Sozialepidemiologie des Drogenkonsums Kap. 4.2

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© ProLitteris, Josef Estermann

beschreibung

4.2 Mortalität, Morbidität und Repression. Der Drogentod und die strafrechtliche Registrierung

4.2.1 Identifikation der Fälle

Die polizeilich registrierten Drogentodesfälle in der Schweiz werden durch das Bun­desamt für Polizeiwesen zentral erfaßt und jährlich publiziert. Es bestand die Mög­lichkeit, anhand von codierten Daten festzustellen, ob einem als Drogentod gemelde­ten Todesfall ein Eintrag im Strafregister zugeordnet werden kann. Die beiden Da­tenquellen sind unabhängig und die zu schätzende Grundpopulation besteht in den­jenigen Drogenkonsumierenden, die ein bestimmtes Risiko haben, in Verbindung mit ihrem Drogenkonsum zu sterben oder von Gerichten verurteilt zu werden. Gelegen­heitskonsumierende sind in dieser Grundpopulation mit Sicherheit kaum vertreten. Im Rahmen des Kategorienschemas entspricht die zu schätzende Grundpopulation den regelmäßigen, vor allem intravenös Konsumierenden. Allerdings finden sich un­ter den Drogentoten auch nicht intravenös konsumierende Personen.

Dies dürften jedoch Einzelfälle sein, denn im allgemeinen schätzen die Drogenkon­sumierenden das Sterberisiko bei nicht intravenösem Konsum als sehr gering ein, wie die Aussage eines integrierten Gelegenheitskonsumenten belegt: «Und dann hat es mich gedünkt, daß wenn ich es mit der Nase nähme, daß ich das verantworten könne und das ganz sicher im Griff behalten würde. Und das war dann einfach dann auch so» (#4, 5/34-36).

Ein Kokainkonsument beschreibt hingegen eine jener Ausnahmesituationen, bei de­nen es auch unter nicht intravenös Konsumierenden zu Todesfällen kommen kann: «Ich habe ja immer noch genug Coci gehabt und bin an der Fasnacht gewesen und habe innert kurzer Zeit sehr viel getrunken und als ich nach Hause gekommen bin habe ich gefunden, ich müsse jetzt vor den Augen eines Kollegen, der behauptete, er nähme keine Drogen mehr, müsse ich ein wenig plöffen [aufschneiden] und zei­gen, wie ich verschwende, weil ich es ihm nicht abgenommen habe, und habe ein paar Gramm in ein Glas Whisky reingeworfen, das aufgelöst und gesoffen […] Ja und dann bin ich im Spital oben erwacht» (#12, 15/55-16/6, 16). Nach diesem Vor­fall, der bezeichnenderweise unter Einfluß weiterer Drogen, nämlich Alkohol, statt­gefunden hatte, entschloß er sich, seinen Kokainkonsum einzustellen.

Eine epidemiologische Analyse der Drogentodesfälle der vergangenen Jahre ist am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern durchgeführt wor­den.1 Leider wurden in dieser Untersuchung Informationen aus dem Strafregister nicht verarbeitet. Die Integration der Daten des Strafregisters geschieht nun an dieser Stelle nach einer Reanalyse der polizeilichregistrierten Drogentodesfälle. Die De­finition des Drogentodes durch die Polizei ist allerdings sehr weit und schließt To­desfälle von Drogenkonsumierenden mit ein, die nicht direkt durch illegale Substan­zen verursacht wurden, wie beispielsweise Selbsttötung durch Erhängen. Anderer­seits ist davon auszugehen, daß bei Fehlen sichtbarer Hinweise im Umfeld Drogen­todesfälle nicht als solche erkannt werden.

Die Zahl der registrierten Drogentodesfälle selbst ist in einer gewissen Weise ab­hängig von der Sichtbarkeit der Drogenszene und der verstorbenen auffälligen Dro­genkonsumierenden für die Öffentlichkeit und die Institutionen, zumal sie nicht an die allgemeine nach medizinischen Kriterien ausgerichtete Mortalitäts­statistik gemäß ICD2 gekoppelt ist. Dennoch sind die Zahl der registrierten Dro­gentodesfälle und deren strafrechtliche Registrierung mit großer Sicherheit zu identifizieren, auch wenn Art und Intensität ihrer Erfassung im Zeitverlauf Schwankungen unterliegen. Die Zahl der strafrechtlich erfaßten regelmäßigen Konsumierenden zu bestimmen, ist hingegen keinesfalls unproblematisch.

Das Strafregister gibt keine zuverlässige Aus­kunft darüber, ob eine registrierte Person schon verstorben ist. Genausowenig läßt sich natürlich feststellen, ob jemand, der vor sieben Jahren wegen Drogenkonsums verurteilt wurde, nach wie vor Drogen konsumiert. Im Rahmen des Kategoriensche­mas und der biographischen Hinweise auf Kriminalisierungsereignisse kann die Zahl der registrierten Konsumenten genähert werden durch die Zahl derjenigen Personen, die in den vergangenen drei, vier, fünf oder sechs Jahren wegen Konsums verurteilt wurden minus der Zahl derjenigen Personen, die zwischenzeitlich verstorben sind oder den Konsum auf­gegeben haben und zu früheren Zeitpunkten verurteilt wurden. Einige Personen, die später als Drogentote identifiziert wurden, sind nicht wegen des Konsums von Drogen, sondern ausschließlich wegen anderer Straftatbeständen ver­urteilt worden.

Zu analysieren sind die Daten des Jahres 1990. Dieses Jahr bildet die Baseline für die Änderung der institutionellen Reaktion auf die Drogenfrage nach dem Ende des gesundheitspolitischen Primats der späten achtziger Jahre, das unter dem Ein­druck der HIV/AIDS-Epidemie stand. Ab 1991 erhöhte sich die Intensität der poli­zeilichen Verfolgung ebenso wie die Anzahl der Methadonverschreibungen. Auch die Zahl der registrierten Drogentoten erhöhte sich beträchtlich.

T4.2.1: Drogentodesfälle des Jahres 1990 nach Geschlecht und Alter sowie Erfas­sung im Strafregister.

A) Personen, die als Drogentodesfälle erfaßt wurden, nach Geschlecht und Erfas­sung im Strafregister überhaupt sowie Altersmittelwerte.


Im Strafregister erfaßtIm Strafregister nicht erfaßtTotal
GeschlechtN%mittl. AlterN%mittl. AlterN%mittl. Alter
Männer16471,928,366428,124,5222880,327,28
Frauen2544,627,683155,423,685619,725,46
Insgesamt18966,528,279533,524,24284100,026,92

B) Personen, die als Drogentodesfälle erfaßt wurden, nach Geschlecht und Erfas­sung im Strafregister wegen Betäubungsmitteldelikten sowie Altersmittelwerte.


