Organisierte Kriminalität Justiz 3.2

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© ProLitteris, Josef Estermann

3.2 Justiz

Die Diskussionen um die Bekämpfung krimineller Organisationen (vgl. dazu auch Abschnitt 7), die das Wissen über deren außerordentliche Gefährlichkeit im Kopf der Zeitungsleser und Fernsehkonsumenten zur fast unverrückbaren Tatsache gemacht haben, mündeten nicht nur in Änderungen des materiellen Strafrechts, sondern führ­ten auch zum Umbau der Staatsanwaltschaften und deren nachgeordneten Behör­den. Sie bewirkten einen Modernisierungsschub weg von der dezentralen, geografi­schen Gebietszuständigkeit hin zu Sachzuständigkeiten. Insbesondere führten sie zu einer Schwächung der kantonalen Polizeihoheit und einer Stärkung der zentripetalen Kräfte. Diese Änderung zeigt sich sowohl auf Bundesebene mit der Stärkung der Bundesanwaltschaft und der Schaffung einer Bundeskriminalpolizei27 als auch auf kantonaler Ebene mit der Stärkung der Untersuchungsrichterämter (Bezirksanwälte, Amtsstatthalter, juge d’instruction etc).

3.2.1 Die Modernisierung der Strafverfolgung im Kanton Luzern

Die Gunst der Stunde nutzend, schritt der Kanton Luzern zu einer Reorganisation des Justizsystems. Das gesamte Strafverfolgungssystem wurde unter fachliche Aufsicht des Obergerichts gestellt, die Amtsstatthalter (so heißen die Untersuchungsrichter im Kanton Luzern) der Staatsanwaltschaft unterstellt. Die politische Ebene, zu der in diesem Zusammenhang die Exekutive, also das Justizdepartement zu rechnen ist, ist der Fachaufsicht enthoben. Damit ist ein Maximum an Gewaltenteilung erreicht. Bei dieser Gelegenheit wurden spezielle Untersuchungsrichterämter für Wirtschaftskri­minalität und organisierte Kriminalität eingerichtet.28 Der politisch ver­antwortliche Justizdirektor Paul Huber: „Zur Entwicklung der organisations­rechtlichen Grundla­gen für die Strafuntersu­chung OK und WK-Kriminalität. Die hat bei uns eigentlich im Jahre 1989 einge­setzt. Bis dahin hatten wir im Kanton Luzern, wie in vielen anderen mittelgroßen Kantonen, eigentlich nur bezirks­weise oder ämterweise orga­nisierte Untersuchungs­behörden. Den verschie­de­nen selbstän­digen Untersuchungs­richterinnen und -rich­tern wurden die Fälle nach Rotations­prinzip zuge­teilt. Es gab auch keine Speziali­sierung im Bereich OK und Wirtschafts­kriminalität. In einzelnen Fällen wurden dann schwierige Fälle ausgelagert und Anwälten, die zu außeror­dentlichen Untersu­chungsrichtern bestellt wurden, zur Bearbeitung übergeben.

Im Jahre 1989 wurde dann ein Offizium Wirtschaftskriminalität geschaffen, und zwar eigent­lich auf politische Anregung hin in Zusammenarbeit mit dem Oberge­richt. Wir hatten ja keine rechtlichen Grundlagen im streng formalen Sinn zur Schaffung eines solchen Offi­ziums. Die Rechtsgrundlage war die dauernde Bestel­lung eines außerordentlichen Amtsstatthalters, der bei einem Bezirk angesie­delt wurde. Die Ernennung erfolgte durch das Obergericht. Diesem außerordentli­chen Amtstatthalter wurden […] komplexe Fälle von Wirtschaftskriminalität, die in ande­ren Bezirken angefallen sind, außerordentlicher weise zugeteilt. Dieses Amt wurde schrittweise ausgebaut, in dem am Schluss zwei Amtschreiber, also Untersu­chungs­beamte, diesem Offizium zugeteilt worden sind und ein eigenständiges Sekretariat gehabt haben. Erst 1994 wurde dann durch eine Änderung des Organi­sationsge­setzes bei uns die rechtliche Basis gelegt dafür, dass ein kantonsweit ope­rierender Untersuchungsrichter überhaupt tätig werden konnte, also die Basis geschaffen für die Überführung dieses außerordentlichen Offiziums in ein ordentli­ches. Als Wahlbe­hörde wurde der Große Rat bestellt. Die anderen Untersuchungs­richter werden bei uns durch Volkswahl bestimmt, ämterweise, bezirksweise. Ein anderes Wahlgremium wurde in der politischen Diskussion verworfen, zum Beispiel eine Ernennung durch den Regierungs­rat, oder durch das Obergericht, oder durch die Staatsanwaltschaft.29

