Interdisziplinäre Rechtsforschung Dolder Zitieren

Weiterlesen: Kampf ums Recht © ProLitteris, Fritz Dolder

Fritz Dolder und Mauro Buser

Zitieren geht über Studieren – Empirische Wanderungen im Grenzgebiet zwischen Rechtslehre und Rechtsprechung

Zusammenfassung

Anhand einer Stichprobe von Urteilsbegründungen des schweizerischen Bundesge­richts zum Obligationenrecht (Schuldrecht) über den Zeitraum von 1881 bis 2005 wurde die Arbeitshypothese untersucht, wonach Zitate der Rechtsliteratur in den Urteilsbegründungen der Rechtsprechung drei Funktionen erfüllen: eine informativ-kognitive, eine persuasiv-normative und eine sozial-zeremonielle. Bei der Untersu­chung der kommunikationssoziologischen Dimension wurde ein Wachstum der Zi­tatdichte in den Urteilsbegründungen um einen Faktor von knapp 24 gefunden. Die Ungleichheit der Verteilung der Zitate auf einzelne Autoren wurde anhand des Gini-Koeffizienten beurteilt und entspricht ungefähr derjenigen der Vermögensverteilung (0.6), nicht aber der Einkommensverteilung (0.3 bis 0.4) in entwickelten Gesell­schaften. Die gefundene Zitatdichte und die gefundenen Ungleichheiten bestätigen die Persuasionsfunktion unddie Zeremonialfunktion des Zitierens. Bei der Untersu­chung der rechtssoziologischen Dimension im engeren Sinne wurde eine überra­schend niedrige, über den gesamten Zeitraum praktisch konstante Ablehnungsquote (5 bis 7 %) der zitierten Rechtsliteratur gefunden. Dies verleiht der Rechtsliteratur ein quasi-gesetzliches normatives Gewicht und lässt die normative Funktion als wichtigste Funktion des Zitierens und des Zitats in diesem Kontext erscheinen. Die niedrige Ablehnungsquote entspricht dem Bild eines organisierten Konformismus, der das untersuchte Rechtssystem zu steuern scheint (im Kontrast zum organisierten Skeptizismus der empirischen Wissenschaften).

The function of citation of legal literature in judicial decisions

Summary

Based on a sample of decisions of the Swiss Federal Court on the law of contracts and the law of torts from 1881 to 2005, we studied the hypothesis that cita­tions of legal literature in court decisions perform basically three functions: inform­ative-cognitive, persuasive-normative, and ceremonial-social. Within the framework of so­cial communications, an increase of the quantity of citations by a factor of about 24 was found over the time period studied.

Inequalities of the distribution of citations on individual authors were judged, based on the Gini coefficient and were found to be similar to the distribution of wealth (0.6) but not of income (0.3 to 0.4) of develop­ed modern societies. The frequencies of citations and the inequalities found confirm the persuasive and the social-cere­monial function of citation. In the context of the socio-legal dimension of the investi­gation a surprisingly low rejection rate (5 to 7 %) of the literature cited re­mained practically constant over the entire time period studied.

This finding points to a quasi-statutory weight of the legal literature cited, and to the normative function being by far the most important function of citation in this con­text. The low ratio of rejection corresponds to a pattern of organised conformism which seems to steer the particular legal system investigated (as contrasted to orga­nised scepticism in empirical science).

1. Einführung

Ausgangspunkt und Arbeitshypothese der Untersuchung bilden die drei Funktionen des Zitierens wissenschaftlicher Aussagen, wie sie bereits in der Untersuchung der ersten vier Jahrzehnte der Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts for­muliert worden sind. Diese unterschiedlichen Funktionen beruhen auf den kogniti­ven, normativen und sozialen Dimensionen des Zitierens.

Informativ-kognitive Funktion: Der Leser wird durch ein Zitat darüber informiert, dass ein anderer eine kognitive Erkenntnis bereits früher gewonnen und eine entspre­chende Aussage gemacht und veröffentlicht hat. Diese Funktion hängt mit dem irre­versiblen Charakter des Erkenntnisvorganges zusammen: Es ist sinn- und nutzlos, bereits einmal gewonnene Erkenntnisse zu duplizieren, dagegen ist es angezeigt, dass der Zitierende die zeitliche Priorität der Aussage und der Arbeit des Zitierten anerkennt: Dem Zitieren kommt insoweit auch eine arbeitssparende Funktion zu. Das Zitieren richtet sich in diesem Kontext nach dem Motto: Wer zitiert, braucht nicht selbst zu denken, zu arbeiten oder Kreatives zu leisten.

Dies ist die vorherrschende Funktion des Zitierens in einem kognitiven Kontext, ins­besondere im Kontext der experimentellen Naturwissenschaften, der Medizin und der Technik, wo Wahrheit durch Beurteilen der Reproduzierbarkeit der Erkenntnis und durch Vergleich von Erkenntnis und Realität gebildet und beurteilt wird (Kor­respondenztheorie).

Persuasiv-normative Funktion: Der Leser wird darüber informiert, dass ein anderer eine normative Aussage veröffentlicht hat. Das Zitieren dieser früheren Aussage soll die Überzeugungskraft (Persuasion) der eigenen Aussage des Zitierenden bei den Adressaten erhöhen. Der Zitierte wird gleichsam als (intellektueller) Zeuge zur Bestätigung der Wahrheit der normativen Aussage des Zitierenden aufgerufen. Das Zi­tieren richtet sich in diesem Kontext nach dem Motto: Wer zitiert, hat nicht genü­gend Mut, um seine normative Ansicht selbst zu äußern. Oder: Wer zitiert, braucht keine eigene normative Meinung zu haben.

Dies ist die vorherrschende Funktion des Zitierens in einem normativen Kontext, ins­besondere im Kontext von Rechtslehre und Rechtsprechung, wo Wahrheit durch einen argumentativen Diskurs unterschiedlicher normativer Aussagen gebildet wird, der schließlich zu einer Konsensbildung führt.

Zeremoniell-soziale Funktion: Durch das Zitieren wird Zugehörigkeit oder Loyalität zu einer bestimmten Gemeinschaft (community) und deren gemeinsamen Werten sig­nalisiert. Das Zitieren dient in diesem Kontext dazu, die Zugehörigkeit zu bestimm­ten konzeptionellen Grundlagen nach außen sichtbar zu machen. Das Zitat wird zum Symbol und das Zitieren erstarrt zur Zeremonie, bei der dem Inhalt des Zitierten le­diglich untergeordnete Bedeutung zukommt. Gegenüber der Persuasionsfunktion wird das zusätzliche Element des inhaltlich-informativ Überflüssigen eingeführt, welches gelegentlich etwas despektierlich auch als perfunctory apple polishing be­zeichnet wird.