Im Strafregister erfaßtIm Strafregister nicht erfaßtTotal
GeschlechtN%mittl. AlterN%mittl. AlterN%mittl. Alter
Männer11249,128,0911650,926,5022880,327,28
Frauen1628,626,944071,424,885619,725,46
Insgesamt12845,127,9515654,926,0828410026,92

Der Frauenanteil ist bei den polizeilich registrierten Drogentodesfällen mit 19,6% im Verhältnis zu den Repressionsdaten eher hoch. Von den Heroinkonsumver­zeigungen des Jahres 1993 betrafen 17,7% Frauen, 18,3% Frauen waren es im Jahre 1994. Bei den BetmG-Verurteilungen insgesamt betrug der Frauenanteil 15,4% im Jahre 1990, 14,7% im Jahre 1991, 13,8% im Jahre 1992 und 14,6% im Jahre 1993. Der Anteil der strafrechtlich Erfaßten ist bei weiblichen Drogentoten signifikant niedriger als bei männlichen. Auch dies ist ein weiterer Hinweis darauf, daß Frauen gegenüber der polizeilichen Registrierung und vor allem gegenüber der Verurteilung immuner sind als Männer. Daher ist eine Gruppengrößenschätzung mit Vorteil nach Ge­schlecht getrennt vorzunehmen.

Die Altersstruktur bei den polizeilich registrierten Drogentodesfällen ist mit einem Mittelwert von 26,8 Jahren signifikant verschieden von derjenigen der wegen Dro­gen­konsums polizeilich erfaßten Personen, deren Altersmittelwert im Jahre 1990 mit 25,4 Jahren mehr als ein Jahr niedriger liegt (Grafik G4.2.1). Dennoch ist die­ser Unterschied nicht sehr groß in Anbetracht dessen, daß der Tod doch eher selten gleich zu Beginn der Karriere eintritt, und daß die Repressionsorgane vorgeben, die Konsumierenden ziemlich bald nach deren Beginn erfassen zu können. Der Unter­schied zeigt sich bei den zur Zeit ihres Todes durchschnittlich jüngeren Frauen (24,2 gegenüber 25,4 Jahren) genauso wie bei den Männern (25,7 gegen­über 27,2 Jahren). Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, daß die Drogentodesfälle mit einiger Sicherheit aus der gleichen Population stammen wie die durch das Repressionssystem erfassba­ren Personen. Die Todesfälle scheinen auch bei Perso­nen mit langdauernder Karriere nicht häufiger zu sein.

G4.2.1: Alter der im Jahre 1990 durch die Polizei registrierten Drogentoten.

Die Altersverteilung der Drogentodesfälle des Jahres 1990 ist flacher als diejenige der polizeilich erfaßten Personen (vgl. die Grafiken G4.3.4A bis E). Dies mag daran liegen, daß einerseits vermehrt Unfälle bei eher jungen, unerfahrenen Dro­genkon­sumierenden auftreten, die unter Umständen von der Polizei und den Gerichten nicht erfaßt sind, und daß andererseits auch häufig Todesfälle bei älte­ren, erfahrenen Be­nutzern mit lang dauernder Karriere auftreten, die sich aktuell der Verhaftung, An­zeige oder Verurteilung zu entziehen wußten. Diese sind wohl schon in früheren Jah­ren erfaßt worden, standen jedoch zur Zeit ihres Todes kaum mehr unter polizeili­cher Beobachtung.

Auf Grundlage dieser Daten erfolgt im anschließenden Kapitel eine Baseline-Schätzung der Zahl der regelmäßigen Drogenkonsumierenden mit einem Schwer­gewicht auf die intravenös konsumierenden Personen für das Jahr 1990.

4.2.2 Populationsgrößenschätzung aufgrund der Mortalität

Verschiedentlich sind aufgrund von Mortalitätsdaten alleine Prävalenzschätzungen vorgeschlagen worden. Dabei wird der Einfachheit halber der Kehrwert der aus an­deren Daten geschätzten Mortalität der Population mit der Anzahl der Drogen­todes­fälle multipliziert: = n/w. Die Mortalität der Population wird in der Litera­tur auf 1-2% geschätzt,3 ein Wert, der gemäß den Ergebnissen der nun vorliegen­den Unter­suchung für schwer abhängige, regelmäßig Heroinkonsumierende eher zu niedrig liegt. Ein Problem besteht darin, daß unklar bleibt, inwieweit die Anzahl der amtlich registrierten Drogentoten tatsächlich ein gültiger Indikator für die Mortalität in der Grundpopulation ist.4

Einen Hinweis auf die Sterbe- beziehungsweise Überlebenswahrscheinlichkeit gibt die Aussage eines seit 17 Jahren regelmäßig Heroin Injizierenden. Befragt über den Verbleib seines langjährigen, auf dieselbe Weise drogenkonsumierenden Bekannten­kreises, sagte er: «Also von diesem Kreis, mit dem ich konsumiert habe, ist eigent­lich nicht mehr viel übrig. Eigentlich sind wir nur noch zwei, der Rest fehlt ein­fach.[…] Im Knast. Ich würde vor allem sagen, im Knast. Tot einer, zwei, zum Teil auch normal. Mit all diesen Therapien. Zwei trinken nicht einmal mehr» (#3, 2/9-11, 15-17).

Die Schätzung erfolgt hier auf Grundlage des einfachen Petersen-Verfahrens mit­tels Mortalitätsdaten einerseits und Repressionsdaten andererseits. Eine zeitliche Ver­schiebung liegt nicht vor. Die lokale Abdeckung ist für beide Stichproben gleich, sie bezieht sich auf die ganze Schweiz. Die Modellvoraussetzungen sind erfüllt. Zu schätzen ist sowohl die Gesamtpopulation als auch nach Geschlechtern getrennt für das Jahr 1990. In der Datenbasis der im Strafregister verzeichneten Drogentoten be­trägt die durchschnittliche Zeitdauer vom ersten Vermerk im Straf­register bis zum Drogentod etwa fünf Jahre. Die in den letzten drei oder fünf Jahren wegen sogenann­ter Drogendelikte im Strafregister verzeichneten 10’000 bis 20’000 Personen sind valide Schätzer für die Anzahl der registrierten Personen, die in einer bestimmten Zeitspanne ebenfalls ein deutlich von null abweichendes Risiko haben, zu sterben und als Drogentote registriert zu werden.

