in Details und wesentlichen Punkten. Sie bringen vor allem zum Ausdruck, dass die Frauen zwar freiwillig in die Schweiz gekommen waren, um ohne die erforderliche Arbeitserlaubnis, also illegal, als Prostituierte Geld zu verdienen, dass sie aber über die konkrete Arbeit und die Arbeitsbedingungen unvollständig informiert waren. Einmal in der Schweiz, fanden sie sich in einer Zwangssituation wieder, die geprägt war von körperlichen Drohungen, psychischem und finanziellem Druck. Eine freie Entscheidung, sowohl was die Tätigkeit selbst betrifft als auch das Wechseln des Begleitservices oder das „Aussteigen“, erschien den Frauen unter diesen Umständen nicht möglich. Diese Zwangssituation war vor allem geeignet, die Machtposition des Chefs zu stärken und diente dem Profit, den er und seine Mitarbeiter aus dem Geschäft mit den illegalen Prostituierten erwirtschafteten. Dies möge ein Rechenbeispiel verdeutlichen:
Die Gewinnmarge für die Dienstleistungen einer einzigen illegalen Prostituierten sind beträchtlich: Geht man von den Angaben von Elzbieta aus, ergeben 200 Freier zu durchschnittlich 500 Franken den stattlichen Betrag von 100’000 Franken in drei Monaten (Goran zwang Elzbieta unter Rückbehaltung des Lohnes, drei Monate bei ihm zu arbeiten, statt, wie von der Frau geplant, nur einen Monat). Zieht man den versprochenen Lohn von 2500 Franken pro Monat und nochmals geschätzte 1500 Franken für Kost und Logis pro Monat ab, summiert sich das zu einem Betrag von 12’000 Franken, ein Lohn, der ca. 10% ihrer Einnahmen entspricht. Zum Vergleich schätzen die Steuerbehörden das steuerbare Einkommen einer selbständigen, legal in der Schweiz arbeitenden Vollzeit-Prostituierten auf ca. 100’000 Franken im Jahr, allerdings mit beträchtlicher individueller Varianz (Interview mit einem Steuerbeamten, Zürich, Oktober 1999). Die freie Prostituierte kann also, bei frei wählbaren Arbeitsbedingungen, mit einem doppelten bis dreifachen Einkommen rechnen wie die abhängige Prostituierte.
Aus den Aussagen der beiden Frauen geht hervor, dass beide schon Erfahrungen im Sex-Milieu hatten und bereit waren, weiterhin in diesem Bereich erwerbstätig zu sein. Obwohl sie über die konkreten Arbeitsbedingungen im Unklaren waren, beeinflusste dies den Migrationsentscheid nicht negativ. Dies zeigt die Bedeutung der organisierten Anwerbung und des konkreten Angebots für die Migration.
Die Beispiele zeigen auch, dass die Motivation der Frauen zum Gelderwerb größer war als das Unrechtsempfinden hinsichtlich ihrer eigenen illegalen Tätigkeit. Als besonders belastend erscheint ihnen die Unmöglichkeit ihre Arbeitsbedingungen zu beeinflussen, die physischen und psychischen Gewaltandrohungen und die unerfüllten Erwartungen auf einen großen Verdienst.
Auffällig ist, dass in den Befragungen durch die Strafverfolgungsbehörden die Situation in der Heimat vor und nach dem Aufenthalt in der Schweiz nicht zur Sprache kam. Dies erstaunt umso mehr, als es sich in einem Fall um eine junge Frau handelte, die ein Kind von einem Schweizer Bürger erwartete. Über das weitere Schicksal der beiden verurteilten und des Landes verwiesenen Frauen ist nichts mehr bekannt.