Dies ist die vorherrschende Funktion des Zitierens in einem sozialen Kontext, in welchem soziale Gruppenmechanismen sowie Autoritäts- und Herrschaftsstrukturen wirken, inhaltlich-kognitive Aspekte dagegen nebensächlich sind. Das Zitieren rich­tet sich hier nach dem Motto: Sage mir, wen und wie oft Du ihn zitierst, und ich sage Dir, wer Du bist! Oder: Ich sage Dir, ob Du zur community gehörst oder nicht!1

Die durch zeremonielles Zitieren nach außen demonstrierten gemeinsamen konzep­tionellen Grundlagen von zitierendem und zitiertem Autor variieren dabei nach Fachgebiet und sozialem Kontext. Nicht zu übersehen ist, dass bei der Auswahl der zu demonstrierenden Grundlagen neben politischen und religiösen Werten (Orthodo­xie) auch wissenschaftliche Modeströmungen eine Rolle spielen können.2

Im Kontext von Rechtslehre und Rechtsprechung bedeutet diese dritte Funktion des Zitierens: Nur wer die einschlägige Kommentarliteratur usw. mit der gebotenen, ka­nonischen Häufigkeit zitiert, gehört zur professionellen Gemeinschaft valabler Ju­risten. Durch Zitieren soll in erster Linie die professionelle Sorgfalt des Zitierenden und seine Bindung an die Standards dieser professionellen Sorgfalt signalisiert wer­den: Seht nur, ich habe alle einschlägigen Kommentare gelesen, usw.

2. Material und Methoden

Die Stichprobe für die Jahrzehnte 1881 bis 1980 ist bereits beschrieben worden; sie wurde für die vorliegende Diskussion um die fünf Jahre 2001 bis 2005 erweitert. Die inhaltlichen Abgrenzungskriterien (Obligationenrecht, Schuldrecht) der Stichprobe sind dabei unverändert geblieben. Für die Periode 2001 bis 2005 wurden neu die Bände 127 III (2001) bis 131 III (2005) der Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichts (Zivilrecht) ausgewertet. Dabei wurden 140 Urteilsbegründungen im Bereich des Obligationenrechts mit insgesamt 297 x 103 Textäquivalenten (Worten, Zahlen) in den drei Amtssprachen und 2571 einzelne Zitate erfasst.3

3. Resultate und Diskussion

3.1 Die kommunikationssoziologische Dimension

Unabhängig von ihren normativen Dimensionen bilden Rechtslehre und Rechtspre­chung ein Kommunikationssystem, in welchem die Rechtslehre als Produzent von Informationen (kommunikativen Inhalten), die Rechtsprechung als Konsument von Informationen fungiert. Dieser Modellvorstellung entspricht das Bild einer Recht­sprechung, welche sich bemüht, die Resultate (Erkenntnisse) der Rechtslehre zu ver­arbeiten, ähnlich wie sie sich bemüht, die programmatischen Vorgaben von Seiten der Gesetzgebung zu erfüllen.

1. In der untersuchten Zeitperiode von 2001 bis 2005 ist die Zitatdichte (Anzahl Zitate pro Textäquivalent) in den Urteilsbegründungen gegenüber dem Jahrzehnt 1971 bis 1980 dramatisch gewachsen und hat sich nochmals praktisch verdoppelt. Der Index von 100 Punkten aus dem ersten untersuchten Jahrzehnt von 1881 bis 1890 ist damit im Laufe der Jahre insgesamt um einen Faktor von rund 24 gewach­sen (Tabelle 1).

Zwar steht das beobachtete Wachstum der Zitatdichte zweifellos in Beziehung zum Wachstum der literarischen Produktion in der gleichen (oder einer früheren) Zeitpe­riode. Zitieren erscheint unter diesem Gesichtspunkt als ein reaktiver Vor­gang. Bedenkt man, dass die Produktion der Rechtslehre durch den heute alltägli­chen Einsatz des Personalcomputers ab etwa 1982 deutlich verstärkt worden ist, so dürfte das beobachtete Wachstum der Zitatdichte seit 1980 mindestens zum Teil auf diesen Paradigmawechsel in der Technik zurückzuführen sein.

TABELLE 1

Zitatdichte in der Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts zum Obligationenrecht, 1881 bis 20054

Zeitraum Zitate Text Zitatdichte Index

Aev. (pro 1000 Worte)

1881-90 158 421 0.375 100

1911-20 723 621 1.163 310

1941-50 388 241 1.607 429

1971-80 1651 359 4.597 1226

2001-05 2571 297 8.667 2332

2. Einen zweiten Begründungsansatz für das übergroße Wachstum der Zitatdich­te bildet der Umstand, dass ein höchstes Gericht Vollständigkeit in der Erfassung der relevanten Literatur anstrebt und den Anschein eines selektiven Zitierens zu vermei­den sucht. Dies bedeutet, dass inhaltlich-funktionell nicht unbedingt notwendige mehrfache Zitate zur gleichen Rechtsfrage verwendet werden. Wenn zu einer bestimmten Rechtsfrage acht identische Aussagen in der Kommentarliteratur existie­ren, so bemüht sich das Bundesgericht, alle acht Aussagen zu zitieren, weil anson­sten der Eindruck des selektiven Zitierens entstünde (obschon ein einziges Zitat für die Persuasionsfunktion ausreichen würde):

BGE 131 III 631: En d’autres termes, les trois premiers mois de travail consti­tuent un délai de carence, le droit au salaire en cas d’empêchement de travail­ler ne naissant que le premier jour du quatrième mois ( Aubert …, Brühwiler …, Favre …, Gnaegi …, Streiff/von Kaenel …, Tercier …, Wyler …, Favre/Munoz/ Tobler …)

Ein weiteres Beispiel eines derartigen multiplen – hier fünffachen – Zitats bildet die folgende Textstelle, welche inhaltlich als derart harmlos erscheint, dass (wenn über­haupt) ein einzelnes Zitat mehr als genügt hätte für den Nachweis der professionellen Sorgfalt des Zitierenden:

BGE 131 III 630: Il suit de là que le droit au salaire naît dès le jour de l’entrée en service (Rehbinder …, Staehelin …, Aubert …, Brühwiler …, Frank Vischer …).