Inhaltlich ist der Tätigkeitsbereich des neuen kantonalen Untersuchungsrichters für organisierte Kriminalität nicht genau definiert, sondern wird pragmatisch ausgefüllt: „Materiell sieht meine Zuständigkeit so aus: Ich habe Sachverhalte zu beurteilen, die in Richtung 260ter gehen. Wobei die Definition etwas abgewandelt wurde, Lu­zerner Pragmatismus. […] In der Realität zählt meine Kapazität und Sachüberle­gungen: Soll man jetzt diesen Täter verfolgen auf dieser Stufe oder nicht? Wie sehe ich die organisierte Kriminalität oder wie kam es überhaupt zu meiner Tätigkeit? Die ordent­lichen Amtsstatthalter im Kanton Luzern, die haben eine Flut von Sachver­halten zu beurteilen. Vor allem aus dem Bereich Straßenverkehrsdelikte. Ihre All­tagstätigkeit ist durch die Quantität gekennzeichnet, sie haben kaum Mög­lichkeiten, zusammenhängende Fälle genauer zu durchleuchten. Sie bewegen sich mehrheitlich auf der ersten Stufe der Kriminalität. Ich komme auf die anderen Stufen zurück. Das war sehr unbefriedigend und der Justizdirektor hat ausgeführt, wie es dann zur Reak­tion kam. Die Untersuchungsrichter haben selber beantragt, dass man irgend­eine Stelle haben muss, die auch die Vernetzungen anschauen kann, die Zeit und Fachwissen hat, das anzugehen. Da sind wir bei der zweiten Stufe der Krimina­lität, also nicht mehr nur Einzeltäter, einzelne Sachverhalte, sondern zusammenhän­gende Fragen, Stichwort: Bandenmäßigkeit. Man kann sich fragen, ob das schon organi­sierte Kriminalität ist, ich bin der Meinung nicht, und offensichtlich auch die Mehr­heit des Plenums hier. Die zweite Stufe ist natürlich noch nicht die Lösung aller Dinge. Wie ich meine Aufgabe verstehe, sollte ich eigentlich eine dritte Stufe errei­chen. Also über die einzelnen Sachverhalte hinaus, über die zweite Stufe, bandenmä­ßig, hinauf zur dritten Stufe. Für mich ist das Merkmal dieser Stufe eigentlich die Unternehmensartigkeit, also Aufgabenteilung bei den Tätern, Hierarchie, Ersetzbar­keit der Täter, also irgendwie auch gefühlsmäßig eine Stufe weiter als die Banden­mäßigkeit. Ich will hier nicht Wortklauberei betreiben, wir haben einen sehr prag­matischen Ansatz. Bei uns in der Realität, kann ich ehrlich sagen, der 260ter ist in der Realität völlig bedeutungslos. Für mich ist entscheidend, ob ein Täterkonstrukt vorliegt, das nicht sofort durchschaubar ist und ob damit der ordentliche Statthalter überfordert ist. Das sind die pragmatischen Kriterien. Und hier kann ich an Herrn Professor Arzt anknüpfen, die dritte Stufe geht jetzt natürlich nahtlos über zur or­dent­lichen Wirtschaft und die Unternehmensartigkeit ist hier in diesem Gebilde erkennbar und gleich sieht natürlich auch ein wirtschaftliches Unternehmen aus. Es betätigt sich in der Regel mit anderen Sachen, in der Regel. Herr Oberholzer hat vorher die Schnittstellen auch sehr schön angetönt, CS und Roche usw. Und das ist dann die heikle Frage, wie weit kann man da gehen? Und dann sind auch die politi­schen Fragen hier. Soll man überhaupt Ressourcen schaffen, um bis an die obere Grenze zu gehen? Und dann wird es auch für gewisse Politiker gefährlich, Großräte usw. Soll man diese Ressourcen zur Verfügung stellen? Ganz heikle politische Fra­gen, die sich da stellen. Einfach zum Ausdruck, wie ich die OK verstehe: Eine Stufe mehr als Bandenmäßigkeit. Ganz einfach und plakativ.30

