Strafgefangene – Klassenjustiz – 2. empirische Forschungsergebnisse

2 Selektive Sanktionierung und Klassenjustiz im Lichte empirischer Forschungsergebnisse

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© ProLitteris, Josef Estermann

Die Analyse von Gefängnispopulationen reicht für sich allein nicht aus, um die Thesenzusammenhänge der interaktionistischen Kriminalsoziologie und der Theorie der Klassenjustiz in letzter Konsequenz zu bestätigen. Die in den Kapiteln 4 und 5 dargestellten Tatsachen, daß· das Gefängnis als Repressionsinstrument vor allem Angehörige der Unterschicht trifft, und daß die kriminelle Karriere im Grunde ein Attribut der sozial und ökonomisch unterdrückten Klassen ist, könnte trotz des naheliegenden Schlusses auf klassenspezifische Selektion der „Straftäter“ bzw. klasseninteressengebundene Strafgesetzgebung auch in einem ätiologischen Sinne gedeutet werden: Es sei ein Charakteristikum der Unterschichtsangehörigen, vor allem solcher mit zusätzlichen Merkmalen wie Berufslosigkeit, Arbeitslosigkeit oder Heimerziehung, vermehrt und in einer besonders schädlichen Form gegen allgemeingesellschaftliche Normen zu verstoßen, die von der gesamten ethnischen Gemeinschaft oder gar Menschheit akzeptiert würden. Gegen diese ätiologische Perspektive sprechen die folgenden empirischen Forschungsergebnisse.

Ohne auf die Normgenese und die historische Dimension repressiver Normkontrolle (1) einzugehen, möchte ich in kurzer Form Ergebnisse aus den verschiedenen Bereichen der Kriminalisierung referieren. Sie sollen einen Hinweis auf schichtspezifische Selektion in allen Phasen der repressiven Normkontrolle geben und damit den bloßen Zirkelschluß von sozialen Merkmalen der Strafgefangenen auf Merkmale, nach denen die Instanzen selegieren, vermeiden helfen.

Die Forschungsergebnisse werden nach dem lnteraktionszusammenhang der Definition abweichenden Verhaltens gegliedert: Dunkelfeld (2.1), polizeiliche Ermittlung (2.2), staatsanwaltschaftliche Selektion (2.3) und richterliche Urteilsfindung ( 2. 4).

2.1 Dunkelfeld

Trotz der im theoretischen Teil (1.2) geäußerten Vorbehalte gegenüber der Dunkelfeldforschung sowohl in der Form von selbst- oder fremdberichteter „Delinquenz“, wie auch von teilnehmender Beobachtung, ist es für den angesprochenen Themenkreis zweckmäßig, auch solche Ergebnisse festzuhalten. Bei ihrer Interpretation darf allerdings nie vergessen werden, daß es sich entgegen der oftmals von Forschern· gemachten Unterstellung nicht um die Analyse eigentlicher Kriminalität oder abweichenden Verhaltens handelt, da die notwendige Bedingung der kompetenten Definition (2) eines Verhaltens als kriminell beim Untersuchungsgegenstand fehlt. (3) Eine Person, die die Frage, ob sie schon einmal einen Warenhausdiebstahl begangen hätte, ohne daß eine Sanktionierung stattgefunden hätte, mit ja beantwortet, meint damit eine Situation, in der ein Warenhausdetektiv, hätte er die Person beobachtet und anschließend gestellt, sie wahrscheinlich des Diebstahls bezichtigt hätte. Eine solche Person wäre möglicherweise nie, auch nicht während der Befragung, als Dieb bezeichnet worden. Angenommen, die Warenhausdetektivin hätte sie beobachtet und es wäre zu einem staatsanwaltschaftlichen Verfahren gekommen, dessen interaktiv festgestelltes Ergebnis aber lautete, daß die Person den in Frage stehenden Gegenstand aus bloßer Gedankenlosigkeit und ohne jegliche Absicht, ihn sich anzueignen eingesteckt hat, würden die juristischen Tatbestandsmerkmale eines Diebstahls nicht gegeben sein. Offensichtlich ist die Definition einer Straftat im Dunkelfeld ziemlich beliebig. Auch die Forschungssituation der teilnehmenden Beobachtung (z.B. Haferkamp, 1975a) ist weder dazu geeignet noch angelegt, abweichendes Verhalten im Sinne des (durch die Richterin angewendeten) Strafrechts zu definieren. Eine Situation, die von einem Gesellschaftsmitglied oder Forscher als fahrläßige Körperverletzung qualifiziert wird, könnte unter Umständen als Mord abgeurteilt werden, ein Betrug als nicht strafbare Handlung oder eine ,normale‘ Situation als Anstiftung zu schwerem Landfriedensbruch, begangen durch Unterlassung wegen Verletzung einer Garantenpflicht mit der Rechtsfolge eines längeren Freiheitsentzugs.