Ein drittes Beispiel für diese Tendenz zur Bildung multipler Zitate bietet die folgen­de schöne Textstelle aus einer Urteilsbegründung des Bundesgerichts aus dem Jahr 2006 mit einem neunfachen Zitat zu einer – keineswegs kniffligen – Rechtsfrage:

BGE 132 III 502: Schließlich wird in der Lehre einhellig die Auffassung vertre­ten, der Gesetzgeber habe in Art. 271 Abs. 3 ZGB anerkannt, dass ein wichtiger Grund im Sinne von Art. 30 Abs. 1 ZGB zur Namensänderung vorliegt, wenn das außereheliche Kind beim Vater aufwächst und diesem nach Art. 298 Abs. 2 ZGB die elterliche Sorge übertragen ist (Hegnauer …, Guinand …, Stettler …, Bühler …, Deschenaux/Steinauer …, Tuor/Schnyder/Rumo-Jungo …, Meier/Stettler …, Bucher …, Häfliger …). Nach dem Dargelegten handelt es sich beim Umstand, dass ein außereheliches Kind beim Vater als Träger der el­terlichen Sorge aufwächst, um einen wichtigen Grund im Sinne von Art. 30 Abs. 1 ZGB. Im konkreten Fall (…)

Aufgrund des rezeptiven und reaktiven Charakters des Zitierens müsste die Frage nach der Notwendigkeit multipler Zitate wohl eher auf der Seite der literarischen Produktion gestellt werden: Ist es wirklich wünschenswert, geboten oder zweck­mäßig, dass zu derselben Rechtsfrage immer wieder inhaltlich identische konsonante Aussagen in der Literatur produziert werden, welche von einem gewissenhaften und professionellen Gericht der Vollständigkeit halber alle zitiert werden müssen?

3. Welche Zitatdichte normativ wünschenswert ist, bleibt weitgehend unbekannt. Allerdings zeigt ein internationaler Vergleich, dass sich die Zitatdichte des schweize­rischen Bundesgerichts im obersten Drittel der Gerichte des deutschen Sprachraums bewegt.5

Ein berühmtes Argument gegen eine hohe Zitatdichte bildet die allerdings 1918 in einem überwiegend kognitiven Kontext gemachte Aussage von Ludwig Wittgenstein im Vorwort seines Tractatus logico-philosophicus:

Ja, was ich hier geschrieben habe, macht im Einzelnen überhaupt nicht den An­spruch auf Neuheit; und darum gebe ich auch keine Quellen an, weil es mir gleichgültig ist, ob das, was ich gedacht habe, vor mir schon ein anderer ge­dacht hat. 6

Es darf in diesem Zusammenhang daran erinnert werden, dass im Gegensatz zur ho­hen Zitatdichte der deutschsprachigen Rechtsprechung Rechtskreise existieren, wel­che in ihren Urteilsbegründungen gänzlich ohne Zitate aus der juristischen Literatur arbeiten: So vermeiden die Gerichte im angelsächsischen Rechtskreis generell Zitate aus der Rechtsliteratur; auch die Rechtsprechung der Beschwerdekammern des Euro­päischen Patentamts zitiert nur eigene Präjudizien, hingegen keine juristische Litera­tur, obschon zum Patentrecht viele Kommentare und eine große Zeitschriftenliteratur in Deutsch und Englisch existieren. Im Gegensatz dazu zitiert der im gleichen Rechtsgebiet tätige X. Senat des deutschen Bundesgerichtshofs mit großem Eifer die einschlägige Kommentarliteratur (welche zu einem schönen Teil erst noch von den Richtern dieses Senats geschrieben wird).

Das beobachtete Wachstum derZitatdichte lässt sich deshalb auch nicht ohne weite­res mit einer „Verwissenschaftlichung“ der Rechtsprechung rechtfertigen: Warum sollte ceteris paribus in den Jahren 2001 bis 2005 ein 24-mal stärkeres Bedürfnis als in den Jahren 1881-90 bestehen, die Aussagen der Rechtsprechung mit den Erkennt­nissen der Rechtslehre „abzusichern“?

Pro memoria darf daran erinnert werden, dass die beobachtete hohe Zitatdichte nicht mit Vorgaben des Gesetzgebers erklärt werden kann: Art. 1 Abs. 3 ZGB weist den Richter nur in dem (speziellen) Bereich der Lückenergänzung an, die bewährte Lehre zu berücksichtigen („er folgt dabei“), also nicht notwendigerweise auch im Bereich der „normalen“ Auslegung des Gesetzes.7 Zudem ist keine Sanktion für Verstöße gegen diese Regel (Nichtbeachten der Rechtslehre) vorgesehen; es sind deshalb im schweizerischen Recht bisher – so weit erkennbar – auch keine Entscheidungen obe­rer Gerichte bekannt geworden, in denen Urteile von Vorinstanzen explizit wegen Verletzung von Art. 1 Abs. 3 ZGB aufgehoben worden wären.8

4. Ungleichheiten bei der Verteilung von Einkommen und Vermögen in einem Wirtschaftssystem sind von Merton als Prinzip der Vorteilsakkumulation (accumula­ted advantage) oder zur Erinnerung an Matth. 13, 12 als Matthäus-Prinzip charakte­risiert worden (Merton 1968).9 Nicht unerwartet führt das untersuchte Kommunikati­onssystem von Rechtslehre und Rechtsprechung bei der Verteilung der Zitate auf einzelne Autoren zu ähnlichen Ungleichheitenwie ein Wirtschaftssystem. Diese Un­gleichheiten der Verteilung der Zitate wurden anhand ihrer Gini-Koeffizienten ge­messen und in Tabelle 2dargestellt.10

TABELLE 2

Verteilung der Zitate auf einzelne Autoren, Rechtsprechung Bundesgericht zum Obligationenrecht und zum Arbeitsrecht, 1881 bis 2005, Gini-Koeffizienten11

Rechtsgebiet Zitate zitierte Mittel- Gini Gini

Zeitraum total Autoren wert Koeff. normiert

Obligationenrecht

1881-1890 158 86 1.84 .3318 .3357

1911-1920 723 197 3.67 .6130 .6161

1941-1950 388 135 2.87 .5622 .5665

1971-1980 1651 298 5.54 .6847 .6870

2001-2005 2571 457 5.62 .6248 .6261

Arbeitsrecht

2001-2005 663 124 5.35 .6490 .6543

Gini-Koeffizienten der Einkommensverteilung

Deutschland 2000 Rang 14 .283

Deutschland 2004 .291

Österreich 1997 Rang 19 .300

Schweiz 1992 Rang 37 .331

Gini-Koeffizienten der Vermögensverteilung

Deutschland 2003 .675

Dass derartige Ungleichheiten sowohl in Wirtschaftssystemen als auch im Kommu­nikationssystem von Rechtslehre und Rechtsprechung vorkommen, überrascht nicht: Beides sind soziale Belohnungssysteme (reward systems), und es ist daher schon von einem mechanistischen Gesichtspunkt aus nicht unerwartet, dass beide zu ähnlichen Ungleichheiten führen.