Interessant an der Entwicklung im Kanton Luzern ist die Verbindung der Themen Wirtschaftskriminalität und organisierte Kriminalität. Sie entspricht dem kleinsten gemeinsamen Nenner der Interessenlagen des linken (Steuerfragen und Wirtschafts­ethik) und des rechten politischen Spektrums (effiziente klassische Kriminalitätsbe­kämpfung). Damit erwuchs der Modernisierungsvorlage kein Widerstand der Par­teien. Die Verquickung der politischen Diskussion mit organisatorischen Bedürfnis­sen wird vom Justizdirektor verhalten angesprochen: „Einer der wichtigs­ten Gründe war sicher, dass in weiten Kreisen die Sensibilität für die Problematik ,organisierte Kriminalität’ erhöht wurde. Über die Gründe dafür haben wir heute morgen schon einiges gehört. Wir haben auch von Mythen gehört, die sich um diesen Begriff rank­ten. Ich mag gar nicht ausschließen, dass das auch wesentlich zu der Entwicklung in unserem Kanton beigetragen hat. Es war aber doch im Wesentlichen die wachsende Einsicht auch der Bevölkerung und der Politiker, dass langfristig die Verletzungen von weitgehend ungeschriebenem oder privatem Verhalten, Verhal­tenscodices, wie sie bei der Wirtschaftskriminalität ja offen oder oft zu Tage treten, dass das für die Gesellschaft insgesamt schädlich sei und dass dagegen etwas gemacht werden müsse. Und dass die bestehenden Organisationen dazu eben nicht in der Lage seien.“31

Die eigentlichen Gründe für die Modernisierung lägen allerdings an der Untauglich­keit der bisherigen, lokalen Organisationsform: „Dann gab es auch eine klare Ein­sicht bei den Strafverfolgungsbehörden, dass eine Professionalisierung notwendig sei. […] Es gab mangelnde Routine mit diesen vielen, mit diesen zunehmenden Ein­zelfällen, die aber einmal da, einmal da bei den Untersuchungsrichtern anfielen, die dann in der Regel auch ein wenig überfordert waren, sogar sehr überfordert. Ich kann mich noch gut erinnern, als ich einmal an einem ordentlichen Monatsrapport die Frage stellte: ‚Was macht ihr eigentlich so lange an diesem Fall?’ hat man mir dann gesagt, man würde mich schon orientieren, dann hat man mir auf einem großen Tisch ein riesiges Spinnennetz ausgebreitet von Beziehungen im Zusammen­hang mit irgendeinem Drogenfall. Was ist denn jetzt schon passiert? Es ist noch nichts pas­siert. Wann passiert etwas? Vielleicht in einem Jahr schnappt dann die Falle zu, hat man mir gesagt. Die Falle ist dann nie zugeschnappt. Der Fall ist nach sehr viel Arbeit im Nichts, im Sande verlaufen. Weil die Leute, die auf diesem Sche­mata wa­ren, schon wieder verschwunden waren. Als dann wirklich die Falle zuschnappen sollte, blieb nur sehr, sehr wenig übrig. Und das hat man bei den Straf­verfolgungs­behörden auch gesehen, man wollte da irgendwo aus dieser unguten Situation aus­brechen und dann kam noch hinzu, dass überall, in den anderen Kanto­nen, die Ent­wicklung auch war, dass man Wirtschaftskriminalitäts- und OK-Spezial­einheiten bei den Untersuchungsbehörden gebildet hat.“32

