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Karl-Ludwig Kunz
Zu den Problemen der Wirksamkeitserwartung von Recht
Zusammenfassung
Versteht man das Recht als ein Teilsystem der Gesellschaft, so ist damit impliziert, dass es zwischen Teil und Ganzem Interaktionen gibt. Weder zwingend noch plausibel erscheint hingegen die Erwartung, dass diese Interaktionen einzig in einer einseitigen Funktionalität des Teils für das Ganze bestehen. Jene Annahme konnte nur in einem spezifisch „modernen“ sozialtechnologischen Verständnis des Rechts Bedeutung gewinnen. Die Entdeckung der Zweckhaftigkeit des Rechts, also seiner gesellschaftlichen Folgenorientierung, hat zu dem Missverständnis geführt, das Recht erschöpfe sich in seiner gesellschaftlichen Funktionalität. Dieses Missverständnis unterstellt eine rein instrumentelle Wirkung und verkennt dabei die nicht unmittelbar folgenorientierte symbolisch-kommunikative Bedeutung des Rechts. Aus der relativen Autonomie des Teilsystems gegenüber dem Ganzen folgt zudem, dass das Recht sich auch anders als durch gesellschaftliche Funktionalität bestimmt und sich teilweise sogar „autistisch“ gegen gesellschaftliche Wirkungserwartungen abschottet.1
The expectancy of efficacy of law challenged
Summary
The understanding of law as a subsystem of society implies the existence of interactions between the part and the whole. Expecting these interactions to be only singly-directed (from the part to the whole), it appears, however, to be neither compelling nor plausible. This presumption could only emerge in the context of a specific “modern” socio-technological understanding of law. The discovery of the utilitarian orientation of the law with regard to the society, led to the misconception of law as only a socio-functional instrument. This view postulates a purely instrumental effect of law and thereby underestimates its non-result-oriented symbolic-communicative aspects. In contrast, according to the relative autonomy-thesis, which conceives law as partially autonomous from the system of society, it follows that law functions differently than in terms of social functionality. Law may even isolate itself against expectations of social utility in an “autistic” manner.
1. Recht als Triebkraft für gesellschaftliche Entwicklungen?
Wenn man sagt, Recht wirke, setzt man dieses zur Gesellschaft in Bezug und nimmt einen empirisch belegbaren Einfluss des ersteren auf die letztere an. Gewöhnlich wird der beeinflussende Bezug als eine einseitige Kausalbeziehung verstanden, der zu Folge das Recht bestimmte gesellschaftliche Prozesse ursächlich auslöst. Die weite Verbreitung dieses Verständnisses ist Ausdruck der Definitionsmacht des an der möglichst großen gesellschaftlichen Bedeutung des Rechts interessierten Juristenstandes. Wissenschaftlich belegbar ist die Urheberfunktion des Rechts für soziale Prozesse nicht.
Aus der Möglichkeit, die Entwicklung des Rechts mit dem Verlauf des sozialen Wandels in Bezug zu setzen, folgt nicht, dass eine bestimmte Rechtspraxis bestimmte soziale Verhältnisse kausal hervorgebracht hat. Es könnte auch umgekehrt gewesen sein. Schon David Hume hat erkannt, dass Kausalität sich nicht beobachten, sondern immer nur interpretierend an reale Vorgänge herantragen lässt2.
Zwar werden Rechtsregeln mitunter dazu verwandt, eine noch nicht gefestigte Sozialmoral zu bestärken oder gar zu initiieren. Mit dieser Intention werden etwa Verbote umweltgefährdenden Verhaltens ins Kernstrafrecht statt ins Nebenstrafrecht gestellt, um durch größere Eindrücklichkeit intensivere Appelle zur Verhaltensänderung zu senden3. Ob solche Appelle tatsächlich Verhaltensänderungen auslösen, ist jedoch zweifelhaft. Plausibler erscheint, dass sie bloß einen bereits vollzogenen Bewusstseinswandel symbolisch unterstreichen. Auch die liberal inspirierten Reformen des Sexualstrafrechts der siebziger Jahre haben durch entsprechende Straffreistellungen einen Wandel der gesellschaftlichen Einstellung zur Homosexualität nicht bewirkt, sondern begleitet.