Beachten wir diese Einschränkungen, können wir Ergebnisse der Dunkelfeldforschung mit der gebotenen Vorsicht im Rahmen unserer Hypothesen interpretieren.

1. Ehemalige Fürsorgezöglinge sind unter den überführten Tätern mehr als doppelt so stark vertreten wie in der Dunkelfeldpopulation (Lamnek, 1982, S. 43).

2. Soziale Benachteiligung (Ausländer, mehr als zwei Geschwister, unvollständiges Elternhaus, Heimaufenthalt, Fürsorgeerziehung und Sonderschule) hat kaum einen Einfluß auf das Dunkelfeld, jedoch einen wesentlichen auf die (vor allem erstmalige) Registrierung als Tatverdächtigen und auf die Bestrafung. Dieser Einfluß nimmt bei fortschreitender krimineller Karriere zu ( Lamnek, 1982, S. 47).

3. Die Heimerziehung wirkt als diskriminierendes Merkmal „Delinquenten“ im Dunkelfeld und Kriminalisierten. Es tritt bei zunehmender Kriminalisierungsfrequenz häufiger auf (Lamnek, 1982, S. 60).

4. „Etikettierungen im sozialen Umfeld, insbesondere nachbarliche Beschwerden, wirken sich auf die Häufigkeit der Delinquenz (im Dunkelfeld gemessen, also Verhalten, das nach Ansicht des Forschers oder des Befragten hätte kriminalisiert werden können, d. Verf.), auf höherem Niveau aber auf die Kriminalisierungsfrequenz aus“ (Lamnek, 1982, S. 61).

5. Bei schlechten Schulnoten und Wiederholen von Klassen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, kriminalisiert zu werden (Lamnek, 1982, S. 78).

6. Berufsabbruch, Berufswechsel, Arbeitswechsel und Arbeitslosigkeit erhöhen die Wahrscheinlichkeit, kriminalisiert zu werden. Dabei ist Arbeitslosigkeit das zentrale Merkmal (Lamnek, 1982, S. 83).

7. Der Anteil der Personen aus höheren Schichten ist unter den „Kriminellen“ (im Dunkelfeld gemessen) größer als unter den Kriminalisierten. Angehörige der unteren Unterschicht werden eher einer Straftat verdächtigt (Haferkamp, 1975a, S. 188).

8. Bei Schülern finden sich keine Korrelationen zwischen Schichtangehörigkeit und selbstberichtetem abweichendem Verhalten (anders Lösel, 1974). Die Lehrer schätzen jedoch Kinder aus der Unterschicht eher als kriminell gefährdet ein (Brusten, 1974, S. 31 und 36).

9. Keine Korrelation zwischen Schichtangehörigkeit und abweichendem Verhalten stellen folgende Autoren fest: Akers (1964), Clark (1962), Dentler (1961), Nye (1958), Pine (1964) und Smith (1978). Die Untersuchungen beruhen auf selbst- oder fremdberichtetem abweichendem Verhalten oder auf Interviews.

10. Eine Korrelation zwischen Unterschichtsangehörigkeit und Frequenz des abweichenden Verhaltens stellen fest: Erickson (1965), Gold (1966), MacDonald (1969), Reiss (1961) und Haferkamp (1975a).

11. Clark (1962), Empey (1966), Hardt (1965), Reiss (1961) und Haferkamp (1975a) kommen zu dem Ergebnis, daß die Art des abweichenden Verhaltens (Deliktsgruppen) mit der Schichtangehörigkeit korreliert.