Die Daten des Strafregisters werden durch das Bundesamt für Statistik aufgearbeitet. Aus epide­miologischer Sicht liegt ein Problem des Strafregisters darin, daß in dieser Daten­basis keine Information zur konsumierten Substanz vorliegt. Reine Haschisch­konsumenten müßten beispiels­weise ausgeschlossen werden. Dieser Anteil ist mit etwa 20% in Anschlag zu brin­gen. Diese Gesamtheit wird als zweite unabhängige Stichprobe zu den Drogentodes­fällen in Beziehung gesetzt. Sie ist eine Schätz­größe für die Zahl der im Jahre 1990 lebenden und im Strafregister verzeichneten Konsumierenden von harten, illegalen Drogen.

T4.2.2A: Anzahl der Personen, die in einer bestimmten Zeitspanne wegen Drogen­konsums im Strafregister eingetragen wurden.

Eingetragene Personen und Urteile eines Jahres.

ZeitraumMännerFrauenInsgesamtAnzahl Verurteilungen
1984366574044054665
1985380071245124832
1986396177947405098
1987421188250935456
1988466285355155914
1989447781752945722
1990448881453025713
1991519392861216668
19925486582356886108
19935792106068527105
19945680101566957262

Eingetragene Personen während drei Jahren.

ZeitraumMännerFrauenInsgesamt
1985-198710190201112201
1986-198810928213913067
1987-198911395219813593
1988-199011604213313737
1989-199112029222714256
1990-199212332220914541
1991-199313250239215642
1993-199413550244715997

Eingetragene Personen während fünf Jahren.

ZeitraumMännerFrauenInsgesamt
1985-198916191314519336
1986-199016672324319915
1987-199117650338821038
1988-199218190333821528
1989-199318819349922318
1990-199419572361623188

Die Entwicklung der Fallzahlen im Strafregister über die Zeit ist im Vergleich zu den Anzeigezahlen moderat. Zwar wächst die Zahl der jährlichen Konsumver­urteilungen von 1985 bis 1994 um mehr als fünfzig Prozent, die Zahl der eingetra­genen Personen im Fünfjahreszeitraum von 1985-1989 gegenüber 1990-1994 hin­gegen nur um etwa zwanzig Prozent. Im Vergleich zum stärkeren Anstieg der Zahl der Verfahren ist dies durch eine erhöhte Frequenz der Verfahren zu erklären: Altbekannte Drogen­konsumenten, vor allem Personen, die auch aus anderen Gründen auffällig sind (Verletzung von Verkehrsregeln, Verstöße gegen das Ausländergesetz, kleine Eigen­tumskriminalität und so weiter) werden in immer kürzeren Abständen mit Verfahren belegt.

Besonders im Bereich der Verbindung von ANAG (Gesetz über den Aufent­halt und die Niederlassung von Ausländern, kurz Ausländergesetz) und BetmG hat sich in der Schweiz die Fallzahl überproportional erhöht. Seit 1991 ist nicht nur der Druck auf die Drogenkonsumierenden, sondern auch auf die Ausländer gewachsen. So wird in der veröffentlichten und damit öffentlichen Meinung der «dealende Aus­länder» zum gut gefüllten Bild.

T4.2.2B: Als Drogentodesfälle gemeldete Personen nach dem Jahr des ersten Straf­registereintrags wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmittelgesetz (ohne Kanton Zürich).


Todesjahr
Jahr des ersten Eintrags1989 N %1990 N %1991 N %1992 N %1993 N %1994 N %1995 N %
Kein Eintrag9353111511625619056134521625214051
Vor 198522124018259227249196176
1985158126207175125114124
19861588414511373155114
1987137841551037393114
19881161361551758312462
19898515715518512510352
1990

11514520613517673
1991



932161879383
1992





124177207124
1993







73217228
1994









31228
1995











11
insgesamt177
218
289
338
259
308
274

T4.2.2C: Als Drogentodesfälle gemeldete Personen nach dem Jahr des ersten Straf­registereintrags unabhängig vom Delikt (ohne Kanton Zürich).


Todesjahr
Jahr des ersten Eintrags1989 N %1990 N %1991 N %1992 N %1993 N %1994 N %1995 N %
Kein Eintrag61346429993411735752999329133
Vor 19855129653048175015441740133212
198517101573010247156196207
1986158188238216145196145
198718102110186185135134238
19889511523822720819673
19896313617626816613583
1990

115228206166217166
1991



9331921814593
1992





93197268135
1993







62217207
1994









41176
1995











42
insgesamt177
218
289
338
259
308
274

T4.2.2D: Als Drogentodesfälle gemeldete Personen nach dem Jahr des ersten Straf­registereintrags (Kanton Zürich eingeschlossen).


Todesjahr
Jahr des ersten EintragsEintrag wegen BetmG 1989 1990Eintrag überhaupt 1989 1990
Kein Eintrag1341568495
Vor 198529486877
198518142617
198619102022
198718122229
198816151715
198913181017
1990
11
12
insgesamt247284247284

Offensichtlich sind die Zeitpunkte des ersten Eintrages breit gestreut und folgen weitgehend einer Gleichverteilung. Die Terminierung des ersten Eintrags vor 1985 ist unsicher, da die Datenquellen für diesen Zeitraum häufig nur das Vorliegen eines Eintrages bestätigen, nicht aber dessen genaues Datum.

Deutlich wird auch, daß unter den bei den Strafverfolgungsbehörden bekannten ver­storbenen Personen nicht in erster Linie solche als Drogentodesfälle registriert wer­den, die erst seit kurzem bekannt sind, sondern in der Regel Personen, die schon vor einiger Zeit kriminalisiert worden sind.

Aus Gründen der Struktur der Datenerhebung und der Datenlage können zur Zeit nur die polizeilich registrierten Drogentodesfälle des Jahres 1990 zum capture-recapture hinzugezogen werden. Ein Grund hierfür liegt darin, daß der Kanton Zürich als einziger Kanton seit 1991 den Bundesbehörden keine individualisier­baren Informationen über Drogentote überläßt. In Anbetracht der umfangreichen gesam­melten, nicht anonymen und an viele Dienststellen weitergeleiteten Konsumentenda­ten befremdet eine solche mit Hinweis auf den Datenschutz betrieben Praxis.

Im­merhin läßt sich feststellen, daß die Hälfte der Drogentoten früher mindestens einmal auf Grund des Betäubungsmittelgesetzes im Strafregister eingetragen wurden. Insge­samt zwei Drittel sind im Strafregister ver­zeichnet. Diese Anteile haben sich zwi­schen 1989 und 1995 nicht wesentlich ver­ändert. Frauen, die an einer Überdosis oder in Zusammenhang mit Drogen­gebrauch verstarben und von der Polizei als Dro­gentote erfaßt wurden, waren bedeutend seltener im Strafregister eingetragen als Männer. Von den 1989 bis 1995 verstorbenen Frauen waren 49% im Strafregister verzeichnet, 38% wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz. Von den verstorbenen Männern waren 72% im Strafregister verzeichnet, 49% wegen Ver­stößen gegen das Betäu­bungsmittelgesetz. Der Anteil unauffälliger Frauen ist damit auch unter der risi­koreich Konsumierenden bedeutend höher als der Anteil unauffäl­liger Männer.