Mit der Ablehnung eines direkten kausalen Einflusses des Rechts auf die Gesellschaft entfernt man sich von einer höchst einflussreichen Tradition, die vom englischen Utilitarismus maßgeblich beeinflusst wurde und die sich im 19. Jahrhundert in der deutschsprachigen Rechtswissenschaft mit der Ablösung der durch die historische Rechtsschule geprägten Begriffsjurisprudenz durch die soziologisch inspirierte Interessenjurisprudenz durchsetzte. Aus der Beobachtung, dass gesellschaftliche und vor allem wirtschaftliche Beziehungen von Interessen bestimmt werden, wurde ein Bedarf zum Schutz und Ausgleich dieser Interessen abgeleitet, dem das Recht nachzukommen habe. Dem Recht wurde damit eine soziale Funktionalität im Sinne einer Ordnungsaufgabe zugeschrieben. Seither wurde das Recht der Maxime der sozialen Nützlichkeit unterstellt, die Zweckhaftigkeit des Rechts als dessen Wesensmerkmal verstanden4 und die Effizienz des Rechts zur Beeinflussung gesellschaftlicher Befindlichkeiten als dessen Qualitätsmaßstab genommen. Es galt darum, juristische Entscheide mit Blick auf ihre zu erwartenden gesellschaftlichen Folgen zu treffen. Die gebotene Folgenorientierung verlangte nach empirischer Prüfung, ob die erwartbaren Wirkungen eingetreten und unerwünschte Nebeneffekte ausgeblieben waren. Dabei stand nicht die Erfüllung der subjektiven gesetzgeberischen „Absichten“ in Frage: Die „Ziele“ einer Gesetzgebung sind typischerweise kompromissbedingt uneindeutig, mehrfach, oft ambivalent und deshalb kaum zuverlässig überprüfbar. Statt dessen ging es um die objektiv – und zumeist stillschweigend – im Gesetz angelegten Funktionen oder Wirkungsvoraussetzungen, also etwa die Präventivwirkung, welche der angenommenen gesellschaftlichen Gestaltungskraft strafrechtlicher Sanktionen entspricht. Dies war die Legitimation für die Etablierung der Rechtssoziologie als eigenständige Disziplin. Ihr fiel danach als empirischer Prüfinstanz eine Art Service-Funktion für die Rechtspraxis zu, indem sie die Wirksamkeit des Rechts als gesellschaftliches Steuerungsmittel auszuloten, Steuerungsdefizite zu lokalisieren und so zur Optimierung der Effizienz des Rechts beizutragen hatte5.
Dieses Konzept wird gegen Ende des 20. Jahrhunderts in Frage gestellt. Nun erscheint zweifelhaft, ob das rechtssoziologische Tatsachenmaterial als Grundlage juristischer Entscheidungen taugt. Sogar die Annahme, dass es überhaupt einen gesicherten objektiven empirischen Wissensbestand gäbe, an dem sich die Wirksamkeit des Rechts bemessen lasse, wird in Zweifel gezogen6. Jedes politische Interesse findet durch selbst gewählte rechtssoziologische Experten Bestätigung, wodurch das Expertentum an Prestige verliert. Die Rechtspraxis nimmt unter Entscheidungszwang keine Rücksicht darauf, ob hinlängliches empirisches Wissen vorhanden oder auch nur erreichbar ist. Oft werden empirische Befunde nicht zur Kenntnis genommen oder als unverbindliche Vorinformationen eingestuft. Die Rechtsdogmatik immunisiert sich zunehmend gegen eine empirische Überprüfung, indem sie prinzipiell empirisch prüfbare Beurteilungsmaßstäbe durch Entscheidungskriterien ersetzt, deren Abstraktheit und Komplexität sich einer empirischen Kontrolle entzieht7.
Die soziologisch-funktionale Betrachtung des Rechts hat darum deutlich an Einfluss verloren. Heute erscheint ein für die Gesellschaft funktionales Rechtsverständnis schon fast als realitätsferne ordnungspolitische Wunschvorstellung.