4.4.3 Das ungarische Familiennetz: Besitzer und Sklavin
Im Dezember 1999 warf ein Gerichtsprozess in Lugano hohe Wellen und verunsicherte Zuhälter und Bordellbesitzer. Eine Ungarin, die ohne erforderliche Bewilligung als Prostituierte tätig war, wurde von der Tessiner Polizei bei einer Razzia aufgegriffen. Sie drehte dann aber den Spieß um und klagte ihre Zuhälter an, in der Hoffnung, sich mit Hilfe von Polizei und Gerichten von ihnen zu befreien, unbehelligt nach Hause zu reisen und dort ein geordnetes Leben zu führen zu können. Die Tessiner Justiz konnte aber nur die Schwester des Hauptzuhälters belangen, da weitere involvierte Personen weder in der Schweiz Wohnsitz hatten noch ihre Personalien bekannt waren. Mit Entscheid vom Januar 2000 verurteilte das Gericht die Schwester des Hauptverdächtigen wegen Beihilfe zur Förderung der Prostitution und wiederholten Verstößen gegen das ANAG zu einer bedingten Haftstrafe von neun Monaten und zu fünf Jahren Landesverweis. Das Urteil wurde nicht angefochten. Lena ist Ungarin und stammt aus einer ländlichen Umgebung. Sie war beim Prozess 19 Jahre alt, ledig und kinderlos. Sie hatte in Ungarn eine Handelsschule besucht und 1998 mit dem Diplom abgeschlossen. Danach war sie während eines Jahres an einer höheren Schule eingeschrieben. In Ungarn hat sie nie gearbeitet. Ihre Eltern sind Fabrikarbeiter mit je einem Lohn von circa 350 Franken monatlich. Ihr Bruder geht noch zur Schule. Die Aussagen sind aus dem Italienischen übersetzt, gekürzt und in Kategorien geordnet.
1. Motivation zur Einreise
Im Gespräch mit ihm (Andras) habe ich erfahren, dass es in Italien und der Schweiz die Möglichkeit gebe, viel Geld mit Prostitution zu verdienen. Da meine finanzielle Situation sowie die meiner Familie prekär ist, habe ich mir das überlegt. Andras hat mir von der Möglichkeit erzählt, in die Schweiz zu gehen, genauer nach Lugano, wo ich in einer Bar als Prostituierte arbeiten und 12”000 bis 15°000 Franken im Monat verdienen könne.
2. Kontakt
Als ich im Juli 1999 eine Reise mit dem Zug zu meinen Verwandten machte, habe ich Andras kennen gelernt (ungarischer Zuhälter/Vermittler). Als ich sein Angebot annahm, mich in die Schweiz als Prostituierte zu vermitteln, hat er mir Ferenc vorgestellt (ungarischer Zuhälter/Vermittler ohne festen Wohnsitz). Mit ihm bin ich dann in die Schweiz gereist.
3. Information
Sowohl Andras als auch Ferenc hatten mir gesagt, dass ich ihnen die Hälfte meines Verdienstes als Prostituierte abgeben müsse. Ferenc nannte mir den Namen der Bar, wo ich arbeiten würde, und erzählte mir von seiner Schwester Niki, die schon in Lugano war. Sie würde das Geld für ihn und Andras täglich bei mir einkassieren, während er abwesend sei.
Meine Eltern sind überzeugt, dass ich in der Schweiz als Kellnerin arbeite.
4. Tätigkeit vor der Einreise
Ich habe in Ungarn nie gearbeitet. Ich war ein Jahr lang an einer höheren Schule eingeschrieben. Bevor ich in die Schweiz kam, hatte ich mich nie prostituiert.
5. Tätigkeit in der Schweiz
Im Club W. in Lugano hatte ich einen bis zwei Freier pro Tag. Es gab nicht viel Arbeit, und das Geld reichte nur gerade, um für das Zimmer und meinen Unterhalt aufzukommen. In der Zeit, als ich im Lokal G. in Lugano logierte, verkehrte ich durchschnittlich mit fünf bis sechs Freiern pro Tag. Die Arbeitszeit war von 12 Uhr mittags bis zur Polizeistunde um 1 Uhr nachts.
6. Der Verdienst
Für jeden Verkehr musste ich 100 Franken oder 120’000 Lire verlangen. Wenn ich alles hochrechne, so habe ich mit durchschnittlich vier Freiern pro Tag vom 1. August bis heute (Dezember) circa 30’000 Franken brutto verdient. Von dieser Summe müssen mindestens 12000 Franken für die Miete der verschiedenen Zimmer abgezogen werden und die Quoten, welche ich Ferenc und Niki bezahlt habe (ca. 10’000 bis 11’000 Franken). Die verbleibenden 7000 bis 8000 Franken habe ich für meinen Unterhalt, Vergnügungen und verschiedene Anschaffungen ausgegeben. Ich habe meiner Familie nie Geld geschickt. Momentan bin ich lediglich im Besitz von 300 Franken und 300’000 Lire. Ich musste Niki 50 Franken pro Tag für das Zimmer geben.