Indiceskandidaten für die Zuschreibung kriminellen Handelns durch die Instanzen sozialer Kontrolle sind aufgrund dieser Ergebnisse unter anderen Heimaufenthalt, Fürsorgeerziehung, Aufenthalt in Sonderschulen, schlechte Schulleistungen, Berufswechsel, Arbeitslosigkeit und Angehörigkeit zur Unterschicht.

2.2 Polizeiliche Selektion

Die polizeiliche Selektion ist die erste Stufe der institutionalisierten Kriminalisierung. Hier wird eine Vorauswahl getroffen, welche Individuen als Straftäter in Frage kommen, welche Eigenschaften und Merkmale einer Person ihre Kriminalisierung rechtfertigen. Input der polizeilichen Tätigkeit sind das Anzeigeverhalten der Bevölkerung und auf institutionsinternen Strateg.ien beruhende selbständige Ermittlungstätigkeit der Polizei. Der Output besteht aus der Registrierung von Tatverdächtigen (polizeiliche Auffälligkeit) und der Überweisung von Akten an die Staatsanwaltschaft bzw. selbständige Handhabung des Ordnungswidrigkeitenrechts mit geringfügigen Sanktionen. Neben dem bloßen „Sammeln von Daten“ besteht die Möglichkeit des direkten Zugriffs auf die Person in der Form der vorläufigen Festnahme.

1. Polizeilich registrierte Jugendliche, deren Eltern in Notunterkünften leben, werden später eher straffällig (Pongratz /Schäfer /Weisse /Jürgensen, 1975, S. 81).

2. Verhält sich eine Frau bei Verkehrsdelikten geschlechtsrollenkonform, erheben Polizisten seltener Bußgeld als bei Männern (Hornthal, 1975, S. 82; Stein-Hilbers, 1978, S. 286).

3. Männliche Jugendliche werden häufiger als Mehrfachtäter registriert als weibliche (Ludwig, 1982, S. 100).

4. Das Merkmal Heimaufenthalt erhöht die Wahrscheinlichkeit, von der Polizei als auffällig registriert zu werden ( Lamnek, 1982, S. 20).

5. Unter Jugendlichen mit fortgeschrittenen delinquenten Karrieren ist der Anteil der ehemaligen Heimzöglinge größer als bei den polizeilich registrierten Tatverdächtigen und bedeutend größer als bei den minderjährigen Jugendlichen in der BRD (Lamnek, 1982, S. 21).

6. Je jünger ein Kind zur Zeit der ersten Registrierung als polizeilich auffällig war, desto eher wird es im Jugendalter (über 14 Jahre) wiederholt registriert (Pongratz u.a., 1975, S. 87).

7. Je höher die Schulbildung, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, polizeilich als Tatverdächtiger registriert zu werden (Lamnek, 1982, S. 22).

8. Je schlechter die Schulbildung, desto eher wird ein Jugendlicher als wiederholt auffällig registriert (Pongratz u.a., 1975, S. 85) und desto eher wird er straffällig (S. 81).

9. Jugendliche ohne Berufsausbildung oder ohne Schulabschluß werden eher als Mehrfachtäter polizeilich registriert (Ludwig, 1982, S. 99).

10. Eine polizeiliche Registrierung als Tatverdächtiger wird wahrscheinlicher, wenn die Merkmale Arbeitslosigkeit oder fehlende Berufsausbildung gegeben sind (Lamnek, 1982, S. 24).

11. Tatverdächtige mit den Merkmalen Arbeitslosigkeit und fehlende Berufsausbildung werden von der Polizei eher als Wiederholungstatverdächtige registriert (Lamnek, 1982, S. 27).

12. Jugendliche ohne Arbeit oder mit schlechter Ausbildung werden häufiger polizeilich registriert als ihre Altersgenossen (Albrecht/ Lamnek, 1979, S. 175 f).

13. Arbeitslose Jugendliche werden eher als Mehrfachtäter polizeilich registriert (Ludwig, 1982, S. 100).

14. Bei Mittelschichtsangehörigen hat die Polizei häufiger „Beweisschwierigkeiten“ als bei Unterschichtsangehörigen (Blankenburg/ Sessar /Steffen, 1975, S. 41 sowie eigene Berechnungen).