2. Recht als abhängige Determinante gesellschaftlicher Entwicklungen?
Verbreitet wird deshalb eine umgekehrte Wirkungsrichtung dergestalt angenommen, dass die Gesellschaft auf das Recht einwirke. Das Recht bahnt demzufolge gesellschaftlichen Veränderungen nicht den Weg, sondern läuft ihnen hinterher. Recht gilt nicht als moralisches Agens, sondern als ein Folgephänomen bestehender sozialmoralischer Vorstellungen, das diese flankierend stützt und stabilisiert. Jene Annahme erscheint normlogisch plausibel, besteht die Besonderheit von Rechtsnormen im Gegensatz zu Moralnormen typischerweise in ihrer mit Zwangsandrohung verbundenen Verbindlichkeit: Damit eine Verhaltenserwartung mit Rechtszwang als allgemein verbindlich ausgewiesen werden kann, muss sie zuvor eine gewisse gesellschaftliche Akzeptanz und Beständigkeit erreicht haben. Diese Annahme wird auch vom Marxismus geteilt, der das Recht als ein vom kapitalistischen gesellschaftlichen Unterbau abhängiges Überbauphänomen ansieht.
Indessen ist die Vorstellung des Rechts als eine von der Gesellschaft abhängige Determinante gleichermaßen fragwürdig wie die umgekehrte Annahme, das Recht sei Antriebskraft für gesellschaftliche Entwicklungen. Hier wie dort wird eine empirisch nicht belegbare Kausalbeziehung unterstellt. Bei beiden Annahmen werden die Transferleistungen zwischen Recht und Gesellschaft überschätzt und die Sperrigkeit der Rechtsform, die eine direkte Umsetzung gesellschaftlicher Prozesse in Recht behindert, verkannt. Beide Annahmen unterstellen eine objektiv vorhandene und empirisch belegbare Funktionalität des Rechts für die Gesellschaft oder umgekehrt. Sie formulieren keine empirisch überprüfbare Hypothese, sondern eine implizite Prämisse, auf deren Basis empirische Wirksamkeitsüberprüfungen erst möglich werden.
Schließlich entstammen beide Vorstellungen dem sozialtechnologischen Gesellschaftsmodell der Moderne. Der Streit um die Funktionalität des Rechts für die Gesellschaft oder seine Determiniertheit durch diese ist keine zeit- und gesellschaftsunabhängige Konstante, sondern entspricht dem Weltbild der Moderne und verliert mit dessen Ablösung durch die Spätmoderne an Einfluss. Charakteristisch für die Spätmoderne ist, dass das gesellschaftliche Gesamtsystem seiner Regulierungsaufgabe gegenüber seinen Teilsystemen nicht mehr genügend nachkommen zu können scheint und infolgedessen die Teilsysteme zunehmend autark werden: So entfremdet sich das Recht zunehmend von der Gesellschaft und entwickelt ihr gegenüber und anderen gesellschaftlichen Subsystemen gegenüber ein Eigenleben.