Ein zweiter wichtiger Grund liegt in dem politischen Willen, Polizei und Strafverfol­gung tatsächlich präventiv einzusetzen, im Vorfeld und mit abschreckender Wir­kung: „Wir sind umgeben von steuergünstigen Kantonen, die auch viele Wirtschafts­kriminelle anlocken und wir wissen, dass im Kanton Zug recht vehement gegen diese Erscheinungen Front gemacht wird. Mindestens von der Polizei- und Justizdirektion, dort wurden ziemlich viele Stellen geschaffen, um dieser Wirtschaftskriminalität Herr zu werden und auch das Auswuchern von organisierter Kriminalität zu behin­dern. Und wir befürchteten hier in Luzern, dass ein gewisser Ausweicheffekt sich einstellen könnte. Deshalb wollte man eigentlich schon von Anfang an im Sinne einer Dissuasion ein Abwehrdispositiv errichten. Während nun dieser Anstoß bei der Wirt­schaftskriminalität stark von der politischen Seite her kam, auch von Behördenseite, politischer Behördenseite, war es bei der organisierten Kriminalität etwas anders. Da kam der Druck dann von den Strafverfolgungsbehörden her, innerhalb dieser Strafverfolgungskonferenz, die ich schon erwähnt hatte. Einmal hatte man dort die Vorteile dieses Untersuchungsrichteramtes ,Wirtschaftskriminalität’ erkannt, und die Fähigkeit, wirklich Wirkung zu erzeugen. Dann war es auch die Zahl der Fälle und die Qualität der Fälle und das Zunehmen von Bandenkriminalität. […] Kurz gesagt war es dann eigentlich die Staatsanwalt­schaft und die Untersuchungsrichter, die gesagt haben, man müsste eigentlich, bevor wir die Rechtsgrundlagen haben, auch noch ein Offizium ,Organisierte Kriminalität’ schaffen.33 „Die Zielsetzung war bei uns von Anfang an nicht, einem überbordenden Verbrechertum Herr zu wer­den, sondern hatte von Anfang an eher präventive Gründe, die zur Schaffung dieser Offi­zien geführt hat.34

Mangelndes Problembewusstsein lässt sich den politischen Verantwortlichen jedoch nicht nachsagen: „Wir haben uns bei der Vorbereitung zur Schaffung eines speziali­sierten Untersuchungsrichteramtes für Verbrechen der organisierten Kriminalität durchaus mit den kritischen Einwänden befasst, wie sie heute morgen erwähnt wur­den. Nämlich, dass die Entwicklung in der Schweiz tendenziell dramatisiert werde und dass organisierte Kriminalität nicht als wirklich relevantes Problem erscheine, vielmehr auch der polizeilichen und kriminalistischen Aufrüstung dienen könnte oder zu einem Frontalangriff auf die Freiheitsrechte missbraucht werden könnte. Damit haben wir uns in der Tat auch in dieser Strafverfolgungskonferenz auseinan­der gesetzt. Andererseits wollten wir uns aber auch nicht der Gefahr ausset­zen, durch endlose und unfruchtbare Diskussionen um die definitorische Schärfe und Abgren­zung zwischen organisierter Bandenkriminalität und organisierter Kriminali­tät und den unscharfen Begriff der Wirtschaftskriminalität, die notwendigen organi­satori­schen Maßnahmen zur Eindämmung dieser realen Kriminalitätsformen nicht zu er­greifen.“35

Die Modernisierung führt zu einem Aufbrechen tradierter organisatorischer Struktu­ren, die geografisch kleinräumig oder nach Rotationsprinzip funktionieren. Die neuen Strukturen sind spezialisiert und fachbezogen. Sie mögen vorab effizienter sein, bergen aber die Gefahr der Einengung des Blickfelds, einer Fixierung auf den Gegenstand, wie sie auch bei den Drogendezernaten festzustellen sind. Sie bergen die Gefahr der Verselbständigung, verhindern Entkriminalisierung und tendieren im schlechtesten Falle zur Problemaufrechterhaltung.