7. Das Beziehungsnetz
Nachdem ich Andras in einem Zug in Ungarn kennen gelernt hatte, hat.er mich mehrere Male in meinem Dorf besucht. Als ich sein Angebot angenommen hatte, mich als Prostituierte in die Schweiz zu vermitteln, hat er mir Ferenc vorgestellt. Dieser wohnt in einem Nachbardorf.
Seit meiner Ankunft in der Schweiz hatte ich nur Kontakt mit Ferenc und seiner Schwester Niki. Zu Andras war der direkte Kontakt abgebrochen. Ferenc ließ mich aber wissen, dass alles oder ein Teil des Geldes, welches er von mir einkassiere, für Andras bestimmt sei. Nach der ersten Zeit in Lugano teilte mir Ferenc allerdings mit, dass er mich bei Andras ausgelöst habe, so dass nun die Hälfte meines Verdienstes direkt bei ihm bleibe.
Ferenc kam oft nach Lugano und logierte während ganzer Wochen im Lokal G. Manchmal habe ich ihn in meinem Zimmer beherbergt und manchmal kam er bei anderen Personen unter. Es ist wahr, dass wir bei gewissen Gelegenheiten miteinander schliefen, zum Beispiel, wenn Ferenc bei mir übernachtete. Er hat mich nie dazu gezwungen, aber ich war auch nicht in ihn verliebt. Ich weiß nicht, warum ich es gemacht habe.
Niki war die Mieterin des Zimmers, in dem ich als Untermieterin wohnte. Sie hat das Zimmer für mich gefunden. Sie erklärte mir auch, wie ich mich den Freiern gegenüber verhalten müsse, welchen Tarif ich für jede sexuelle Dienstleistung verlangen müsse, und die Arbeitszeiten.
Persönlich kenne ich keine anderen ungarischen Mädchen, die von Ferenc oder seiner Schwester abhängig sind. Ferenc hat mich bei einem seiner letzten Anrufe aufgefordert, mich rumzuhören, um Plätze für zwei weitere Mädchen zu finden, die mit ihm in die Schweiz kommen würden. Natürlich habe ich das nicht gemacht.
8. Körperliche Drohungen/psychischer Druck
Es ist wahr, dass Ferenc mich mehrere Male bedroht und auch geohrfeigt hat. Er setzte mich unter Druck, damit ich mehr Geld verdiene. Niki hat mich nie geschlagen oder offen bedroht, aber es ist vorgekommen, dass sie mich laut beschimpfte. Als sie mit mir schimpfte, war es wegen des Geldes, das ich ihr geben musste. Es ist auch vorgekommen, dass Niki die Drohungen ihres Bruders gegen mich wiederholte, z.B. dass er mir alle Zähne einschlage.
9. Finanzieller Druck
Es existiert kein schriftlicher Vertrag mit Ferenc, aber in der Praxis musste ich ihm von dem Moment an, als ich mich prostituierte, Geld überweisen. Ich konnte nicht aus eigener Initiative damit aufhören, nur er hätte mich „entlassen“ können. Ferenc beklagte sich immer, dass ich ihm nicht das einbrächte, was er sich von mir erhofft hatte.
Als ich ins Lokal O. wechselte, war ich ohne Geld. Meinen Verdienst hatte ich für meinen Unterhalt und die Überweisungen an Ferenc ausgegeben. Ich hatte beschlossen, die Beziehung zu Ferenc abzubrechen, um etwas Geld zu sparen und die Schweiz verlassen zu können.
10. Gesundheitliche Risiken
Ich muss sagen, dass ich in diesen Monaten in Stress und Angst gelebt habe. Ich war dieses Lebens müde. Ich war nicht dafür gemacht. Ich konnte meine Heimkehr kaum noch erwarten. Ich hätte mir nie vorstellen können, was mich wirklich erwartete, bevor ich aus Ungarn abgereist bin.
11. Freiwillige Abhängigkeit — abhängige Freiwilligkeit
Ferenc hat mir ganz klar gesagt, dass er entscheide, ob und wann ich mit der Prostitution aufhören könne. Insbesondere ist es mehrmals vorgekommen, dass er mir offen gedroht hat, sich an meiner Familie zu rächen, wenn ich ihm nicht genug Geld ablieferte oder wenn ich ihm zu verstehen gab, dass ich aufhören wollte. Niki sagte mir, dass ich mich anstrengen sollte. Je mehr ich arbeiten würde, umso mehr würde ich auch verdienen.