15. Bei den von der Polizei aufgegriffenen Tätern sind in sämtlichen Deliktsgruppen Unterschichtsanghörige stark überrepräsentiert (Peters, 1971, S. 98).

16. Eine Alltagstheorie der Polizeibeamten besteht darin, die Kategorien „anständig“ mit „sozial bessergestellt“ und „verdächtig“ mit ,,sozial schlechtergestellt“ weitgehend gleichzusetzen (Feest/Blankenburg, 1972, S. 116).

17. War ein Jugendlicher als Kind schon vor seiner ersten Polizeimeldung von einer jugendfürsorgerischen Maßnahme betroffen, wird er eher als wiederholt auffällig registriert (Pongratz u.a., 1975, S. 85) und eher straffällig (S. 81).

18. Je häufiger ein Kind polizeilich registriert war, desto häufiger wird es auch im Jugendalter registriert (Pongratz u.a., 1975, S. 87) und desto eher wird es straffällig (S. 81).

19. Mehrfachtäter werden häufiger von der Polizei ermittelt, Einfachtäter hingegen häufiger von den Opfern angezeigt (Ludwig, 1982, S. 104).

20. Eigentumsdelikte werden von den Instanzen sozialer Kontrolle häufiger entdeckt als Aggressions- oder Drogendelikte (Haferkamp, 1975a, S. 475).

21. Die Registrierung eines Kindes als polizeilich auffällig allein läßt keine Aussage auf späteres „kriminelles Verhalten“ zu (Pongratz u. a., 1975, S. 81), doch stammen straffällige Jugendliche, die als Kinder polizeilich registriert wurden, in der Regel aus untersten sozialen Schichten (S. 84).

22. Die Chance eines marihuanarauchenden Arbeiters, von der Polizei wegen Rauschgiftmißbrauchs arretiert zu werden, ist fünf bis zehnmal höher als diejenige eines marihuanarauchenden Mittelschichtsangehörigen (Johnson /Peterson /Wells, 1978, S. 688).

Die Polizei wählt als Zielgruppe ihrer Tätigkeit in erster Linie Personen mit ganz bestimmten sozioökonomischen Merkmalen aus:

– schlechte soziale Situation der Eltern (1)

– Männer (2, 3; anderer Meinung ist Stein-Hilbers, 1978)

– Heimzöglinge (4, 5)

– geringes Alter (6, 17)

– schlechte Schulbildung (7, 8, 9, 12)

– mangelnde Berufsausbildung (9, 10. 11, 12)

– Arbeitslose (10, 11, 12, 13)

– Unterschichtsangehörige (14, 15, 16, 22)

– polizeilich oder gerichtlich auffällige oder vorbestrafte Personen (17, 18, 19, 21)

Sämtliche Selektionskriterien der Polizei außer Geschlecht sind verbunden mit Merkmalen eines niederen sozioökonomischen Status oder der unteren Schichten des Proletariats, während sich das Selektionskriterium der Auffälligkeit oder Vorstrafe auf bereits vollzogene Zuschreiungsprozesse bezieht. Diese Zuschreibungsprozesse sind wiederum im Zusammenhang mit den sozioökonomischen Selektionskriterien zu sehen. Es existiert kein Hinweis auf ein mögliches Selektionskriteium, das in den oberen Schichten häufiger auftreten würde als in der Unterschicht.

Die polizeilichen Selektionskriterien belasten die Unterschicht. Wie Bordua (1967) festgestellt hat, läßt sich dieser Umstand (abgesehen von weiteren politischen Bedingungen der Polizeiarbeit) auf die Art der polizeilichen Ermittlungstätigkeit zurückführen: Die Polizei bedient sich zweier Strategien zur Aufklärung bestimmter Verbrechen. Entweder sie wendet sich direkt an eine Personengruppe, die ihr schon von vornherein verdächtig erscheint, oder sie nimmt sich eine verdächtige Person vor und versucht sie dann mit einem aufzuklärenden und schon vorher begangenen Verbrechen in Verbindung zu bringen. Welche Merkmale solche von vornherein verdächtige Personen oder Personengruppen tragen könnten, ist oben nachzulesen. Diese Merkmale sind Indices für polizeilich definiertes kriminelles Verhalten.