Tabelle T4.2.2E zeigt zum besseren Überblick den zeitlichen Verlauf der polizei­lich registrierten Drogentodesfälle und der AIDS-Todesfälle, die unter ehemaligen oder aktuellen injizierenden Drogenkonsumierenden aufgetreten sind. Die Wahr­schein­lichkeit von Doppelzählungen ist gering. Fälle von an einer Überdosis Verstorbenen, die polizeilich als Drogentote registriert und gleichzeitig auch im AIDS-Register aufgenommen wurden, sind jedoch nicht auszuschließen. Hier nicht aufgeführt sind Todesfälle aus anderen Gründen (Hepatitis, Unfälle etc.).

T4.2.2E: Polizeilich registrierte Drogentodesfälle und AIDS-Todesfälle unter ehe­maligen oder aktuell injizierenden Drogenkonsumierenden.


Polizeilich6 registriertAIDS-Todesfälle7
Jahrinsgesamt NMänner %insgesamt NMänner NMänner%Frauen N
1982109111000
1983144000
1984133111000
198512053802
1986136119912
1987201731912637
19882027779546825
198924676122867036
1990284801611237638
1991398831751156660
1992419832621826980
1993353812611696592
1994399822922037089
199536180



Auffällig ist der relativ hohe Männeranteil bei den Drogentoten im Vergleich mit den AIDS-Todesfällen unter Drogenkonsumierenden. Während die AIDS-Todes­fälle die Belastung der beiden Geschlechter unter den Konsumierenden einiger­massen gut abbilden, ist der Männerüberhang bei den Drogentoten in erster Linie auf die Über­repräsentation der Männer im Repressionsbereich zurückzuführen. Möglicherweise sterben die Frauen tatsächlich seltener an einer Überdosis, oder aber der Todesfall wird seltener als Drogentodesfall erkannt.

Die folgenden Tabellen zeigen Gruppengrößenschätzungen der Population mit Ri­siko, im Todesfall als Drogentote erfaßt zu werden auf Grundlage der im Straf­regi­ster erfaßten Personen unter verschiedenen Annahmen. Der Anteil der nicht regi­strierten Personen unter den Drogentodesfällen wird dabei hochgerechnet auf die Gesamtheit der erfaßten Personen im Strafregister.

Als registriert werden alle Personen betrachtet, die einen Eintrag im Strafregister ha­ben und zwar unabhängig von dem Zeitpunkt des ersten Eintrags. Aufgrund der ho­hen Wiederverurteilungsraten hatten viele auch einen Eintrag im fraglichen Zeitpunkt oder mindestens ein Verfahren hängig, dessen Ausgang im Strafregister nicht ver­zeichnet wurde. Aus diesem Grund wird als Basis der Berechnung nicht das Jahr des ersten Eintrags verwendet, sondern der Umstand der Eintragung über­haupt.

T4.2.2F: Gruppengrößenschätzung nach Petersen. Einträge in das Strafregister auf­grund des Betäubungsmittelgesetzes und Drogentodesfälle.

Drei Jahre Beobachtungszeit (1987-1989) ohne Korrektur für Konsumierende ande­rer Substanzen als Heroin oder Kokain – registrierte Drogentodesfälle des Jahres 1990.

Mit BetmG-VerurteilungenDrogentodesfälle ja neinTotal
registriert1281346513593
nicht registriert156(16409)(16565)
Total284(29874)(30158)

95% Konfidenzintervall von : 26’222 – 34’095

Fünf Jahre Beobachtungszeit (1985-1989) ohne Korrektur für Konsumierende an­derer Substanzen als Heroin oder Kokain – registrierte Drogentodesfälle des Jahres 1990.

Mit BetmG-VerurteilungenDrogentodesfälle ja neinTotal
registriert1281896119089
nicht registriert156(23108)(23264)
Total284(42069)(42353)

95% Konfidenzintervall von : 36852 – 47’880

Fünf Jahre Beobachtungszeit (1985-1989), Abzug von 20% für Konsumierende von anderen Substanzen als Heroin oder Kokain – registrierte Drogentodesfälle des Jah­res 1990.

Mit BetmG-VerurteilungenDrogentodesfälle ja einTotal
registriert1281514315271
nicht registriert156(18455)(18611)
Total284(33598)(33882)

95% Konfidenzintervall von : 29’460 – 38’303

Die Werte von variieren auf Grund des Problems, den exakten Umfang der im jeweiligen Zeitraum im Strafregister verzeichneten noch lebenden Personen zuver­lässig zu bestimmen. Deren Größenordnung kann zwar angesichts der geringen Va­rianz der Zahlen der über den Zeitraum von mehreren Jahren registrierten Per­sonen angegeben werden. Dennoch ist eine Schätzung der Gruppengröße mit einer Abwei­chung in der Größenordnung von deutlich unter 10’000 Individuen nicht möglich. Ein weiterer Grund für die großen Konfidenzintervalle der Schätzung liegt in der kleinen Zahl der polizeilich registrierten Drogentoten.

Beträchtlich unzuverlässiger sind die Ergebnisse bei der einfachen Hochrechnung der Mortalität, wie sie vielfach mangels besseren Datenmaterials vorgenommen wurde.8 Bei der Annahme einer Mortalität von 1, 2, 3 oder 4% lassen sich auf­grund der polizeilich registrierten Drogentodesfälle Gruppengrößen von 28’400, 14’200, 9’467, 7’100 für das Jahr 1990 und 39’900, 19’950, 13’300, 9’975 für das Jahr 1994 schätzen (vgl. Tabelle T4.2.2E). Unter Addition der registrierten AIDS-Mortalität lauten die entsprechenden Werte 44’500, 22’250, 14’833, 11’125 für das Jahr 1990 und 69’100, 34’550, 23’033, 17’275 für das Jahr 1994.

Die Variabilität der Schät­zun­gen ist groß und diese haben nur einen heuristischen Wert, sie sind also unzu­verläs­sig. Eine geschätzte Gruppengröße von 30’000 Personen führt zur Annahme einer polizeilich registrierten Drogenmortalität von 0,95% im Jahre 1990 und von 1,33% im Jahre 1993, unter Addition der AIDS-Mortalität von 1,48% und 2,30%. Zu be­achten ist, daß der polizeilich registrierte Drogentod kein optimaler Nähe­rungswert für die Todesfälle unter regelmäßigen aktuell Heroin- oder Kokainkonsumierenden ist.9 Er läßt andere Todesursachen unberücksichtigt.