Zur Entwicklung der Justiz und Strafverfolgung in Luzern jedenfalls wurde die orga­nisierte Kriminalität funktionalisiert: „Eine Würdigung der Auswirkungen der politi­schen Diskussion und der konkret ergriffenen Maßnahmen hier in Luzern rund um die organisierte Kriminalität, führt mindestens zu einer positiven Feststellung oder man kann auch sagen, zu einem positiven Nebeneffekt. Die Tatsache oder der My­thos organisierte Kriminalität hat mindestens dazu beigetragen, dass zunehmend komplexere Formen der Kriminalität in einem globalisierten Umfeld besser be­kämpft werden können. Auch hier in der Provinz, weil mit dem Begriff OK längst überfäl­lige Strukturen der Strafverfolgung und der Polizeiarbeit schrittweise moder­nisiert werden konnten. Das war ein politisches Hilfsmittel, um gewisse Barrieren, die ein­fach unverrückbar schienen, zu überwinden. Und wenn ich dann das Fazit ziehe, das ist doch eigentlich gar nicht so schlecht, oder, und hilft dann auch viel­leicht denjeni­gen den Frust zu verdauen, die bisher nur von ganz wenigen Verurtei­lungen im Zusam­menhang mit organisierter Kriminalität zu berichten wussten.36

Es besteht aber durchaus die Bereitschaft, negative Auswirkungen dieser Funktiona­lisierung zu überprüfen und, sofern überhaupt möglich, zu korrigieren: „Als Polizei- oder als Justizdirektor, der irgendeinen Antrag stellt ans Parlament und wenn man ein Offizium für organisierte Kriminalität schafft, hat man ja auch nach dem heuti­gen Tage zum Teil ein schlechtes Gefühl. Ich muss sagen, es hat in gewis­sen Berei­chen als Nebenprodukt etwas gebracht. Nachweisen kann man nicht mehr, als was gesagt worden ist. Ich habe das Gefühl, dahinter wäre etwas, aber wir können es letztlich nicht nachweisen, dort wo es dann in diese dritte Stufe ginge. Und das ein­zige Konkrete, das gesagt wurde, aber dann auch nicht belegt, von Ihnen glaube ich und dann auch noch von Herrn Oberholzer, dass es eigentlich am Schluss nur darum gegangen sei und darum gehe, die Beweissituation auf der Seite der Strafver­folgung zu Lasten der kleinen Würstchen zu verbessern. Und das wäre ja das Schlimme daran. Da müsste man ja dann sagen, dieser 260ter hat eigentlich als Effekt nur dies. Ich kann es ihnen nicht beweisen, aber ich verlange jetzt an diesem Tisch auch, dass man einmal sagt, dass man Evidenz hat dafür. Dass die Strafverfol­gungsbehör­den diesen 260ter, wenn er schon für nichts anderes brauchbar gewesen ist, dafür wenigstens gebraucht oder missbraucht haben. Gibt es dafür wirklich auch Evidenz? Das macht die ganze Sache ja nicht grundsätzlich besser, sie ist dann ein­fach noch überflüssiger.“37Die hier vorliegende Forschungsarbeit liefert einen Teil dieser Evi­denz.

3.2.2 Die Gerichte

Bei Richtern herrscht teilweise eine beträchtliche Skepsis gegenüber der Anwendung des Art. 260ter StGB, dem Ausbau der strafprozessualen Maßnahmen und der prä­ventiven Polizei. So äußert sich zum Beispiel Hans Wiprächtiger, Richter am Kassa­tionshof des Schweizer Bundesgerichts: „Es ist auffallend, dass wir hier wenig Ur­teile haben, auch am Bundesgericht. Da gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten, meine persönliche reine Spekulation, Wis­senschafter sol­len das untersuchen: In der Schweiz operierende kriminellen Organi­sationen gehen so raffi­niert vor, dass die Untersuchungs- und Gerichtsorgane ihrem Vorgehen nicht gewachsen sind. In diese Richtung dürfte die Aussagen des Bundes­anwalts Valentin Roschacher deuten, der, auf die Zunahme des Rechtsextremismus angesprochen, anführte, dass die organi­sierte Kriminalität nach wie vor die Bedro­hung Nr. 1 für die Schweiz sei. Diese Kriminalität geschehe oftmals unsichtbar und sei schon deshalb gefährlicher als der Rechtsextremismus, Wirtschaftskriminelle seien intelligente, spezialisierte Täter. Das wäre eine Möglichkeit. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sich eigentliche mafiöse Strukturen mit flächendecken­der Gebietskontrolle und Einfluss auf die gesellschaft­lichen Machtverhält­nisse in der Schweiz bisher noch nicht etablieren konnten, sieht man mal von der Geldwä­scherei ab, wo, wie Herr Pieth gesagt hat, logistisch die Schweiz benutzt wird. Dass also hier eigentlich noch die alte, klassische Straflehre mit der individuellen Tatschuld, Teilnah­melehre usw. reichen könnte, noch, meine ich. Dass es nicht so dramatisch ist, haben schon die Publikati­onen Vest, Killias, Bertossa usw. erwähnt. Das würde nämlich bedeuten, dass man einen weiteren – ich sage nicht: Aufrüstung – einen weiteren Ausbau des materiellen Strafrechts, aber auch des Verfahrensrechts, einen weiteren Ausbau mit Effizienzvorlagen welcher Art auch immer, nicht brauchen würde. Ich habe eher den Eindruck, dass man diese Instru­mentarien benützen sollte, die man hat und nicht noch mehr. Es würde hier, meine ich auch, etwas vorgegaukelt werden von Effizienz, die gar nicht zu erreichen ist, aus verschie­densten Gründen.“38