Nach ein paar Tagen, als ich im O. war, wurde mir bewusst, dass es unmöglich war, mich von Ferenc abzusetzen, ohne Konsequenzen für mich oder meine Familie in Kauf zu nehmen. So hatte er seit meiner Abreise aus Ungarn einige meiner Dokumente als Garantie zurückbehalten, also meine Identitätskarte und meinen Fahrausweis. Zudem kennt er die Adresse meiner Familie. Darum nahm ich über seine Telefonnummer in Ungarn Kontakt mit ihm auf und informierte ihn, dass ich ins O. gewechselt habe. Er sagte mir, dass er das schon wisse, und dass, wenn ich mich nicht gemeldet hätte, er mich suchen gekommen wäre, oder sich an meiner Familie gerächt hätte. Sicher hätte ich, wenn ich nicht von Ferenc abhängig gewesen wäre, viel mehr verdient und hätte mehr sparen und das Geld meiner Familie schicken können. Praktisch war mein Verhältnis zu Ferenc wie das einer Sklavin zu ihrem Besitzer.
12. Zusammenfassung
Obwohl die 19-jährige Ungarin auf „selbständiger“ Basis als Prostituierte arbeitete und z.B. das Lokal wechseln konnte, wenn sie ihren Zuhälter davon unterrichtetewar sie doch einem starken Druck und einschneidender Kontrolle ausgesetzt, vornehmlich durch die Schwester des Zuhälters, die ständig in Lugano anwesend war und sich im Milieu auskannte. Für das Einkassieren des Geldes reichte es, die junge Frau telefonisch oder über die Schwester verbal unter Druck zu setzen. Die physische Präsenz des Zuhälters/Frauenhändlers war nicht unbedingt erforderlich. Das Druckmittel „Familie“ wirkte denn auch hier, da ihre Eltern nicht über ihre Tätigkeit als Prostituierte unterrichtet waren und sie Vergeltungsakte befürchten musste. Ebenso waren ihre Dokumente durch den Zuhälter zurückbehalten worden, was ihre Bewegungsfreiheit einschränkte. Neben diesen direkten Profiteuren müssen aber auch die indirekten gesehen werden, welche mit der Vermietung von Hotelzimmern an Prostituierte in Lugano beträchtliche Summen einnehmen (zwischen 80 und 135 Franken pro Tag oder 840 Franken wöchentlich in der Diskothek mit Hotelbetrieb, 2000 Franken pro Monat in Zimmern der Bar), und den Frauen Arbeitszeiten, Kleidungsvorschriften etc. vorgeben, wie wenn es sich um regelrechte Arbeitsverhältnisse handeln würde. Die Lokalbesitzer und Betreiber sind über die Aktivitäten ihrer Gäste informiert und daran interessiert. Unter diesen Umständen brauchen sie sich keine Sorgen über den Tourismusrückgang im Tessin zu machen.
Der finanzielle Gewinn und der Verdienst der Ungarin fällt auch deshalb eher gering aus, weil sie nach nur vier Monaten von der Polizei aufgegriffen wurde und bei dieser Gelegenheit ihre Zuhälter denunziert hat. Diese Bereitschaft steht im Zusammenhang mit ihrem Alter und ihrer Unerfahrenheit. Der Prozess hat im Tessin einigen Wirbel ausgelöst, auch wenn der Hauptverdächtige dem Prozess fern blieb, was wiederum Konsequenzen für sie und ihre Familie in Ungarn haben könnte. In ihrer ausweglosen Situation erhoffte sie sich durch den Prozess vermutlich die Verhaftung und Bestrafung und somit das Unschädlichmachen der Täter, was auch die ermittelnde Polizeibehörde und der zuständige Staatsanwalt des Kantons Tessin bestätigten. Der Polizeisprecher in Lugano erklärte, es handle es sich bei Andras um einen ungarischen Zuhälter, der vor allem in Ungarn, aber auch in Italien, Deutschland und der Schweiz Frauen ins Prostitutionsgewerbe vermittelt und von den Zahlungen lebt, die er von Mittelsleuten einkassieren lässt. So muss er diese Länder nur ab und zu bereisen und kann sich so der westeuropäischen Strafverfolgung entziehen. Tötungsdelikte in Fällen von Frauenhandel, Prostitution und organisierter Kriminalität in Ungarn sind bekannt (Juchler 2001), Lenas Angst vor Andras und Ferenc scheint durchaus berechtigt. Erst nachträglich stellte sich heraus, dass Ferenc in Deutschland wegen ähnlicher Delikte bereits verurteilt wurde. Über das weitere Schicksal von Lena, Ferenc und Andras ist nicht bekannt. Anmerkungen
387 Vgl. Juchler, Jakob (1992): Ende des Sozialismus — Triumph des Kapitalismus? Eine vergleichende Studie moderner Gesellschaftssysteme.