Diesem Problem ist das vor­gestellte capture-recapture Verfahren nicht unterworfen, da es die polizeilich registrierten Todesfälle als Stichprobe aus der Population der Konsumierenden be­greift und keine Vollständigkeit bezüglich Todesfällen unter Konsumierenden unter­stellt. Von den polizeilich registrierten Drogentodesfällen sind auf den Sterbekarten, die vom Arzt auszufüllen sind, der den Tod festgestellt hat, ungefähr 80% als Todes­fälle vermerkt, die mit Drogenkonsum in Zusammen­hang gebracht werden könnten. Umgekehrt werden auf der Sterbekarte auch Dro­gentodesfälle verzeichnet, die der Polizei nicht als solche bekannt sind.

Damit dürfte sich, Todesfälle durch Infektions­krankheiten, Unfälle etc. eingerechnet, die absolute jährliche Sterblichkeit10 der Kernpopulation der Drogenkonsumierenden in den neunziger Jahren auf ungefähr 700 belaufen. Dies entspricht einer Mortalität zwischen zwei und drei Prozent. Die Mortalität dreißigjähriger Personen in der Gesamtpopulation beträgt 1 Promille, 0,6 Promille bei Frauen und 1,6 Promille bei Männern.11 Die relative Sterblichkeit der suszeptiblen Konsumierenden ist damit gegenüber der Gesamtpopulation um etwa den Faktor zwanzig erhöht. Signifikante Unterschiede zwischen den Geschlechtern bei suszeptiblen Drogen­konsumierenden sind auf Grundlage der vorhandenen Daten nicht auszumachen. In Anbetracht der deutlich niedrigeren Mortalität von Frauen in den betroffenen Altersgruppen der Schweizer Wohnbevölkerung erhöht die Zugehö­rigkeit zu der suszeptiblen Population die Sterblichkeit der Frauen mindestens so stark wie die­jenige der Männer. Im folgenden sind die Gruppengrößen nach Ge­schlecht getrennt geschätzt. Dies ist unter Berücksichtigung der größeren Repressi­onsim­munität von Frauen besonders interessant.

T4.2.2G: Gruppengrößenschätzung nach Petersen. Drogentodesfälle und BetmG-Verurteilungen, nach Geschlecht.

Alle registrierten Männer bei fünf Jahren Beobachtungszeit (1985-1989) und alle registrierten Drogentodesfälle des Jahres 1990 unter Männern, ohne Korrektur für Konsumenten anderer Substanzen als Heroin oder Kokain.

Mit BetmG-VerurteilungenDrogentodesfälle 1990 ja neinTotal
registriert (1985-1989)1121586915981
nicht registriert116(16435)(16551)
Total228(32304)(32532)

95% Konfidenzintervall von : 28’166 – 36’898

Bei Korrektur von Konsumenten anderer Substanzen von 20%:

Mit BetmG-VerurteilungenDrogentodesfälle 1990 ja neinTotal
registriert (1985-1989)1121267312785
nicht registriert116(13125)(13241)
Total228(25798)(26026)

95% Konfidenzintervall von : 22’533 – 29’518

Alle registrierten Frauen bei fünf Jahren Beobachtungszeit (1985-1989) und alle re­gistrierten Drogentodesfälle des Jahres 1990 unter Frauen, ohne Korrektur für Kon­sumentinnen anderer Substanzen als Heroin oder Kokain.

Mit BetmG-VerurteilungenDrogentodesfälle 1990 ja neinTotal
registriert (1985-1989)1630923108
nicht registriert40(7729)(7769)
Total56(10821)(10877)

95% Konfidenzintervall von : 6’417 – 15’337

Bei Korrektur von Konsumentinnen anderer Substanzen von 20%:

Mit BetmG-VerurteilungenDrogentodesfälle 1990 ja neinTotal
registriert (1985-1989)1624702485
nicht registriert40(6175)(6215)
Total56(8645)(8701)

95% Konfidenzintervall von : 5’131 – 12’262

Wie zu erwarten ist, läßt sich die Gruppengröße von Konsumentinnen mit diesem Verfahren nur innerhalb eines sehr weiten Vertrauensbereichs schätzen. Die Punkt­schätzer zeigen allerdings eine Relation Männer zu Frauen von drei zu eins. Bei den polizeilich registrierten Drogentodesfällen besteht ein Verhältnis von vier zu eins, bei den AIDS-Todesfällen unter aktuellen oder ehemaligen injizierenden Drogen­konsumierenden von etwas mehr als zwei zu eins. Im Gegensatz dazu steht das Ver­hältnis Männer zu Frauen im Repressionsbereich fünf zu eins bei den Anzeigen, sechs zu eins bei den Verurteilungen und sogar zehn zu eins bei den Gefängnisein­weisungen. Die Relation drei zu eins spiegelt eher das Verhältnis wider, das im me­dizinischen und im sozialarbeiterischen Bereich zu erwarten ist. Insofern sind auch die hier vorgestellten Schätzgrößen, die gleichzeitig aus dem Gesundheits- und dem Repressionsbereich abgeleitet sind, konsistent mit den Massendaten aus anderen Bereichen.

Da die Repressionsinstanzen über einen Drittel der Männer und über die Hälfte der Frauen, die risikoreich konsumieren, bei Drogentodesfällen auf Basis des Strafre­gisters keine Informationen haben, ist die unauffällige Population als nicht klein ein­zuschätzen. Während des Zeitraums 1990 bis 1994 sind insgesamt 36’000 Per­sonen durch die Polizei wegen Heroin- oder Kokainkonsums registriert worden. Dies stützt die Annahme, daß die Zahl der Konsumierenden insgesamt, unregel­mäßig Konsu­mierende eingeschlossen, ohne weiteres mehr als 50’000 betragen kann. Zur Zeit werden jährlich über 25’000 erfaßt. Zu berücksichtigen bleibt, daß auch Ausländer registriert werden.

Die Ergebnisse der Gruppengrößenschätzung im Zusammenhang mit der Mortali­tät stimmen mit denjenigen aus den polizeilichen Repressionsdaten im Kapitel 4.4 überein.Die in Kapitel 2.3.2 vorgestellte Hypothese über das Verhältnis zwischen Repressions- und Medizinalisierungsimmunität wird bestätigt. Mit verstärkter Re­pression nimmt der Anteil der medizinalisierten Personen zu. Tatsächlich hat sich die Zahl der Methadonverschreibungen seit 1988 sogar verdreifacht, hingegen die Zahl der Anzeigen nur verdoppelt. Dieser starke Anstieg ist auf die Änderung in der Ver­schreibungspraxis ab 1991 zurückzuführen, die momentan nieder­schwellig gehand­habt wird. Zur Zeit sind fast die Hälfte der geschätzten ca. 30’000 aktuellen, regel­mäßigen, mitunter abhängigen, harte Opiate konsumierende Perso­nen12 mit Metha­don substituiert. Allein im Jahr 1994 wurden 14’500 Personen, also knapp die Hälfte der geschätzten potentiell suszeptiblen Population, wegen Verstoßes gegen das Be­täubungsmittelgesetz auf Grund des Konsums von Heroin oder Kokain polizeilich angezeigt. Die Überlappung der beiden Gruppen dürfte beträchtlich sein, kann aber zur Zeit empirisch nicht dargestellt werden.