Ähnlich äußert sich auch Niklaus Oberholzer, Präsident der Anklagekammer des Kantons St.Gallen: „OK ist die Weiterführung des Kalten Krieges mit anderen Mit­teln. Sie schürt Emo­tionen, weckt Ängste und grenzt das Böse aus. Die Diskussionen darüber zeigen, dass es sich nicht um einen rechtlich fassbaren Begriff handelt, son­dern eben um ein politisches Programm. Jeder und jede versteht darunter das, was ihm oder ihr eben gerade passt. In den Diskussio­nen gibt es einen gemeinsamen Nen­ner, die gemein­same Überzeugung von der großen Gefahr. Und diese große Gefahr kommt, wie könnte es anders sein, einmal mehr aus dem Osten. Die Herauf­be­schwö­rung dieser Gefahr verfolgt ein ganz bestimmtes Ziel. Es geht nicht darum, ein vorhandenes Problem mit adäquaten Mitteln zu lösen, sondern es geht darum eine Legitimations­basis abzugeben für eine Kriminalisierung des Alltages und für eine Erweiterung der polizeilichen Einsatzkompetenzen. Alle rechtsstaatlichen Ga­rantien, die bei der normalen Kriminalität geboten erscheinen, zählen eben nichts mehr, wenn es gilt, dem übermächtigen Gegner des organisierten Verbrechers ge­genüber zu treten. Nur, und das ist aufgrund meiner persönlichen Erfahrung das Leidige an der ganzen Sache, dies trifft einmal mehr mit praktisch sämtlichen Mit­teln des Strafrechts nicht die Großen, son­dern es trifft einmal mehr die Kleinen und die Dummen. Dem Klein­dealer, der keine Aus­kunft darüber geben kann, woher er die 500 Franken bezogen hat, dem werden die abge­nommen unter Hinweis auf die erleichterten Einziehungs­möglichkeiten, dem Hehler, der aus dem Automaten Münz in Banknoten umwechselt, dem Beamten, der sich im Rahmen seiner sozialen Kon­takte allenfalls zu einem Nachtessen einlädt.“39

Dass die Diskussion um die organisierte Kriminalität tatsächlich ein Surrogat für den kalten Krieg darstellt, zeigt eine Erwiderung aus dem Tagungspublikum: „Ich möchte auf die provokativen Thesen des Herrn Oberholzer auch provokativ antwor­ten. Ich bin überzeugt, die russische Marine hätte noch einen Job als Sprecher für Sie bereit. Es heißt doch nicht, wenn man die Mittel nicht hat, wenn etwas geschehen und man es nicht nachweisen kann, dass es überhaupt nicht existiert. Sie haben ja dort gesehen, wenn die Mittel fehlen, dann wird so oft nur ein bisschen darüber ge­wa­schen, und dann sagt man, es ist überhaupt nicht so schlimm.40