388 Juchler, Jakob (2001): Zum Kontext der postsozialistischen Länder. 389 Daten der Weltbank, Schätzung der Bevölkerung mit einem (kaufkraftbereinigten) Einkommen unter 4 $ pro Tag. 390 Juchler, Jakob (2000): „In Dollars umgerechnet ergaben sich 1999 selbst für ostmitteleuropäische Länder nur Werte im Bereich von gut 250 bis knapp 400 US$. Nur Slowenien erreichte mit 940 US$ einen deutlich höheren Wert. Die baltischen Länder rangierten zwischen 230 und 300 US$, während Rumänien und Bulgarien mit 110 bzw. 120 US$ schon deutlich zurücklagen, allerdings vor Russland mit seinen nur gut 60 US$“ (Business Central Europe, The Annual 2000, S. 57). 391 Daten der Weltbank, Schätzung der Bevölkerung mit einem (kaufkraftbereinigten) Einkommen unter 4 $ pro Tag.
392 Milanovic, Branko (1998): Income Inequality and Poverty during the Transition from Planned to Market Economy.
393 Andere Schätzungen gaben tiefere Raten von 12 bis 14% an.
394 SPP (Studies in Public Policy) (1994ff.) New Democracies Barometer, Centre for the Study of Public Policy, University of Strathelyde, Glasgow.
395 Morokvasic, M. and Rudolph, H. (eds) (1993): Bridging States and Markets. International Migration in the Early 1990s.
396 Aufgrund der Freizügigkeit im EU-Raum dürften sich die Migrationsmuster auch in Westeuropa entsprechend ändern.
397 Dazu Juchler, Jakob (2001) Zum Kontext der postsozialistischen Länder. 398 Women in Transition. Regional Monitoring Report No. 6, unicef 1999.
399 IOM, Res. Rep., July 1998, Information Camp. against Trafficking in Women from Ukraine.
400 Umfrage der OBOB, 1998, zitiert nach Juchler, Jakob (2001).
401 Faktisch dürfte der Anteil noch höher sein, da die Anwerbemethoden vielfältiger und trickreicher geworden sind als die in der Umfrage genannten Arbeitsangebote. So werden z.B. Auch Junge Männer eingesetzt, die Mädchen als „Freundinnen“ gewinnen und sie dann unter Druck setzen; die Anwerbung geschieht meist erst im Westen, wenn die Mädchen dort etwa als Au-Pair arbeiten oder studieren (vgl. Budapest Sun vom 4. April 2000; Human Rights Commission, 1996).
402 vgl. IOM News Release, 12.11.1999, No. 842, Trafficking in Migrants, 1999, No. 20. 403 Budapest Sun vom 4.4.2000.
404 Caldwell, Gillian et al. (1999): Capitalizing on transition Economies: The Role ofthe Russian Mafiya in Trafficking Women for Forced Prostitution, in: Transnational Organized Crime No. 2/4. 405 Eine 21-jährige Tänzerin, die gerade ihre Koffer für eine Arbeitsstelle in der Schweiz packte, meinte: „In Russland gibt es auch sexuelle Ausbeutung am Arbeitsplatz, und zwar ohne Schutz durch das Gesetz für die Mädchen. Im Ausland werde ich wenigstens mehr Geld dafür verdienen.“ Fast 70% gaben auch an, sie würden wegen des besseren Verdiensts Arbeit im Ausland suchen (Caldwell et al. 1999). 406 GUS (1999); Rocznik Statystyczny, GUS, Warzawa, S. 105ff, zit. nach Juchler, Jakob (2001).