3. Recht als relativ autonomes Teilsystem der Gesellschaft
Niklas Luhmann hat als zeitgemäße Bestimmung des Verhältnisses von Gesellschaft und Recht bekanntlich das Modell eines umfassenden Gesellschaftssystems vorgeschlagen, welches das Recht als relativ autonomes8 Teilsystem in sich birgt. Die relative Autonomie ergibt sich daraus, dass das Teilsystem sich im Netzwerk eigener Operationen selbst „autopoietisch“ reproduziert9. Das Recht bezieht seine Eigenart daraus, dass es sich jeweils beurteilend auf ein spezifisches gesellschaftliches Problem ausrichtet und dieses „binär codiert durch einen Schematismus, der einen positiven Wert (Recht) und einen negativen Wert (Unrecht) vorsieht“.10 Bei der Beurteilung der gesellschaftlichen Referenz nach dem Schema Recht / Unrecht orientiert sich das Recht allein an bislang getroffenen rechtlichen Entscheidungen. Das Rechtssystem ist operativ in sich geschlossen, insofern es in seinen Operationen auf getätigte rechtliche Operationen rekursiv Bezug nimmt.11 Diese Geschlossenheit darf nicht mit Abgeschlossenheit verwechselt werden.12 Das Teilsystem Recht kommuniziert mit der ihm fremden gesellschaftsinternen Umwelt und benutzt dabei Sprache, die immer rechtsexterne Anschlussmöglichkeiten voraussetzt.13 Freilich bleibt die rechtsexterne Auseinandersetzung mit rechtlichen Operationen, also insbesondere die gesellschaftspolitische Kritik des Rechts und seiner Agenten, für das Recht letztlich folgenlos: Eine beobachtende Person mag nach eigenen Kriterien und Präferenzen Bezüge zwischen dem Recht und seiner Umwelt herstellen, etwa indem sie eine bevorzugte Behandlung von Angehörigen der Oberschicht im Recht feststellt.14 Das Recht kann sich mit dieser Beobachtung auseinander setzen und mag auf Grund dessen seine Praxis ändern. Indessen kann nur das Recht selbst sagen, was Recht ist.15 Beziehungen zur Umwelt kann das Rechtssystem nur im Vollzug eigener Operationen herstellen. Wenn externe Umstände rechtlich zur Kenntnis genommen und Wissen auf die Umwelt bezogen wird, werden keine Informationen von der Umwelt auf das Rechtssystem übertragen, vielmehr besteht die Information darin, dass das Rechtssystem infolge des Umweltimpulses mit eigenen Bordmitteln seinen Zustand ändert.16
Die von Luhmann vermittelte Einsicht in die relative Autonomie des Rechts gegenüber der Gesellschaft steht einer direkten funktionalen Bezugsetzung von Recht und Gesellschaft im Wege: Das Recht ist nicht schlicht gesellschaftsbezogen, sondern in erster Linie selbstbezüglich. Rechtsdiskurse drehen sich um juristische Streitpunkte und nehmen Realkonflikte nur noch in juristisch aufbereiteter Form wahr. In einem prozeduralen Rollenspiel wird der Konflikt nach juristischen Regeln kategorisiert und entschieden. Juristen denken nicht wie Philosophen und reden schon gar nicht wie Bauern, wie Rudolf von Jhering ihnen empfahl. Dogmatische Bindung und Entscheidungszwang behindern ein „freies“ philosophisches Räsonnement, die Rechtsförmlichkeit des Prozedierens steht einer für Laien verständlichen Sprache im Wege. Ist ein sozialer Konflikt erst einmal in eine rechtliche Entscheidungsprozedur eingespeist, dann ist er der Gestaltungsmacht der unmittelbar Konfliktbeteiligten entzogen. Die Übersetzung eines Realkonflikts in einen Rechtsfall enteignet diesen den unmittelbar Konfliktbeteiligten und grenzt sie aus der Konfliktbewältigung aus17. Die „restorative“18 Rückübersetzung eines Rechtskonflikts in einen Realkonflikt gelingt nur selten.19 Recht entfremdet sich von den Bürgern. Das Problem seiner Bürgerferne ist eine notwendige Konsequenz seiner relativen Autonomie.