5. Wie die Veränderungen dieser Ungleichheiten im Zeitablauf entstanden sind, lässt sich einigermaßen plausibel erklären. Offenbar lag nach dem Inkrafttreten des neuen Zivilrechts im Jahr 1912 (Gini-Koeffizienten 1881/90 von .3318 und 1911/20 von .6130) die Eta­blierung großer Kommentare als Zitierautoritäten. Deren Herr­schaft dauert bis in die aktuelle Zeit an, soweit dies aufgrund der gemessenen Gini-Koeffizienten beur­teilt werden kann. Die leichte Abnahme der Ungleichheiten von 1971-80 mit dem bisher höchsten beobachteten Gini-Koeffizienten von .6847 zum aktuellen Zeit­raum 2001-2005 dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass in dieser Periode die Arbeit der Kommentierung in den drei großen Kommentarreihen zum schweizeri­schen Zivilrecht (sog. Zürcher, Berner und Basler Kommentar) vermehrt artikelweise auf einzelne Autoren verteilt worden ist. Dadurch beteiligt sich eine größere Zahl von Autoren an diesen Werken, welche – aus nahe liegenden Gründen – eine beson­ders hohe Zitatwahrscheinlichkeit aufweisen.

Weniger leicht lässt sich die Beobachtung erklären, dass 2001-2005 die Ungleichheit im Arbeitsrecht leicht höher (.6490) lag als im übergeordneten Sachgebiet des Schuldrechts (.6248). Dies bedeutet, dass in diesem sensitiven Rechtsgebiet, das in besonderem Maß auf eine breit abgestützte Partizipation aller beteiligten Interessen­gruppen angewiesen ist, die Herrschaft der großen Kommentare noch etwas ausge­prägter ist als im übergeordneten Gebiet des Schuldrechts.

6. Welcher Grad von Ungleichheit normativ wünschenswert oder notwendig ist, bleibt weitgehend offen. Welche normative Bedeutung hat ein bestimmter Wert des Gini-Koeffizienten? Bei der Einkommensverteilung soll ein Gini-Koeffizient von 0.3 oder weniger substantial equality bedeuten, ein Wert zwischen 0.3 und 0.4 soll akzeptable Normalität darstellen, ein Wert von mehr als 0.4 wird als zu groß angese­hen, und ein Wert von 0.6 soll eine Voraussage von sozialen Spannungen bilden. Dem Grenzwert der Gini-Ungleichheit von 0.45 wird eine besondere normative Bedeutung beigemessen.12

Der Gini-Koeffizient im untersuchten Kommunikationssystem liegt zahlenmäßig im Bereich der Vermögensverteilung (0.6), nicht der Einkommensverteilung hoch ent­wickelter Volkswirtschaften (Europa 0.3 bis 0.4), und entspricht damit der Einkom­mensverteilung in einem feudalen oder frühen Wirtschaftssystem. Es bleibt deshalb erneut anzumerken, dass das Kommunikationssystem von 1881-1890 mit wesentlich geringeren Ungleichheiten und einem Gini-Koeffizienten von der Hälfte (0.3) durch­aus zufriedenstellend funktioniert hat.

7. Beteiligung gesellschaftlicher Gruppenan der zitierten Rechtslehre: Die beob­achteten Ungleichheiten der zitierten Autoren führen zwar auf der einen Seite zur er­warteten Übervertretung von Autoren einer Elite mit bestimmten Sozialparametern: Von den 15 Autoren in der Stichprobe 2001/05, welche 30 oder mehr Zitate erhalten haben, sind 11 Hochschullehrer (Professoren). Also: Kann von einer Herrschaft der Eliten über die Rechtsprechung gesprochen werden?13

Auf der anderen Seite beinhalten die beobachteten Ungleichheiten eine Untervertre­tung von Autoren mit anderen Sozialparametern. Die beobachteten Anteile von Frau­en oder von Ausländern an den Zitaten zeigen einen deutlichen historischen oder sozialen Wandel, der den Erwartungen einigermaßen entspricht, aber in seinem Aus­maß dennoch überrascht (Tabelle 3): Der Rückgang des Ausländeranteils an den Zitaten zeigt die Dimensionen eines kulturellen Entkolonialisierungsvorganges (im Verhältnis Deutschland – Schweiz). Er wurde im Kriegsjahrzehnt 1941-50 unter dem Eindruck der historischen Entwicklung in Deutschland praktisch halbiert von 39.8 % im Jahrzehnt 1911-20 auf 23.8 % in der unmittelbaren Nachkriegszeit 1946-50. Dieser Ausländeranteil hat 2001-05 im Verhältnis zum Jahrzehnt 1971-80 wieder ge­ringfügig zugenommen: 4.90 % gegenüber 4.22 %. Von einer Trendwende sollte in­dessen nicht gesprochen werden.

TABELLE 3

Zitierte Autoren: Ausländer und Frauen.

Rechtsprechung Bundesgericht zum Obligationenrecht, 1881 bis 200514

Jahre N total Ausländer (%) Frauen (%)

Zitate

1881-90 164 132 80.5 –

1911-20 714 284 39.8 –

1941-50 375 100 26.7 1 0.26

1941-45 207 60 29.0

1946-50 168 40 23.8

1971-80 1611 68 4.22 1 0.06

2001-05 2571 126 4.90 136 5.29

Die dramatische Zunahme des Anteils der Frauen an den zitierten Autoren entspricht, wenn auch mit einer kräftigen zeitlichen Verzögerung, den Entwicklungen im politi­schen Bereich (Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene 1971).