2.3 Staatsanwaltschaftliche Selektion

Die Staatsanwaltschaft ist die erste Instanz sozialer Kontrolle im Prozeß der Kriminalisierung, die mit Juristinnen besetzt ist. Sie untersucht Sachverhalte auf ihre Strafbarkeit, vor allem aufgrund der Akten, die ihr die Polizei zugehen läßt. Sie ermittelt auch selbständig in gewissen Bereichen, die nicht in erster Linie von der Polizei abgedeckt werden, wie z.B. die sogenannte Wirtschaftkriminalität. Der Output der Staatsanwaltschaft besteht im Erlaß von Strafverfügungen in Zusammenarbeit mit den Polizeistellen oder in der Verfahrenseröffnung vor Gericht. Ergeben sich in der juristischen Prüfung der Sachverhalte nicht die notwendigen Indices, können oder sollen also Erkenntnisse, Vernehmungsprotokolle usw. nicht in strafbares Verhalten transformiert werden, stellt die Staatsanwaltschaft das Verfahren ein. Einige Merkmale und Eigenschaften der Beschuldigten, die die Wahl der Alternative durch die Staatsanwaltschaft beeinflussen, sind in empirischen Untersuchungen erwähnt worden:

1. Verfahren gegen Frauen werden von der Staatsanwaltschaft nicht häufiger eingestellt als Verfahren gegen Männer (Göppinger, 1976, S. 380).

2. Je niedriger das Alter von Beschuldigten in Wirtschaftsstrafsachen, desto eher erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage (Berckhauer; 1981, S. 145).

3. Je niedriger das (Aus-) Bildungsniveau von Beschuldigteb in Wirtschaftsstrafsachen, desto eher erhebt die Staatsanwaltschaft Anklage (Berckhauer, 1981, S. 154).

4. Die Staatsanwaltschaft läßt es bei Unterschichtsangehörigen in Diebstahlsstrafsachen öfter zum ordentlichen Gerichtsverfahren kommen, während Mittelschichtsangehörige eher mit einer Einstellung rechnen können (Blankenburg /Sessar /Steffen, 1975, S. 45).

5. In Unterschlagungsstrafsachen wird das Verfahren durch die Staatsanwaltschaft bei Mittelschichtsangehörigen häufiger eingestellt als bei Unterschichtsangehörigen (Blankenburg /Sessar /Steffen, 1975, S. 45).

6. Sind Beschuldigte in Wirtschaftsstrafsachen weisungsbefugt, erhebt die Staatsanwaltschaft eher Anklage. Nach Berckhauer (1981, S. 157 und 159) ist dieses Ergebnis in erster Linie auf die Art der Delikte zurückzuführen. Bei Kontrolle der Anklagepunkte ist der Zusammenhang nicht mehr signifikant.

7. Aus der Unterschicht stammende Beschuldigte in Eigentumsstrafsachen haben eine höhere Vorstrafenbelastung. Vorstrafenbelastung erhöht die Wahrscheinlichkeit der Anklageerhebung deutlicher als Schichtangehörigkeit (Blankenburg /Sesser /Steffen, 1975, S. 44).

8. Ist der Beschuldigte in Wirtschaftsstrafsachen vorbestraft, erhebt die Staatsanwaltschaft eher Anklage (Berckhauer, 1981, S. 147).

9. Je weniger lang eine Vorverurteilung zurückliegt, desto eher erhebt die Staatsanwaltschaft in Wirtschaftsstrafsachen Anklage (Berckhauer, 1981, S. 147).

Die Tätigkeit der Staatsanwaltschaft ist zwar juristisch klar struktuiert (Einstellung wegen Geringfügigkeit oder mangelnden öffentlichen Interesses, Offizial- oder Legalitätsprinzip), scheint sich aber in der Praxis hauptsächlich nach informellen und deliktspezifischen Kriterien zu richten (vgl. Kunz, 1979; Gillig, 1976a und 1976b; Blankenburg, 1973). Gillig (1976b, S. 109 f) z.B. stellt fest, daß sich die Einstellungspraxis bei geringwertigen Ladendiebstählen danach richtet, ob eine schriftliche Eingabe des Beschuldigten vorliegt, worin er sich entschuldigend, erklärend oder bereuend zum Tatvorwurf äußert. Die Selektionskriterien staatanwaltschaftlicher Tätigkeit entsprechen weitgehend denjenigen der Polizei:

– niedriges Alter (2)

– mangelhafte Schul- und Berufsbildung (3)

– Unterschichtsangehörigkeit (4, 5, 7)

– Vorstrafen (7, 8, 9)

2.4 Gerichtliche Selektion

Das Gericht ist die Instanz sozialer Kontrolle, die im Gegensatz zu Polizei und Staatsanwaltschaft formal von der Exekutivgewalt des Staates losgekoppelt ist. Es ist wie die Staatsanwaltschaft an den entscheidenden Stellen mit Juristinnen besetzt und verfügt über die gesellschaftlich zugewiesene Kompetenz, bestimmtes Verhalten Einzelner als kriminell und die Handelnden als Kriminelle zu definieren. Das Gericht ist die letztendlich über die Transformation sozialer Sachverhalte und Handlungen in kriminelles Verhalten entscheidende Instanz. Hier werden die Indices, auf denen diese Transformation beruht, festgestellt. Andererseits werden Gerichte nicht in Eigeninitiative tätig, sind also von der Auswahl der zu Kriminalisierenden durch die anderen Instanzen und deren Vordefinition abhängig.

Es kommt zu einem Gerichtsverfahren, wenn die Staatsanwaltschaft Anklage erhebt oder aber in den seltenen Fällen von Privatklageverfahren (meistens Beleidigungsprozesse oder Anklage wegen übler Nachrede). Output des Gerichtsverfahrens ist Freispruch des Angeklagten, d. h. Verzicht auf die Bezeichnung eines Verhaltens als kriminell, oder Verurteilung. Die Verurteilung lautet in der Regel auf Buße, Freiheitsstrafe auf Bewährung oder unbedingte Freiheitsstrafe. Empirische Forschungsergebnisse weisen auch hier auf sozioökonomische Merkmale des Angeklagten als Selektionskriterium hin:

1. Bei Männern ist die Verurteilungsquote in Wirtschaftsstrafverfahren höher als bei Frauen (Berckhauer, 1981, S. 202).

2. Die Dauer der gegen Frauen verhängten Strafen ist kürzer als die der gegen Männer verhängten Strafen (Göppinger, 1976, S. 380).

3. Frauen zugeschriebene Gewaltdelikte werden härter sanktoniert als Männern zugeschriebene Gewaltdelikte (Stein-Hilbers, 1978, S. 288 mit Hinweisen).

4. Bei Ausländer(innen) ist die Verurteilungsquote in Wirtschaftsstrafverfahren höher als bei Inländer(inne)n (Berckhauer, 1981, S. 202).

5. Je jünger die Angeklagten in Wirtschaftsstrafverfahren sind, desto höher ist die Verurteilungsquote (Berckhauer, 1981, S. 202).

6. Jugendliche, die in ein Erziehungsheim eingewiesen wurden, werden innerhalb der auf die Entlassung folgenden fünf Jahre häufiger zu einer Freiheitsstrafe verurteilt als Jugendliche, die zu einer einfachen bedingten Freiheitsstrafe verurteilt wurden (Hinsch /Leirer /Steiner, 1973, S. 137).

7. Bei Heimvergangenheit und. Vorstrafe des Beschuldigten erkennt das Jugendgericht häufiger auf Freiheitsentzug bzw. Erziehungsheimeinweisung (Hinsch /Leirer /Steinert, 1973, S. 137).

8. Ehemalige Fürsorgezöglinge und Vorbestrafte werden eher zueiner Jugendstrafe von unbestimmter Dauer verurteilt (Höbbel. 1968, S. 42 f).

9. Inländer(inne)n, besser Gebildeten, Personen mit Lehrabschluß, Selbständigen und Weisungsbefugten wird in Wirtschaftsstrafverfahren die Strafe eher zur Bewährung ausgesetzt (Berckhauer, 1981, S. 228).

10. Bei Angestellten ist die Verurteilungsquote in Wirtschaftsstrafverfahren höher als bei Gesellschaftern, Vorständen und Einzelunternehmern (Berckhauer, 1981, S. 202).