In spätmodernen „polyzentristischen“ Gesellschaften büßt das Recht in mehrerer Hinsicht deutlich an Steuerungsfähigkeit ein. Die einzelnen gesellschaftlichen Teilsysteme entwickeln sich unkoordiniert und produzieren dabei einen Überschuss an Autonomie, der ihrer Funktion zur Stabilisierung des Gesellschaftssystems nicht dienlich ist. Zunehmend wird es deshalb schwieriger, mit den „klassischen“ rechtlichen Regelungsmustern in andere soziale Subsysteme hineinzuwirken.20 Verantwortungszuweisungen etwa durch Zurechnung individuellen Verschuldens verlieren in hochdifferenziert vernetzten Sozialbeziehungen an Legitimation und damit an Bedeutung. Die „großen“ sozialen Risiken beruhen auf Akkumulationseffekten und lassen sich kaum mehr sinnvoll einzelnen Akteuren zuordnen. Das Risikomanagement installiert ein Versicherungssystem, welches eintretende Schäden zu Lasten der Allgemeinheit ausgleicht und so „pulverisiert“. Daraus resultieren für das Recht Steuerungsprobleme, die sich nicht mehr mit den klassischen Mitteln des Rechtszwanges bewältigen lassen. Das Recht reagiert darauf mit der Flexibilisierung seiner Formen, mit der Ausweitung des Entscheidungsermessens von Rechtsanwendern, mit der Diversion staatlicher Entscheidungsprozeduren in nicht staatlich gelenkte Schlichtungsverfahren, mit der Ablösung repressiv-hoheitlicher Intervention und hierarchischer Entscheidungswege durch kooperative Gestaltungsspielräume zur Selbstregulierung. Zudem verliert das „klassische“ nationalstaatliche Recht gerade in dem für die Spätmoderne zentralen Bereich der globalen Wirtschaft an Gestaltungsraum. Multinationale Konzerne regeln ihre Angelegenheiten eigenständig über staatliche Rechtsordnungen und förmliches internationales Recht hinweg. Die Normproduktion in solchen Kontexten führt zu einer Vielzahl von faktischen Rechtsräumen, die jenseits einer staatlichen oder staatengemeinschaftlichen Regulierung Verbindlichkeit beanspruchen.21 Durch all dies schrumpft die formalisierte, mit Rechtszwang verbundene Regelungsmaterie, die sich in ihrem gesellschaftlichen Funktionalitätsanspruch zur rechtssoziologischen Wirksamkeitsüberprüfung eignen würde. Zudem bewirkt diese Entwicklung einen sozialen Bedeutungsverlust der mit Zwang verbundenen Rechtsform.
Hinzu kommt, dass das spätmoderne Recht selbst dort, wo es noch mit formalisiertem Rechtszwang operiert, seine Effizienzkriterien zunehmend vage und teilweise ambivalent ausdrückt. Eine klare Wirksamkeitsbeurteilung scheitert, weil die vom Recht verfolgten Zwecke austauschbar werden: Führt ein Straftatbestand zu praktisch keinen Verurteilungen, so lässt sich bereits die Abschreckungswirkung der rufschädlichen öffentlichen Durchsuchung und vorläufigen Sicherstellung von Vermögenswerten als Erfolgsbeleg für die Wirksamkeit der Norm ausgeben. Dem ursprünglich auf die „Achillesferse des organisierten Verbrechens“ zielenden Straftatbestand der Geldwäscherei (Art. 305bis schweizerisches StGB) lässt sich, nachdem er sich dazu als ungeeignet erwiesen hat, die neue Wirkungsrichtung der Abschöpfung von „Potentatengeldern“ unterschieben.22
4. Wie damit umgehen?
Die Frage lautet, wie die Rechtssoziologie mit solchen ihr traditionelles Betätigungsfeld der Erforschung der Wirkung von Recht anzweifelnden Überlegungen umgehen soll. Eine Vogel-Strauß-Strategie erscheint nicht von vornherein aussichtslos. Die angesprochenen Probleme könnten dahin verniedlicht werden, dass sie eher geeignet seien, Wirksamkeitserwartungen zu dämpfen als sie schlechthin zu diskreditieren. Die theoretische Auseinandersetzung mit zweifelhaften Ursache-Wirkungsvorstellungen dürfte die anwendungsbezogene Wirkungsforschung tatsächlich wenig und deren politische Auftraggeber schon gar nicht bekümmern. Das Interesse an den gesellschaftlichen Folgen von Rechtsentscheiden ist bei politischen Entscheidungsträgern zumindest verbal ungebrochen, weil diese ihre Arbeit gerne durch den Nachweis gesellschaftlicher Funktionalität bestätigt sehen.