Die Zahlen der Rechtsprechung zum Arbeitsrecht 2001/2005 in Tabelle 4 zeigen, dass die aktuellen Verhältnisse in der Rechtslehre und die Auswahl der zitierten Autoren auch nicht im entferntesten dazu führt, dass die an einem sensitiven Rechts­gebiet interessierten gesellschaftlichen Gruppierungen (im vorliegenden Kontext: Gewerkschaften und Arbeitgeberorganisationen) auch nur einigermaßen proportional oder entsprechend ihrer sachlichen Betroffenheit im Corpus der Zitate des Bundesge­richts vertreten sind: Rund 85 % der Zitate in der Rechtsprechung zum Arbeitsrecht stammen von Autoren, welche den Arbeitgebern oder ihren Organisationen „nahe stehen“, lediglich 15 % von Autoren, welche den Arbeitnehmern und deren Organi­sationen nahe stehen.15

TABELLE 4

Zitierte Autoren: Kommentare / Lehrbücher zum Arbeitsrecht / Rechtsprechung Bundesgericht zum Arbeitsrecht, 2001 bis 200516

Jahre N total Arbeitgeber (%) Gewerkschaften (%)

Zitate

2001-2005 367 316 86.10 51 13.90

8. Sowohl die gefundene Zitatdichteals auch die gefundenen Ungleichheiten be­stätigen indirekt die Persuasionsfunktion des Zitierens im untersuchten Kommunika­tionssystem von Rechtslehre und Rechtsprechung: Es ist für diese Persuasionswir­kung besser, eine größere Zahl von Autoren mit einer konsonanten Aussage zu zitie­ren, weil dies auf eine Konsensbildung unter den zitierten Autoren hinweist. Und die vielen identischen Aussagen weisen in der Wahrnehmung der Leser ein höheres Per­suasionsgewicht auf: Ja, wenn so viele Professoren diese Meinung vertreten, so wird sie schon richtig sein! Vom kognitiven Standpunkt aus wäre dagegen mit multiplen Zitaten nichts zu gewinnen: Ein einziges kognitives Zitat weist nach, dass die fragli­che kognitive Erkenntnis nicht vom Zitierenden, sondern von einem anderen stammt. Und nach dem Universalismuspostulat in der kognitiven Wissenschaft (Merton 1972) ist es gleichgültig, von welchem Autor eine Erkenntnis stammt, solange sie sich im Sinne der Korrespondenztheorie als wahr erweist.17

Es ist deshalb für die Persuasionswirkung eines Zitats im vorliegenden Kontext auch zweckmäßiger, ein prestigeträchtiges Werk (z.B. einen der großen Kommentare) als ein prestigearmes Werk (z.B. eine Dissertation) und einen höherrangigen Autor zu zitieren, als einen mit niedrigerem Rang. Dies wird im Ergebnis dazu führen, dass höherrangige Autoren häufiger zitiert werden als andere. Vom kognitiven Stand­punkt aus ist mit den Sozialparametern des Zitierten erneut nichts zu gewinnen: Ent­weder ist die fragliche Erkenntnis wahr (weil reproduzierbar) oder sie ist falsch. Die­se Beurteilung sollte nach dem Universalismuspostulat unabhängig von den Sozial­parametern des Zitierten sein.

Sowohl die gefundene Zitatdichteals auch die gefundenen Ungleichheiten bilden zu­dem eine indirekte Bestätigung dafür, dass im Kommunikationssystem von Rechts­lehre und Rechtsprechung die Zeremonialfunktion des Zitierens wirkt: Es ist für die zeremonielle Wirkung der eigenen Aussage insofern besser, eine größere Zahl von Autoren mit der identischen Aussage zu zitieren, als dies beim Leser den Eindruck höherer Professionalität oder (zumindest) größeren Fleißes (des Zitierenden) hervor­ruft. Ebenso dürfte es für die zeremonielle Wirkung besser sein, ein prestigeträchti­ges Werk (z.B. einen der großen Kommentare) als ein prestigearmes Werk (z.B. eine Dissertation) und damit einen höherrangigen Autor zu zitieren, als einen mit niedri­gerem Rang, weil dies darauf hindeutet, dass der Zitierende die Autoritätsstrukturen seines Faches kennt und sich diesen angepasst hat. Das in diesem Ausmaß nicht be­gründbare, dramatische Wachstum der Zitatdichte (Index 100 zu 2332) und das Wachstum der multiplen Zitate weist zudem auf das für die Zeremonialfunktion cha­rakteristische Element der inhaltlichen Redundanz (perfunctory apple polishing) hin.

Was soll im vorliegenden Kontext von Rechtslehre und Rechtsprechung durch Zere­monialzitate demonstriert werden? Wohl in erster Linie Professionalität im Sinne einer Bindung an die Standards professioneller Sorgfalt als Voraussetzung zur Zuge­hörigkeit zur community der valablen Juristen. Wer ist Adressat dieser Demonstrati­on? Zunächst wohl die Leser der Urteilsbegründung, also die beteiligten Prozesspar­teien, dann aber aufgrund der Publikation der Urteile die gesamte professionelle community der Juristen. 18

3.2 Die rechtssoziologische Dimension

9. Die Rechtsprechung zitiert Aussagen der Rechtslehre mit normativen Inhalten, denen ein bestimmtes normatives Gewicht im Rechtssystem zukommt oder denen durch den Zitiervorgang ein normatives Gewicht verliehen wird. Einen Indikator für dieses normative Gewicht der Rechtslehre bildet die Ablehnungsquote, also der Anteil der negativen Zitate, in denen die Aussage der Rechtslehre abgelehnt wird, im Verhältnis zur Zahl der Zitate insgesamt. Die Entwicklung dieser Ablehnungsquote im Zeitablauf ist in Tabelle 5 dargestellt.

TABELLE 5

Ablehnungsquote von Zitaten in der Rechtsprechung schweizerischer Gerichte zum Obligationenrecht, 1881 bis 200519

Stichprobe Jahre Zitate Negative Z. Neg. Quote (%)

Bundesgericht 1881-90 161 11 6.83

1911-20 707 47 6.65

1946-50 179 16 8.94

1971-80 1611 122 7.57

2001-05 2571 123 4.78

Kantonale Gerichte

BS/BL: BJM 1971-80 245 19 7.76

ZH: BlZR 579 29 5.01

GR: PKG 312 11 3.53

VS: ZWR/RJV 712 25 3.51

Diese Ablehnungsquote erscheint überraschend gering, ihre Entwicklung im Zeit­ablauf erstaunlich konstant und das normative Gewicht der Rechtslehre dementspre­chend überraschend groß. Das Bundesgericht folgt in (aktuell) mehr als 19 von 20 Fällen den Aussagen der Rechtslehre (Ablehnungsquote 4.78 % im Zeitraum 2001 bis 2005). Der Diskurs zwischen Rechtslehre und Rechtsprechung en­det also sehr einseitig in 95 % aller Situationen mit der inhaltlichen Akzeptanz der Aussage der Rechtslehre durch die Rechtsprechung. Die (zunächst kognitive Ziele verfolgende) Rechtslehre weist also eine empirisch nachweisbare normative Dimen­sion auf, wel­che nicht übersehen werden kann.