Was die materielle Behandlung des Straftatbestandes der kriminellen Organisation angeht, hat die Analyse ergeben, dass die Gerichte ihre Funktion als Korrekturin­stanz ausufernder Interpretationen der Ermittlungsbehörden durchaus wahrnehmen. So ist dem Kreisgericht Bern-Laupen durchaus klar, dass mit den hohen Forde­r­un­gen an die Beweis­barkeit eine schwer zu nehmende Hürde für die Beweisbarkeit der kri­minel­len Organisation gesetzt wird. Aber gerade weil die Vorverlegung der Strafbar­keit rechtspolitisch nicht unproblematisch ist, ist solches auch nötig. Wenn, wie im vor­liegenden Fall, der gewerbs- und bandenmäßige Betäu­bungsmittelhandel, also die Mehrfachqualifikation, bereits klar bewiesen ist, so lässt sich um so leichter ver­tre­ten, dass der zusätzlich überwiesene Tatbestand der krimi­nellen Unterstützung einer Organisation eindeutig und unzweifelhaft nachgewie­sen werden muss.

Es ist für das Gericht nicht nachvollziehbar, wie der Untersuchungsrichter und die Staatsanwaltschaft zu einer Überweisung wegen Unterstützung einer kriminellen Orga­nisation kommen konnte, wurden doch keine brauchbaren Abklärungen und Ermittlungen diesbezüglich unternommen. Die etwas eigenartige Argumentation des Untersuchungsrichters geht davon aus, dass nur deshalb, weil man über gewisse vermutete Tätig­keiten keine Kenntnis hat, es sich dabei um eine Geheim­haltung im Sinne der kriminellen Organisation handeln müsse.

„Eine solche Logik würde ja bedeuten, dass je weniger man weiß, um so geheimer ist eine Tätigkeit und umso eher ist der Tatbestand der kriminellen Organisation erfüllt. Geheimhaltung kann sicher nicht bedeuten, dass die Untersuchungsbehörden es un­ter­lassen, die notwendigen Abklärungen zu treffen, um dann grade diese fehlende Kenntnis als Kennzeichen der Tatbestandsmäßigkeit [zu] sehen. Wenn – wie im vor­liegenden Fall – die Tatbestandsmäßigkeit in der banden- und gewerbsmäßigen Bege­hung des Drogenhandels liegt, so ist zwar durchaus kumulativ auch eine Unter­stützung einer kriminellen Organisation denkbar. Aber wie das offenbar der Untersu­chungsrichter und die Staatsanwaltschaft machen, einfach ohne nähere Abklärungen einen bis heute kaum je angewandten Tatbestand anzunehmen, ist für das Gericht nicht nachvollziehbar. Es ist zwar durchaus denkbar, dass am Anfang eines solchen Drogenhandels in Kolumbien eine Professionalität vorherrscht, die als kriminelle Organisation im Sinne des schweizerischen Strafgesetzbuches angesehen werden könnte. Dabei handelt es sich aber ausschließlich um eine Vermutung, die bewiesen werden müsste, wenn sie im vorliegenden Fall strafrechtliche Relevanz hätte. Die Logik resp. fehlende Logik der Überweisungsbehörden hätte ansonsten zur Folge, dass letztlich sehr viele gewerbs- und bandenmäßige Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz auch eine Unterstützung einer kriminellen Organisation mit einschließen, steht doch vermutungsweise in jedem größeren Drogenhandel zu Be­ginn eine vermutete, verbrecherische Organisation.“

„Dass tatsächlich eine kriminelle Organisation bestand, ist nicht erwiesen und steht lediglich als reine Vermutung im Raum. Dass die Vorgänge in Kolumbien nicht von einer Bande, sondern von einer kriminellen Organisation in die Wege geleitet wor­den sind, wird zwar vermutet, ist aber nicht bewiesen. Insbesondere ist aber ein Zu­sam­menhang zwischen einer kriminellen Organisation in der Schweiz und einer solchen in Kolumbien nicht erstellt. Wie bereits erwähnt, sind denn auch nie irgend­welche Abklärungen in dieser Richtung vorgenommen worden. Das Gericht hält nochmals klar fest, außer den widersprüchlichen und völlig nebulösen Behauptungen des Angeschuldigten über eine angebliche Organisation Schweiz, Italien und Kolum­bien liegen überhaupt keine Beweise für das Vorliegen einer kriminellen Organisa­tion vor.“41

3.3 Polizei