Eine aufrichtigere und langfristig aussichtsreichere Strategie scheint mir nach einer vertieften Analyse der Querverbindungen der Krise der rechtssoziologischen Wirkungsforschung zu verlangen. Der Autoritätsverlust der Rechtssoziologie hängt mit verschiedenen Aspekten zusammen, welche das Bestreben nach sozialtechnologischer Funktionalität des Rechts aus heutiger Sicht zweifelhaft erscheinen lassen. Dem sozialtechnologischen Erkenntnisinteresse entspricht das wissenschaftstheoretische Modell des Erklärens, das heute in den Sozialwissenschaften unter dem Einfluss des „interpretativen Paradigmas“ von verstehenden Wirklichkeitszugängen Konkurrenz erfährt.23 Die methodenbedingte Begrenztheit und Beschränktheit des Modell des Erklärens24 ist bekannt und braucht hier nur angedeutet zu werden: Das Erklären erliegt dem „Mythos des Gegebenen“25, indem es die Möglichkeit der objektiven Erkenntnis der Sozialwelt ohne Teilnahme an der sozialen Praxis ihrer Sinngebung unterstellt. Aus einer der zu erklärenden Außenwelt vermeintlich entrückten Position wird, einer Zuschauervorstellung des Beobachtens26 folgend, die objektive Erklärbarkeit der Zusammenhänge einer vorgegebenen oder zumindest im experimentellen Erfahrungstest sich bildenden Empirie angenommen.
Noch grundsätzlicher hängt die Krise der Wirkungsforschung mit dem Schwinden des aufklärerischen Rationalitätsverständnisses im Recht zusammen, welches das Recht auf Grund objektiver Befunde an zwingenden Maßstäben der Vernunft auszurichten bemüht war.27 Dieses Verständnis prägte die Entwicklung der Rechtssoziologie in Deutschland hin zu einer „Rechtstatsachenforschung“28 und drängte das Fach in eine Dienstleistungsfunktion gegenüber der staatlich gelenkten Rechtspolitik.29 Wirklichen Einfluss auf die Rechtspolitik erlangte das Fach so freilich kaum: Es fungierte eher als Magd denn als Inspiratorin der Politik. Den Weg zu einer Lösung der angesprochenen Probleme sehe ich in der Infragestellung dieses Selbstverständnisses der Rechtssoziologie als „Rechtstatsachenforschung“ und in der Suche nach einer kulturwissenschaftlichen Fundierung des Fachs jenseits unmittelbarer rechtspolitischer Funktionalität.30 Dies genauer zu begründen, wäre jedoch ein weiteres Thema.
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1Für eine kritische Lektüre danke ich Tobias Zürcher, MLaw.
2Hume 1984: 92 ff.
3Vgl. die Gesetzesvorschläge in Jenny / Kunz 1996.
4Vgl. von Liszt 1883; von Jhering 1970.
5Kunz / Mona 2006: 18.
6Mit Blick auf das empirische Wissen über Kriminalität: Kunz 2008b.
7So wird heute im Strafrecht an Stelle der Spezial- und der negativen Generalprävention die positive Generalprävention im Sinne der Integrationswirkung einer die Rechtstreue bestätigenden Entscheidung als maßgeblich erachtet.
8Luhmann 1993: 65.
9Luhmann 1993: 44.
10Luhmann 1993: 60.
11Luhmann 1993: 57.
12Luhmann 1993: 43.
13Luhmann 1993: 56.
14Luhmann 1993: 76.
15Luhmann 1993: 50.
16Luhmann 1993: 85.
17Vgl. Christie 1986: 131 ff.
18Bezugnehmend auf restorative justice vgl. etwa Domenig 2008.
19Vgl. etwa Walther 2000.
20Teubner 1984: 289 ff., 317 ff.
21Dies gilt auch in den Bereichen des Umweltschutzes, des organisierten Sportes und der technischen Standardisierung, vgl. Kunz/Mona 2006: 228.
22Vgl. Kunz 2002: 177; Estermann 2002.
23Dazu grundsätzlich Reckwitz 2000.
24von Wright 1974; für die Kriminologie: Kunz 2008a.
25Sellars 1997: 117, sect. 63: „The myth of the given“.
26„Spectator theory of knowledge“ (Dewey 1981-1990).
27Dazu genauer Kunz 2008b: 106 f.
28Nussbaum 1968.
29Dem entspricht ein Service-Modell, das auch für die übrigen rechtswissenschaftlichen Grundlagenfächer vertreten wird, dazu Kunz/Mona 2006: 17 ff.
30Was das bedeuten könnte, habe ich für die Kriminologie genauer ausgeführt, vgl. Kunz 2008b: 100 ff.
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