Das Kriegsjahrzehnt 1941 bis 1950 verkörpert in mehrfacher Hinsicht einen statisti­schen Ausreißer: Bereits der Umfang der Stichprobe ist wesentlich kleiner als derje­nige der Jahrzehnte 1911-20 und 1971-80, was auf eine veränderte Publikationsquote der Urteile des Bundesgerichts hinweist. Der Anteil ausländischer Autoren an den Zitaten ist in diesem Jahrzehnt – wohl als unmittelbare Folge der historischen Ent­wicklung in Deutschland – annähernd halbiert worden (1911-20: 39.8 % und 1946-50: 23.8 %) und hat sich seither nie mehr erholt (2001-05: 4.90 %). Immerhin führt die leicht höhere Ablehnungsquote in den fünf Jahren von 1946-50 zu der Fra­ge, aus welchen Gründen diese Tendenz zu größerer kritischer Distanz gegenüber der Rechtslehre in späteren Jahrzehnten nicht fortgesetzt worden ist.

Es überrascht, dass die bereits sehr niedrige Ablehnungsquote im Jahrzehnt 1971-80 von 7.57 % in den Jahren 2001 bis 2005 nochmals um rund ein Drittel auf 4.78 % gesunken ist. Dies dürfte erneut mit dem Wachstum der Mehrfachzitate zusammen­hängen, welche kaum jemals zu einem Negativzitat führen und dadurch den Anteil der Positivzitate entsprechend erhöhen. Damit dürfte diese erneute Abnahme der Ab­lehnungsquote ceteris paribus auf das bereits diskutierte Wachstum der Produktion in der Rechtslehre zurückzuführen sein, welche ihrerseits mit dem zunehmenden Einsatz von Personalcomputern zusammenhängen dürfte.

Die geringfügigen Unterschiede zwischen den beobachteten Ablehnungsquoten des Bundesgerichts und denjenigen der kantonalen Gerichte dürfen nicht überbewertet werden. Allenfalls lässt die etwas niedrigere Ablehnungsquote in den beiden Kanto­nen Graubünden (GR) und Wallis (VS) eine Tendenz der betreffenden kantonalen Gerichte erkennen, ihre Urteile durch besonders eifriges „Absichern“ in der Rechts­lehre resistent gegenüber Rechtsmitteln zu machen.

10.Argumentationslastregeln und organisierter Konformismus: Die beobachteten niedrigen Ablehnungsquoten deuten darauf hin, dass das untersuchte Rechtssystem mit seinen normativen Aussagen einigermaßen den Argumentationslastregeln und dem Trägheitsprinzip der Argumentation zu folgen scheint, wie sie von Perelman/ Olbrechts-Tyteca (2000) und Alexy (1983) für normative Argumentationen formu­liert worden sind:

Regel (3.3) Wer ein Argument angeführt hat, ist nur bei einem Gegenargument zu weiteren Argumenten verpflichtet.20

Nach diesen Regeln wird solange die Wahrheit einer normativen Aussage angenom­men, bis sie sich aufgrund von anderen Aussagen als nicht wahr (beispielsweise im Sinne der Kohärenztheorie der Wahrheit) erweist, oder bis ihr jemand (nach der Dis­kurstheorie der Wahrheit) widerspricht, bis eine communis opinio doctorum etabliert ist.

Diese Argumentationslastregeln können die beobachteten niedrigen Ablehnungsquo­ten mindestens teilweise erklären. Das untersuchte Kommunikationssystem scheint damit einem organisierten Konformismus zu folgen, der in den niedrigen Ableh­nungsquoten seinen empirisch messbaren äußeren Ausdruck findet. Damit steht das System im Gegensatz zu den Kommunikationssystemen der empirischen Wissen­schaften, welche durch die Grundregel des organisierten Skeptizimsus (Merton 1972) charakterisiert werden.21

11. Organisierter Konformismus: Es kann dahingestellt bleiben, ob derartige Argumentationslastregeln ausschließlich auf logischen Zusammenhängen beruhen oder ihrerseits als Ergebnis sozialer Mechanismen anzusehen sind: Ihre Wirkung in Gestalt der beobachteten niedrigen Ablehnungsquoten dürfte jedenfalls durch sozia­le Mechanismen verstärkt werden. Es darf angenommen werden, dass eine soziale Erwartungshaltung, ein sozialer Druck zum Konformismus auf beiden Seiten des un­tersuchten Kommunikationssystems von normativen Aussagen besteht. Die Recht­sprechung bemüht sich – soweit wie möglich – nicht von der Rechtslehre abzuwei­chen und vice versa. Die Situation entspricht einem gegenseitigen Respektieren. Die Rechtsprechung „schmückt“ und rechtfertigt sich mit den Resultaten der Rechtslehre, lehnt aber dennoch gelegentlich die Ansichten dieser Rechtslehre ab, um nicht als völlig „unkritisch“ und „unwissenschaftlich“ zu gelten. Die Rechtslehre ihrerseits bemüht sich zwar gelegentlich um „kritische“ Distanz zu den Resultaten der Recht­sprechung, um nicht den Eindruck völliger Kritiklosigkeit hervorzurufen. Gleichzei­tig vermeidet sie es aber, sich „überkritisch“ gegenüber den Resultaten der Recht­sprechung zu verhalten; sonst wird ein einzelner Autor sehr schnell als chronischer Abweichler, Ausreißer, als Figur außerhalb des Mainstreams usw. qualifiziert.

Der sichere Weg des Zitierens bzw. der kritischen Distanz zur Rechtslehre erinnert damit an den Ratschlag des Daedalus an seinen Sohn: Inter utrumque vola!22 Also: Wenn Du 4.78 % Negativzitate nicht überschreitest, bist Du weder zu konform (weil Du gelegentlich auch negativ zitierst), noch zu kritisch (weil Du sehr selten negativ zitierst). Der soziale Konformitätsdruck auf beiden Seiten dürfte also im Ergebnis neben den erwähnten argumentationstheoretischen Gründen zu dem beobachteten Gleichgewichtswert der Ablehnungsquote zwischen 5 und 7 % (in der untersuchten Rechtsprechung) führen: Die Entwicklungdieser Ablehnungsquote über mehr als hundert Jahre lässt diese immerhin als eine weitgehend zeitunabhängige Konstante der untersuchten schweizerischen Rechtskultur erscheinen.

12. Wäre es normativ wünschenswert, eine höhere Ablehnungsquote und dadurch eine höhere Diskursivität der Argumentationen in der Rechtsprechung zu erreichen?