Anders sieht es bei den integrierten Konsumierenden des qualitativen Samples aus. Die Wahrscheinlichkeit, im medizinischen Bereich erfaßt zu werden, schätzen diese Personen für sich höher ein als die Gefahr einer Erfassung durch das Repressionssy­stem. Hier wird deutlich, daß diese Personengruppe den Kontakt zu Institutionen medizinischer Betreuung – wenn überhaupt – aus eigenem Antrieb aufnehmen.

4.2.3 Populationsgrößenschätzung aufgrund der Verbindung mit den qualitativen Ergebnissen

Die mittleren Erfassungswahrscheinlichkeiten w der integrierten Teilnehmer des qualitativen Teils der Untersuchung (vgl. Kap. 3.3) liegen im repressiven Bereich bei 0.11 für die Eigenperzeption einer Erfassung und bei 0.27 für eine Erfassung der Personen der Bezugsgruppe. Für den medizinischen Bereich liegen die Werte für die Inanspruchnahme bei 0.29 für die Eigenperzeption bei 0.26 und für die Bezugs­gruppe bei 0.28 (vgl. Tabelle T3.3).

Bei der Zahl der von 1990 bis 1994 als Konsumierende von Heroin oder Kokain in der Schweiz polizeilich angezeigten Personen von 36’000 und einem durchschnitt­lichen w von 0.39, das die integrierten und nicht integrierten Befragten für ihre Be­zugsgruppe angaben, ließe sich ein von 92’000 ermitteln.13 Bei einem w von 0.22, das als Eigenperzeption angegeben wurde, liegt der Wert von sogar bei 164’000. Objektiv angezeigt oder verhaftet wurde im Mittel mit w=0.37, was einem von 78’000 entspricht. Die integrierten Befragten perzipierten für sich selbst eine durch­schnittliche Verhaftungs- oder Anzeigewahrscheinlichkeit von w=0.11, woraus sich ein von 327’000 errechnet. Diese äußerst hohen, aber unrealistischen Zahlen las­sen zwei Schlüsse zu: Erstens wird die eigene Repres­sionsimmunität und diejenige ihrer Bezugsgruppe vor allem durch die integrierten Befragten sehr hoch einge­schätzt und zweitens ist der Umfang der Population der Repressionsimmunen und der Gelegenheitskonsumierenden wohl kaum kleiner als derjenige der Suszeptiblen.

Bei der Zahl von 6’000 von 1989 bis 1993 wegen Konsums von Betäubungsmitteln insgesamt in den Strafvollzug eingewiesenen Personen und einem durchschnittli­chen w von 0.22 für die Bezugsgruppe der integrierten und nicht integrierten Kon­sumie­renden ergibt sich ein von 27’000. Auch die integrierten, selber nicht repressiv erfaßten Befragten geben für ihre Bezugsgruppe ein durchschnittliches w von 0.18 an, woraus sich =33’000 errechnet. Auch die integrierten Konsumie­renden schätzen die Wahrscheinlichkeit für die Mitglieder ihrer Bezugsgruppe, eine Gefängnisstrafe absitzen zu müssen, als nicht klein ein. Offensichtlich unter­halten auch sie in der Regel Kontakt zu einem Personenkreis, den sie als durch die Repres­sion gefährdet einschätzen. Diese Gefährdung übertragen sie in ihrer Ein­schätzung jedoch nicht auf sich selber (w=0.01).

Bei der aktuellen Zahl von Personen in Methadonprogrammen im Jahre 1994 von ungefähr 14’000, einer grob geschätzten kumulierten Zahl von 20’000 behandelten Personen von 1990 bis 1994 und bei einem durchschnittlichen w für medizinische Betreuung von 0.29 beträgt =69’000, bei w=0.26 für Eigenrezeption =77’000 und bei w=0.28 für die Bezugsgruppe =71’000.Die integrierten Mitglieder unse­res qualitativen Samples schätzen die Möglichkeit, sich selbst in medizinische Betreu­ung begeben zu müssen, genau so hoch ein wie für ihre Bezugsgruppe. Die Aus­schöpfung der suszeptiblen Population ist im Bereich der Medizin nicht unbe­dingt niedriger als im Bereich der Repression.

In Anbetracht der für die Motivation im medizinischen Bereich erforderlichen Freiwilligkeit ist die Ausschöpfung der zur Therapie überhaupt heranzuziehenden Population bereits jetzt schon hoch. Die Hälfte der als therapiebedürftig einzuschätzenden Personen, die sich unter Umstän­den auch therapieren lassen möchten, dürfte schon erreicht sein, vielleicht sogar schon mehr. Mehr als ein Drittel der regelmäßigen, aktuell Konsumieren­den ist je­denfalls durch Therapie bereits erreicht. Zu beachten ist, daß auch hier alle Schätzer, die Medizinalisierungs- und Repressionsbereich koppeln, höher als 50’000 liegen. Diese Bezugsgröße enthält mit Sicherheit auch Gelegenheits­konsumierende.

Die aus dem qualitativen Sample abgeleiteten Schätzungen liegen regelmäßig etwa um das doppelte höher als die capture-recapture Schätzungen aus den Massen­daten. Dies hängt damit zusammen, daß das qualitative Sample tendenziell auf re­pressions- und medizinalisierungsimmune Personen ausgerichtet ist, so daß die dar­aus resultierenden Schätzungen weitere Kreise, insbesondere auch Gelegen­heitskon­sumierende einschließen. Wegen der Unsicherheit in der Ermittlung der Werte für w sollte diesen Gruppengrößenschätzungen jedoch nur heuristische Bedeutung zuge­messen werden. Eine verlässliche Prävalenz läßt sich durch diese Methode nicht angeben.

4.2.4 Populationsgrößenschätzung aufgrund von Überschneidungen mit anderen Untersuchungen

Die Untersuchung «Population cachée»14 ermöglicht einen Einblick in die Popula­tion, die sich nicht a priori in institutioneller Betreuung befindet, sei es durch Medi­zin, Sozialarbeit oder Repression. Diese Untersuchung unterscheidet sich durch den Zugang zur Population von den Resultaten der Daten aus dem medizinischen oder repressiven Bereich.