407 Foundation of Women’s Forum/Stiftelsen Kvinnoforum (1998): Trafficking in Women for the Purpose of Sexual Exploitation — Mapping the Situation and Existing Organisations Working in Belarus, Russia and Nordic States; Caldwell, Gillian et al. (1999): Capitalizing on Transition Economies: The Role of the Russian Mafia in Trafficking Women for Forced Prostitution.
408 Juchler, Jakob (2001) übersetzt aus Polityka, 5/2000, S. 4f.
409 Vgl. Commission on Human Rights, 1996, 48.
410 Russia Today vom 15. Juli 1999, zit. nach Juchler, Jakob (2001).
411 Interviews mit Behördenvertretern in Tirana, Albanien, Sommer 2001; Gala Avakiants: Meetings, Talks, Materials: Mission to St. Petersburg. Winter 2000, unveröffentlichtes Manuskript; Michal Arend: Materialien zur CR.
412 Russia Today vom 15. Juli 1999, zit. Nach Juchler, Jakob (2001).
413 Foundation of Womens Forum/Stiftelsen Kvinnoforum, 1998.
414 Bundesamt für Polizeiwesen (BAP): Lagebericht 1999, Szene Schweiz.
415 „Den Hauptzweig dürften aber nach wie vor die Formen mit fixen Standorten sein, wie Massagesalons, Klubs, Hotels, Begleitserviceagenturen usw. Dass auch Gelegenheitsprostitution recht häufig vorkommt, illustriert ein Ergebnis aus einer Umfrage von Warschauer Studentinnen, bei der jede sechste angab, gelegentlich für Geld sexuelle Beziehungen zu haben, vgl. Commission on Human Rights, 1996, S. 51.
416 Polityka 22/2000, zit. nach Juchler, Jakob (2001).
417 TOM. Trafficking of women to EU: characteristics, trends and policy issues. Paper presented at the EU Conference on Trafficking in Women, Wien, 10.-11. Juni 1996.
418 Persönliche Mitteilung von Eglantina Gjermeni, Leiterin „Quendra e Gruas“ (Women Centre) in Tirana, Albanien, August 2001; IOM Mission in Albania, Research Report on Trafficking Victims in Albania, Tirana, 2000; OSCE presence in Albania, Anti-trafficking Activities in Albania, Tirana 2001.
419 Mit dem Krieg in Jugoslawien wurde es einem breiten Teil der Bevölkerung in Westeuropa bewusst, dass die Vergewaltigung von Frauen durch Soldaten und nicht uniformierte Männer als Teil der Kriegsführung massiv praktiziert wurde. 420 Sergueva, Vessela (2000): Bulgaria declares War on classified Ads seeking Prostitutes, Agence France Press vom 17. März 2000, zit. Nach Juchler, Jakob (2001).
421 Zalisko, Walter (1999): Russian Organized Crime. Trafficking in Women and Governements Response. New York; Rog, Jelena (1999): Sensationspresse statt Aufklärung, Referat.
422 Im amerikanischen Bundesstaat New Jersey gaben 1999 fast drei Viertel von 300 befragten Prostituierten aus Russland, der Ukraine und Weißrussland an, dass sie wegen anderer Jobs hierher gekommen seien; tätig waren sie vor allem in Go-Go-Girl-Bars, Massagesalons und Begleitservice-Agenturen (Juchler, 2000). In einer niederländischen Studie gaben schon 1994 27 von 44 Frauen an, die aus verschiedenen osteuropäischen Ländern von „Frauenhändlern“
transferiert worden waren und bei einer Hilfsorganisation Unterstützung gesucht hatten, sie hätten vom Reisezweck nichts gewusst (Commission on Human Rights, 1996: 47). Die Ergebnisse einer weiteren Studie aus den Niederlanden von 1995/96 zeigten ähnliche Resultate. Bei 250 von Frauenhandel betroffenen Prostituierten waren 177 Fälle durch Zwangsmethodeneruiert worden (Caldwell et al., 1999).
423 Dass ein ansehnlicher Teil der vom Frauenhandel betroffenen Frauen professionell oder gelegentlich schon in ihrem eigenen Land als Prostituierte tätig gewesen waren, dürfte ein genereller Trend sein, vor allem in osteuropäischen Ländern. In der bereits angeführten Studie aus Estland gaben z.B. auch 55% der befragten Prostituierten an, sie wollten ihre Tätigkeit im Ausland fortsetzen, vor allem in Schweden und Deutschland.