Es geht im vorliegenden Kontext um Rezeption oder Ablehnung normativer Aussa­gen: Wahrheit wird entweder durch Konsensbildung (Konsens- oder Diskurs­theorie der Wahrheit) ermittelt, oder durch intersubjektiv (einigermaßen) überprüfba­re Beur­teilung der Systemkonformität von Aussagen (nach der Kohärenztheorie der Wahr­heit). In diesem Bereich des Zitierens normativer Aussagen erscheint eine hohe Diskursivität und damit auch eine hohe Ablehnungsquote generell als zweckmäßig: Je mehr Personen an einer Konsensbildung beteiligt sind, desto zuverlässiger ist die Wahrheit durch Konsensbildung. Ein Mittelwert aus vielen Einzelmessungen oder: Ein Konsens nach einem Ausdiskutieren vieler Einzelaussagen ist mehr wert als ein Mittelwert aus wenigen Messungen bzw. ein Konsens aus wenigen Aussagen.

13. Aufgrund der beobachteten niedrigen Ablehnungsquote und des entsprechend hohen normativen Gewichtserscheint die Rechtslehre keineswegs als harmlos für das Funktionieren eines Rechtssystems. Die Rechtslehre hat im untersuchten System ein annähernd gleich hohes normatives Gewicht oder eine ähnliche Wahrscheinlich­keit, von einem Gericht tatsächlich akzeptiert zu werden, wie die Aussagen des Gesetzgebers: In Zahlen ausgedrückt: eine Wahrscheinlichkeit der Befolgung von 0.95 statt 1.00 wie das Gesetz.

Angesichts eines derartigen der Gesetzgebung angenäherten normativen Gewichts der Rechtslehre sollte die Gesellschaft der Frage nach ihrer Legitimation nicht auswei­chen. Frühere Epochen der Rechtsgeschichte haben Positiv- und Negativlisten der zitierfähigen Autoren und der zitierfähigen Werke formuliert und dadurch einige Sensitivität für die normative Dimension der Rechtslehre bewiesen.23 Moderne, plu­ralistisch orientierte Rechtssysteme scheinen jedoch die Rechtslehre als ausschließ­lich kognitiven Vorgang wahrzunehmen. Dementsprechend unterstellen sie die Rechtslehre ausschließlich der Meinungsäusserungsfreiheit, der Forschungsfreiheit, der Wirtschaftsfreiheit, den sogenannten Wettbewerbskräften im Verlagswesen und Buchhandel usw. usw. Diese Betrachtungsweise greift indessen insofern zu kurz, als sie die in der vorliegenden Untersuchung (zumindest für einen kleinen Teilbereich) empirisch nachgewiesene normative Dimension der Rechtslehre und deren normati­ven Einfluss auf die Rechtsprechung übersieht.24

14. Eine Detailfrage mag diese heikle normative Dimension des Verhältnisses zwischen Rechtslehre und Rechtsprechung illustrieren: Ist es normativ wünschens­wert oder zulässig, dass staatliche Funktionsträger (Richter, Beamte, Hochschulleh­rer) die Autorität ihres öffentlichen Amtes privaten Kommentarprojekten zur Verfü­gung stellen und dadurch die Entwicklung der Rechtsprechung in einem bestimmten Sinne und zwar unter Umständen langfristig und nachhaltig beeinflussen? Soll sich der Richter seine Kommentare gleich selbst schreiben? Soll der Richter in seinen Urteilsbegründungen seine eigenen Kommentare auch noch gleich selbst zitieren? Oder soll er von seinen Richterkollegen zitiert werden?25

Das Problembewusstsein in diesem Bereich (und damit eine quasi-Anerkennung der normativen Dimension der Rechtslehre) scheint in der letzten Zeit gewachsen zu sein: Nachdem während Jahrzehnten Aussagen in der Rechtslehre nicht als Ableh­nungsgrund für Richter, Beamte und Sachverständige gewertet worden sind, hat nun­mehr das schweizerische Bundesgericht in einem Urteil aus dem Jahr 2006 entschie­den, dass derartige Äußerungen durchaus einen Ablehnungsgrund für einen Richter am Schiedsgericht darstellen können.26 Dieses Ergebnis entspricht einer impliziten Anerkennung der normativen Dimension der Rechtslehre: Wäre die Rechtslehre aus­schließlich kognitiver Natur, so würde dieses Urteil keinen Sinn machen. Eine aus­schließlich kognitive Aussage kann nur (ganz/teilweise) richtig-falsch oder (ganz/teilweise) wahr-unwahr sein (im Sinne der Korrespondenztheorie der Wahr­heit) und ist nach dem erwähnten Universalismuspostulat unabhängig von der Per­son ihrer Protagonisten (Merton 1972). Deshalb könnte eine ausschließlich kognitive Aussage auch niemals eine Voraussage für künftiges normatives Handeln ihres Prot­agonisten gestatten und damit einen Ablehnungsgrund für einen Schiedsrichter ergeben.

Literaturverzeichnis

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Dolder, Fritz (1986) Rezeption und Ablehnung wissenschaftlicher Lehrmeinungen, Diss. Basel.

Dürr, David (1998) Kommentar zum Schweizerischen Zivilgesetzbuch, Erster Band, 3. Aufl.; Zürich: Art. 1 bis 7 ZGB, Einleitungstitel zum ZGB.

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Wittgenstein, Ludwig (1989) Tractatus logico-philosophicus, Werkausgabe Band 1, 6. Aufl., Frankfurt/M.

1Dolder 1986: 10 ff.

2So war es vor zehn Jahren kaum angezeigt, an einer Tagung von Rechtsphilosophen und Rechts­theoretikern den Philosophen H.G. Gadamer zu zitieren, obschon dessen Hauptwerk „Wahrheit und Methode“ 1960 erschienen ist. Im Kontrast dazu ist es heute (2008) kaum mehr möglich, ein Referat im gleichen fachlichen Kreis ohne mindestens ein Gadamer-Zitat zu halten.

3Die Textäquivalente werden in den drei Amtssprachen unterschiedlich auf Druckseiten umge­rechnet. Eine Druckseite der BGE umfasst durchschnittlich 328 Worte deutschen Text, 391 Worte französischen und 369 Worte italienischen Text. Die ausgewerteten 297 x 103 Textäqui­valente entsprechen aufgrund der überproportionalen Vertretung der deutschen Sprache schät­zungsweise 850 Druckseiten (905 deutsch / 759 französisch / 805 italienisch). In den einzelnen Jahrgängen der BGE wurde folgende Anzahl von Urteilsbegründungen ausgewertet: Band 127: 33 Entscheidungen, 128: 25, 129: 25, 130: 28, 131: 29, Total 140 Entscheidungen.

4Quelle: Eigene Erhebungen 1985/86 und 2008.