Die Bezugsgruppe der Schätzung dieser Gruppengröße ist nicht klar definiert. Das eine Sample enthält offensichtlich einen großen Anteil an Personen, die in hohem Grade sowohl gegenüber Medizinalisierung wie auch gegenüber Repression immun sind. Die Stichproben enthalten also Personen, die nicht zu dem inneren Kern der aktuellen, regelmäßigen, mitunter abhängigen Konsumierenden gehören. Gelegen­heitskonsumierende sind deshalb durch diese Gruppengrößenschätzung nicht ausge­schlossen. Die Untersuchung «Population cachée» ist explizit auf «verborgene» Konsumierende ausgerichtet und deshalb in diesem Aspekt verzerrt. Dies führt zu einer Überschätzung der suszeptiblen Population. Trotzdem gibt diese Analyse einen weiteren guten Hinweis darauf, daß die Zahl von 50’000 Kon­sumierenden von har­ten, illegalen Drogen, nicht abhängige und sporadische Konsumierende eingeschlos­sen, in der Schweiz erreicht, eventuell sogar über­troffen wird, eine Zahl, die einer gesamtbevölkerungsbezogenen Prävalenz von sieben Promille entspricht.

T4.2.4A: Gruppengrößenschätzung nach Petersen. Personen außerhalb medizini­scher Betreuung, nach eigenen Angaben über Verurteilungen mit allen we­gen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz registrierten Personen bei fünf Jahren Beobachtungszeit (1989-1993).


Personen außerhalb medizinischer Betreuung
Mit BetmG-Verurteilungenim Samplenicht im SampleTotal
registriert1822213622318
nicht registriert326(39649)(39975)
Total508(61785)(62293)

95% Konfidenzintervall von : 54915 – 69671


Männer außerhalb medizinischer Betreuung
Mit BetmG-Verurteilungenim Samplenicht im SampleTotal
registriert1421867718819
nicht registriert216(28409)(28625)
Total358(47086)(47444)

95% Konfidenzintervall von : 41’280 – 53’608


Frauen außerhalb medizinischer Betreuung
Mit BetmG-Verurteilungenim Samplenicht im SampleTotal
registriert4034593499
nicht registriert110(9511)(9621)
Total150(12970)(13120)

95% Konfidenzintervall von : 9’611 – 16’630

T4.2.4B: Gruppengrößenschätzung nach Petersen. Personen in medizinischer Be­treuung, nach eigenen Angaben über Verurteilungen mit allen wegen BetmG-Verstößen registrierten Personen bei fünf Jahren Beobachtungs­zeit (1989-1993).


Personen in medizinischer Betreuung
Mit BetmG-Verurteilungenim Samplenicht im SampleTotal
registriert1692214922318
nicht registriert69(9042)(9111)
Total238(31191)(31429)

95% Konfidenzintervall von : 28’833 – 34’025


Männer in medizinischer Betreuung
Mit BetmG-Verurteilungenim Samplenicht im SampleTotal
registriert1381868118819
nicht registriert48(6497)(6545)
Total186(25178)(25364)

95% Konfidenzintervall von : 23’178 – 27’550


Frauen in medizinischer Betreuung
Mit BetmG-Verurteilungenim Samplenicht im SampleTotal
registriert3134683499
nicht registriert21(2348)(2369)
Total52(5816)(5868)

95% Konfidenzintervall von : 4’550 – 7’187

Die Schätzung aus der Kombination der Personen in medizinischer Betreuung mit den Strafregistereinträgen ist kompatibel mit denjenigen aus den Mortalitätsdaten (Kap. 4.2.2) und mit denjenigen aus den Repressionsdaten im Zeitverlauf (Kap. 4.4). Die Mortalitätsdaten ergeben tendenziell höhere Schätzwerte, Repressions­daten im Zeitverlauf leicht niedrigere. Ihre Bezugsgröße ist die Zahl der aktuellen, regelmäßi­gen Konsumierenden, die weder gegenüber der Repression noch gegen­über der me­dizinischen Betreuung absolut immun sind. Das Geschlechterverhältnis zeigt keine Unterschiede zwischen den verschiedenen Stichproben und liegt bei vier Männern zu einer Frau. In bezug auf medizinische Betreuung scheint es im Gegensatz zur Repression keine großen Immunitätsunterschiede zwischen Männern und Frauen zu geben.

T4.2.4C: Gruppengrößenschätzung nach Petersen. Alle befragten Personen nach ei­genen Angaben über Verurteilungen mit allen wegen BetmG-Verstößen registrierten Personen bei fünf Jahren Beobachtungszeit (1989-1993).


Personen in und außerhalb medizinischer Betreuung
Mit BetmG-Verurteilungenim Samplenicht im SampleTotal
registriert3512196722318
nicht registriert395(24720)(25115)
Total746(46687)(47433)

95% Konfidenzintervall von : 43’753 – 51’112

Diese Schätzung schließt nur Repressionsimmune aus, eingeschlossen sind hinge­gen mit Sicherheit auch Personen, die selten und unregelmäßig konsumieren. Die Grup­pengrößenschätzung aus Tabelle T4.2.4A liegt höher als diejenige in Tabelle T4.2.4C, weil sie den weitesten Kreis der tendenziell medizinalisierungsimmunen Personen einschließt, während Tabelle T4.2.4C prinzipiell eine höhere Medizina­li­sierungs- und Repressionssuszeptibilität unterstellt. Tatsächlich dürften bei einem unbeschränktem Einsatz von Mitteln15 im Repressions- und Behandlungsbereich nicht bloß 30’000 aktuelle, regelmäßige Konsumierende, sondern vielleicht sogar 20’000 zusätzliche gelegentlich Konsumierende erreicht werden.

T4.2.4D: Gruppengrößenschätzung nach Petersen. Alle befragten Personen, nach eigenen Angaben über Gefängnisaufenthalt mit allen wegen Betäu­bungs­mittelkonsums in Strafanstalten eingewiesenen Personen bei fünf Jahren Beobachtungszeit (1989-1993).


Personen in und außerhalb medizinischer Betreuung

im Samplenicht im SampleTotal
Gefängnisaufenthalt26755905857
kein Gefängnisaufenthalt477(9986)(10463)
Total744(15576)(16320)

95% Konfidenzintervall von : 14’723 – 17’916

Die Verbindung der Stichproben der wegen Betäubungsmittelkonsums verurteilten Gefängnisinsassen und der Personen in und außerhalb medizinischer Betreuung bringt relativ kleine Werte für .16 Die Gruppengröße von 16’000 reflektiert Per­so­nen mit einem hohen Risiko für strafrechtliche Verfolgung und anschließende Ge­fängniseinweisung.17 Bei bloßem Konsum und legaler Beschaffung des Lebens­unter­halts kommen solche Fälle nicht sehr häufig vor. Es bleibt in der Regel bei einer Buße oder bei einer Bewährungsstrafe, eventuell mit Anrechnung der Unter­su­chungshaft oder bei einer strafrechtlichen Maßnahme, die nicht im Gefängnis vollzo­gen wird. Möglicherweise haben auch einige Personen in dieser Unter­suchung die Frage nach einem Gefängnisaufenthalt mit ja beantwortet, die bloß aufgrund einer Verhaftung ein oder zwei Tage in Arrest waren. Immerhin werden zur Zeit in der Schweiz jährlich etwa 2’000 Personen wegen Verstoßes gegen das Betäubungsmit­telgesetz zum Strafvollzug in ein Gefängnis eingewiesen.