424 Beispielhaft ist hier folgender Fall: Während die CIA einen Bericht verfasste, in dem auf einen florierenden Frauenhandel in Tschechien aufmerksam gemacht wurde, dementierte dies die tschechische Polizei: sie hätte hierfür keine Anhaltspunkte, vgl. Carolina-Charles University, 20. April 2000.
425 Avakiants, Gala (2000): Mission to St. Petersburg; Arend, Michal (2000): Materialien aus der CR; Zschokke, Rahel (2002): Prevent Trafficking in Women in Albania.
426 Unterlagen zu diesem Kapitel (4.3.4) wurden aus Recherchen vor Ort (1999/2000) von Michal Arend, Dr. phil. I, Soziologe, Zürich, zur Verfügung gestellt.
427 Interview von Michal Arend mit A. Slamova, IOM Office, Prag, am 25.3.1999.
428 Interview von Michal Arend mit D. Francikova, S. Tielbachova und J. Bartunkova, La Strada, Prag, am 25.3.1999.
429 Arend, Michal (2000): Eine Materialsammlung. Darin ist auszugsweise ein Bericht des tschechischen Innenministeriums zur organisierten Kriminalität in der CR vom Jan. 1999 zuhanden der Tschechischen Regierung enthalten und stellenweise übersetzt.
430 Butterweck, B. (1996), S. 39f.
431 Interview von Michal Arend mit A. Slamova, Head Office IOM Prague vom 25.3.1999.
432 Vgl. Artikel aus Lidove Noviny vom 20.3.1999.
433 TOM Head Office, Prag. Stand 1994.
434 Bericht des Tschechischen Innenministeriums zuhanden der Tschechischen Regierung, zit. nach Arend, Michal (2000).
435 Laut Bericht des tschechischen Innenministeriums zur organisierten Kriminalität in der CR vom Januar 1999, das Michal Arend auszugsweise zur Verfügung stand und von ihm stellenweise übersetzt wurde, betrifft dies die Organisation von Semjon Mogilevic, die Gruppe von Djamal Mschiladze, die Gruppe von Samil Negomedov und die Gruppe Hermes und I.FSK, in Arend, Michal (2000): Eine Materialsammlung.
436 Ihre Aussagen sind aufgrund der Tonband-Transskription wiedergegeben, in Kategorien geordnet, gekürzt und sprachlich angepasst. Das Gespräch führte die Autorin am 4. Mai 2000 in der Wohnung von Yulia auf Deutsch. Es handelt sich um ein offenes Interview, bei dem die Autorin die Themen vorgab, den Redefluss der Gesprächspartnerin aber so wenig wie möglich beeinflusste. Manchmal hakte die Autorin bei Unklarheiten nach. Die Darstellung des
Gesprächs verzichtet auf die Wiedergabe der einleitenden Thematisierung zugunsten der später gebildeten Kategorien, die die unmittelbare Vergleichbarkeit der Äußerungen von weiteren Prostitutionsmigrantinnen weiter unten in diesem Kapitel (4.4.2) ermöglichen.
437 Dazu etwa Roper, L., (1991): „Wille“ und „Ehre“: Sexualität, Sprache und Macht in Augsburger Kriminalprozessen, in: Wunder, H. und Vanja, C., (Hg.): Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit.
438 Der Fall ist dargestellt bei Josef Estermann: Organisierte Kriminalität in der Schweiz, S. 179-181.
439 Die Zitate beschränken sich auf die parallele Wiedergabe der Aussagen von Elzbieta und Marie zu den entsprechenden, von der Autorin ausgearbeiteten Kategorien. Zugunsten der Lesbarkeit sind die Fragen weggelassen und die Zitate teilweise gekürzt. Wiederholungen wurden so weit als möglich beibehalten, um das Insistieren der Befrager deutlich zu erhalten. ‚Wo Aussagen nur als Antworten auf die entsprechende Frage verständlich sind, wurden sie in die Darstellung miteinbezogen.
440 Der „Chef“ ist Goran, Vgl. Kap. 5.5.1.
441 Gesundheitliche Risiken werden oft weder von Befragern noch von Befragten als solche wahrgenommen.