5Im internationalen Vergleich wurden in den fünf Jahren 1976-80 folgende Zitatdichten (jeweils pro 1000 Textäquivalente) in der Rechtsprechung zum Schuldrecht beobachtet: Österreich OGH 7.52, Deutschland BAG 5.74, Schweiz Bundesgericht 4.97, Deutschland BGH 4.63, Liechten­stein OGH 1.96, DDR OG .45; Dolder 1986: 75, Tabelle 5.3, Fürstentum Liechten­stein und DDR-Urteile zum gesam­ten Zivilrecht.

6Wittgenstein 1989: 9.

7Anderer Ansicht Dürr 1998: Art. 1 ZGB N. 543, wonach die Berücksichtigung der „bewährten Lehre“ aus historischen Gründen sowohl die Fälle der Auslegung gemäß Abs. 1 als auch jene der Lückenfüllung gemäß Abs. 2 betreffe. Zuzustimmen ist Dürr darin, dass die zeitgemäße Methodologie keine grundsätzlichen Unterscheidungen zwischen Auslegung und Lückenfüllung anerkenne.

8Dürr 1998: N. 566-570, lehnt eine normative Wirkung des Abs. 3 ab, anerkennt aber immerhin eine semi-normative Wirkung: „Ignoriert er (= Richter) die bewährte Lehre, bezeichnet er die bewährte Lehre als unbewährt, stützt er sich unzutreffenderweise auf angeblich Bewährtes, …, so verstößt er gegen Bundesrecht. Es kann dies etwa mit Berufung ans Bundesgericht geltend gemacht werden (…). Insofern ist Art. 1 Abs. 3 ZGB also nicht eine lex imperfecta.“ (N. 570).

9„Denn wer hat, dem wird gegeben werden und er wird Überfluss haben; wer aber nicht hat, dem wird auch das genommen werden, was er hat.“ Ähnlich Matth. 25, 29. Robert K. Merton 1968: 56, für das Kommunikationssystem 59/60.

10Der Gini-Koeffizient basiert auf der Lorenz-Kurve, einer doppelt kumulierten Darstellung der Verteilung einer Gesamtheit von Merkmalen auf einzelne Merkmalsträger: x % aller Autoren verfügen über y % aller Zitate. Der normierte Gini-Koeffizient ist geringfügig höher, da er noch einen Faktor (n / n – 1) enthält. Zur Berechnung z.B. Sen 1997: 29-34.

11Quelle: Eigene Erhebungen 1985/86 und 2008; UN Development Program Report 2004, 2005: 50 ff.

12UN Development Program Report 2004, 2005: 50 ff.

13Zum Zusammenhang zwischen der Zahl der Zitate und dem Sozialstatus des zitierten Autors Dolder 1986: 76-87, zum Mehrvariablenmodell 171.

14Quelle: Eigene Erhebungen 1985/86 und 2008.

15Die Autoren danken Doris Bianchi, Zentralsekretariat des Schweizerischen Gewerkschaftsbun­des (SGB), Bern, für Mithilfe bei der Zuordnung der einzelnen Autoren zu den betreffenden Interessengruppen.

16Quelle: Eigene Erhebungen 2008.

17„Universalismus findet seinen unmittelbaren Ausdruck in der Vorschrift, dass Wahrheitsansprü­che unabhängig von ihrem Ursprung vorgängig gebildeten unpersönlichen Kriterien unterworfen werden müssen. (…) Die Annahme oder Ablehnung der Ansprüche hängt nicht von personalen oder sozialen Eigenschaften ihrer Protagonisten ab (…)“ (Merton 1972: 48).

18Ob darüber hinaus auch eine interne Zeremonialwirkung im Verhältnis zwischen Urteilsredaktor (Gerichtssekretär) und Richter (Gericht) besteht, kann mangels empirischer Daten nicht unter­sucht werden.

19Quelle: Eigene Erhebungen 1985/86 und 2008. Die Abkürzungen BJM, BlZR, PKG und ZWR/RJV bezeichnen Zeitschriften, in denen die kantonale Rechtsprechung publiziert wird.

20Alexy 1983: 242-245, Regel (3.3); Perelman/Olbrechts-Tyteca 2000: 105-106 und 218-219: Prinzip der Trägheit (principle of inertia).

21Im Kontrast dazu folgt kognitive, insbesondere empirische Wissenschaft dem Prinzip des orga­nisierten Skeptizismus: Es wird solange die Wahrheit einer Aussage bezweifelt, bis sie durch re­levante Fakten unwiderlegbar bewiesen ist. Das endgültige Urteil wird „zurückgehalten, bis die Fakten zur Hand sind“. (Merton 1972: 55, organisierter Skeptizismus).

22Rat des Daedalus an seinen Sohn Ikarus nach Ovidius 2000: 08, 205-207: Icare, ait moneo, ne, si demissior ibis, unda gravet pennas, si celsior, ignis adurat: inter utrumque vola.

23Positivlisten: Ius publice resondendi (Corpus Iuris Civilis 1997: 1,2,8 und Gai Institutiones 1964: 1,7). Die Spätantike hat in den Zitiergesetzen das Recht, bei der Rechtsanwendung zitiert zu werden, reguliert und eingeschränkt: Zitiergesetz Codex Theodosianus 2006: 1,4,3. Vgl. Dolder 1986: 28 ff. und 86. Negativlisten wurden z.B. im NS-Staat (jüdische Autoren) oder im sozialistischen Rechtskreis (mit der Stigmatisierung von Autoren als „bürgerlich“) verwendet: Dolder 1986: 31-33.

24Vgl. die Formulierung „Die Doktrin gilt dem Richter nicht wie eine Rechtsquelle ratione impe­rii, sondern immer nur rationis imperio.“ Meier-Hayoz 1966: Kommentar N.439 zu Art. 1 ZGB.

25Beispiel: Von den 16 Autoren eines Kommentars zum Europäischen Patentabkommen (EPÜ), München 2002, sind 8 Richter und 5 Bedienstete des Europäischen Patentamts, also 13 von 16 Autoren unmittelbar mit der Rechtsanwendung/Rechtsprechung in dem betreffenden Fachge­biet beschäftigt, schreiben sich also ihren Kommentar gleich selbst. Oder: In der Urteilsbegrün­dung BGE 129 III 335-352 (Lohnforderungen bei Erwerb eines Betriebes aus dem Konkurs des früheren Inhabers) wurde insgesamt sechzehnmal eine einzelne Publikation eines Mitglieds des Bun­desgerichts aus der Rechtsliteratur zitiert und (natürlich) niemals abgelehnt.

26BGE 133 I 89 = Urteil 4P.247/2006 vom 7.11.06 – Schiedsgericht. Hier ProLitteris

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