Fussnoten

1 Schick, M.T.; Alberto Y.J.: Epidemiologische Analyse der Drogentodesfälle in der Schweiz 1990-1993. Unter Einbezug der Jahre 1987-1989. Schlußbericht zuhanden des Bundesamtes für Gesundheitswesen. Bern 1994 (unveröffentlicht). Schick, M.T.; Schär, A.; Alberto, Y.J.; Minder, C.E.: Epidemiologische Analyse der Drogentodesfälle in der Schweiz 1987-1989. Schlußbericht zuhanden des Bundesamtes für Gesundheitswesen, Bern 1991.

2 ICD: International Classification of Diseases. Eine deutsche Fassung ist publiziert: Internatio­nale Klassifikation der Krankheiten und Todesursachen (8. Revision). Hrsg.: Eidgenössisches Statistisches Amt, Bern, 1970. Zur Zeit wird die Schweizer Mortalitätstatistik auf ICD 10 um­gestellt.

3 Korf et al. a.a.O. 1994, S. 1399

4 Alleine die Zahl der AIDS-Todesfälle bei Personen, die intravenös Heroin oder Kokain konsumiert haben, beträgt seit 1992 mehr als 250 jährlich, im Jahre 1990 waren es erst 160. Unbekannt ist allerdings, ob die betroffenen Personen in ihrem Todesjahr noch aktuelle Kon­sumenten waren.

5 Der Rückgang der Zahl der Verurteilungen im Jahre 1992 ist auf eine Änderung der Strafregi­sterverordnung zum 1.1.1992 zurückzuführen. Für die späteren Jahre sind auch noch verein­zelte Nachmeldungen möglich.

6 Die Daten sind strikt nach Jahr des Todes aufgelistet und weichen deshalb von denjenigen ab, die das BAP veröffentlicht hat. Vgl. auch Schick, M.T.; Alberto Y.J.: Epidemiologische Ana­lyse der Drogentodesfälle in der Schweiz, 1990 – 1993, ISPM Bern, Bern, 1994.

7 Stand der Daten: 31.05.1995. Die Daten zu den AIDS-Todesfällen wurde von John W. Paget und Martin Gebhard, BAG mitgeteilt.

8 Dieses Verfahren verwendet das BAG, vgl. Das Drogenproblem im Spiegel der Statistik. Bull. BAG 1995, 29:6-9. Vgl. auch Fahrenkrug et al.: Illegale Drogen in der Schweiz, S.24f.

9 Eine konstante Gruppengröße von 30’000-40’000 wäre entsprechend der Datenlage durchaus mit einer jährlichen Gesamtmortalität von 2-3% kompatibel.

10 Die Begriffe Sterblichkeit und Mortalität sind synonym verwendet und durch die jährliche altersstandardisierte Sterblichkeit ausgedrückt, d.h. der Zahl der in der Altersgruppe Verstor­benen dividiert durch die Zahl der Wohnbevölkerung in der entsprechenden Altersgruppe. Die absolute Sterblichkeit ist ausgedrückt durch die absolute Zahl der in dem entsprechenden Jahr verstorbenen Personen.

11 Spuhler, Thomas: Todesursachenstatistik. Tabellen 1992. Herausgegeben vom Bundesamt für Statistik, Bern 1993.

12 Welcher Kategorie die Methadonsubstituierten ohne Beikonsum zuzurechnen sind, ist umstrit­ten. Es sind zwar keine Konsumierende von illegalen Drogen, aber immerhin abhängige Opiatkonsumierende. Der Beikonsum von Heroin und vor allem von Kokain ist jedoch in die­ser Gruppe weit verbreitet. Ebenso problematisch ist die Zuordnung der nun mehr als 500 Per­sonen, die Heroin verschrieben bekommen, denn auch hier handelt es sich nicht um den Konsum einer illegalen Substanz, deren galenische Form sich überdies von der auf der Gasse gehandelten Form unterscheidet.

13 Die Zahl der tatsächlich erfaßten Personen wird dabei jeweils als der perzipierte Anteil an der zu schätzenden Gesamtpopulation interpretiert.

14 Kübler, Daniel; Hausser, Dominique; avec collaboration de Joye, Dominique; Estermann, Josef; Nydegger, Bruno: Consommateurs de drogues hors traitement médical. Rapport inter­médiaire. Institut de recherche sur l’environnement construit. Département d’architecture. Ecole polytechnique fédéral de Lausanne, Lausanne 1995.

15 Der unbeschränkte Einsatz könnte beschrieben werden mit einer Erhöhung der Repressions­mittel von 0,5 auf 2 Milliarden Franken und der Medizinalisierungsmittel von 150 Millionen auf 1 Milliarde Franken. Damit wären über 1% des Schweizer Bruttosozialproduktes erreicht. Jeder erwerbstätige Schweizer Bürger würde dann einen Beitrag von fast 1000 Franken pro Jahr alleine für die Drogenrepression erarbeiten, ohne Garantie für irgendeine Wirkung auf Prävalenz und Inzidenz des Drogenkonsums. Mit der laufend aktualisierten Ausgestaltung des Drogenproblems wären dann deutlich mehr als 10’000 Personen beschäftigt, die Medienschaf­fenden nicht eingerechnet. Zu den Repressionskosten vgl. Estermann: Die Kosten der Drogen­repression, Bundesamt für Statistik (Hrsg.), Bern 1995, S. 6-12, zu den Medizinalisierungs­kosten vgl. Bernasconi: Ökonomische Ansätze zur Ausgestaltung der Drogenpolitik in der Schweiz. Dissertation St. Gallen 1993, S. 68.

16 Dies mag zum Teil daran liegen, daß die Befragten manchmal auch die häufig mit einer Ver­haftung verbundene Nacht in Polizeigewahrsam als Gefängnisaufenthalt bezeichneten.

17 Die Werte für die Stichproben mit Personen in medizinischer Betreuung lauten: m12=130, n1=238, n2=5857, =10722, 9460-11984. Die Werte für die Stichproben mit Personen außer­halb medizinischer Betreuung lauten: m12=137, n1=508, n2=5857, =21717, 18557-24877. ProLitteris