11. Je größer die Anzahl der Merkmale sozialer Deklassierung (Arbeitslosigkeit, Sonderschulbesuch, fehlender Schulabschluß und fehlende Berufsausbildung), desto eher verhängt die Richterin eine Jugendstrafe (Ludwig, 1982, S. 123).

12. Die Erkenntnisse der Richterin über eine „geordnete Lebensführung“ und das Vorhandensein einschlägiger Vorstrafen sind für die Festsetzung des Strafmaßes gleichermaßen bedeutsam. Die beiden Variablen erklären die Hälfte der Varianz des Strafmaßes (Genser-Dittmann, 1975, S. 32).

13. Jugendliche Unterschichtsangehörige werden von den Jugendgerichten härter bestraft als Mittelschichtsangehörige und eher in Strafanstalten eingewiesen, wobei die Delinquenzbelastung (selbstberichtete Delinquenz) bei Mittel- und Unterschichtsjugendlichen nur schwach variiert (Quensel, 1972, S. 452 sowie eigene Berechnungen).

14. Je mehr Vorstrafen (besonders einschlägige Vorstrafen) ein Angeklagter in Wirtschaftsstrafverfahren hat, desto höher ist die Verurteilungsquote (Berckhauer, 1981, S. 202 f).

15. Wenn Verurteilte vorbestraft sind, fällt die gerichtliche Sanktion in Wirtschaftsstrafsachen härter aus als wenn sie nicht vorbestraft sind (Berckhauer, 1981, S. 219). Berckhauer stellt fest, daß es keine signifikanten Zusammenhänge zwischen sozioökonomischen Merkmalen und Härte der Sanktion gibt. Das entspricht den Ergebnissen meiner regressionsanalytischen Untersuchung (siehe Kapitel 5): Die einzelne Strafzumessung ist nicht direkt abhängig von der Schichtangehörigkeit, wohl aber der Umstand, ob, wie oft und wozu jemand verurteilt wird, was wiederum als Vorstrafenbelastung auf spätere Strafzumessungen wirkt.

16. Je niedriger die Zahl der Vorstrafen des Verurteilten, desto eher wird in Wirtschaftsstrafverfahren die Strafe zur Bewährung ausgesetzt (Berckhauer, 1981, S. 228).

17. Mehrfachtäter werden eher zu Jugendstrafen verurteilt als Einfachtäter (Ludwig, 1982, S. 120).

18. Je höher die Zahl der polizeilichen Registrierungen, desto eher verhängt der Richter eine Jugendstrafe (Ludwig, 1982, S. 121).

Es wundert nicht, daß auch auf der Ebene des Gerichts sich beinahe dieselben Indices für die Zuschreibung kriminellen Verhaltens als Selektionskriterien ergeben:

– Geschlecht (1, 2, dagegen 3)

– Nationalität (4, 9)

– jugendliches Alter (5)

– Erziehungsheimaufenthalt (6, 7)

– Fürsorgeerziehung (8)

– mangelhafte Schul- und Berufsbildung (9, 11)

– Arbeitslosigkeit (11)

– Unterschichtsangehörigkeit bzw. niedere hierarchische Position (9, 10, 11, 12, 13)

– Vorstrafen und polizeiliche Auffälligkeit (7, 12, 14, 15, 16, 17, 18)

Auch hier lasse sich die Thesenzusammenhänge voll bestätigen: Unterschichtsangehörigen und schon Kriminalisierten wird vor Gericht eher kriminelles Verhalten zugeschrieben als sozial Bessergestellten.

2.5 Zusammenfassung der empirischen Ergebnisse

Im folgenden Text und in Abbildung 3 ist die selektive Sanktionierung im Kriminalisierungsprozeß im Überblick dargestellt.

Die Kategorien Polizei. Staatsanwaltschaft und Gericht beziehen sich auf die Ergebnisse anderer Autoren (oben 2.2 bis 2.4), die Kategorie „Strafgefangene“ auf die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung (unten Kapitel 3, 4 und 5). Ein Fragezeichen bedeutet, daß keine signifikanten Ergebnisse vorliegen, ein ,ja‘ mit Fragezeichen, daß das Ergebnis nicht gesichert ist.

Man sieht, daß mangelhafte Schul- und Berufsbildung, jugendliches Alter im Sinne der Frühkriminalisierung, das Bestehen einer zeitlich zurückliegenden Definition als kriminell Handelnder (Vorstrafe) und die Schichtangehörigkeit sich auf allen Stufen der Kriminalisierung als Selektionskriterien bestätigen. Diese Variablen sind Indices für die Zuschreibung kriminellen Handelns.

Heimaufenthalt, Fürsorgeerziehung, niederer sozioökonomisches Status der Eltern, polizeiliche Auffälligkeit und Arbeitslosigkeit sind nur auf einzelnen Stufen als Selektionskriterien nachzuweisen. Es ist damit aber nicht gesagt, daß sie auf den übrigen Stufen keine Selektionskriterien wären. Vielfach wurden sie in den empirischen Untersuchungen überhaupt nicht berücksichtigt, oder es fehlten die erforderlichen Daten. Nationalität und Geschlecht hingegen können nicht mit genügender Sicherheit als Selektionskriterien gelten.

Im Hinblick auf den Thesenzusammenhang der Klassenjustiz ist es wichtig festzustellen, daß die Variablen Heimaufenthalt, mangelhafte Schul- und Berufsbildung, Arbeitslosigkeit, polizeiliche Auffälligkeit und Vorstrafen mit Unterschichtszugehörigkeit in Verbindung stehen. Es handelt sich um Attribute schlechter sozioökonomischer Lage und sozialer Deklassierung. Soziale Deklassierung steht mit Kriminalisierung in einem wechselseitigen Zusammenhang: Sozial Deklassierte sind anfälliger für die Kriminalisierungsstrategien der Instanzen sozialer Kontrolle, und Kriminalisierung produziert soziale Deklassierung.

Abbildung 3

Anmerkungen

1 Vergleiche z.B. Foucault (1976a und 1976b) und die rechtshistorischen Arbeiten Radbruchs (1950). Eine zentrale Aussage findet sich in Radbruchs Aufsatz ,Der Ursprung des Strafrechts aus dem Stande des Unfreien‘: ,,Damit ist eine jahrhunderte lange Entwicklung an ihr Ziel gelangt, das System der Leibes- und Lebensstrafen vollendet, das Knechtstrafrecht zum allgemeinen Strafrecht geworden, die Unterscheidung von Freien und Unfreien für das Strafrecht überwunden. Das Strafrecht zeigt bis auf den heutigen Tag die Züge seiner Abstammung von den Knechtstrafen. Die Strafe bedeutet seither eine capitis deminutio, weil sie eine capitis deminutio dessen, für den sie ursprünglich bestimmt war, voraussetzt. Bestraft werden bedeutet jetzt behandelt werden wie ein Knecht.“ (1950, S. 11). Daß die Unterscheidung von Herren und Knechten überwunden sei, möchte ich, zumindest bezüglich der Praxis des Strafrechts, im Gegensatz zu Radbruch bezweifeln.

2 Außer den Polizisten als legalen Agenten repressiver staatlicher Normkontrolle, deren Auftrag allerdings lautet, ,,law and order“ zu gewährleisten (eben nicht nur „law“ als Ausführungsgehilfen der kompetenten Anwender des Rechts, sondern auch „order“ als Agenten der gesellschaftlich begründeten Machtverhältnisse), haben heute nur Juristinnen als Staatsanwältinnen und Richterinnen die festgeschriebene Kompetenz, ein Verhalten als abweichend im Sinne des Strafgesetzes zu definieren.

Jedes Gesellschaftsmitglied könnte jede beliebige Handlung als Verbrechen bezeichnen und sogar Zustimmung bei anderen Mitgliedern finden, aber eine durch Staatsgewalt vollzogene Strafe als Rechtsfolge eines Normbruchs kann es nicht verhängen. Seine Definition erreicht keine legale Verbindlichkeit. Nur Richter richten, ihre professionelle oder alltägliche juristische Tätigkeit definiert strafbares Verhalten als Korrelat rechtlicher Normen. Die Polizistin und z. T. auch die Staatsanwältin definieren strafbares Verhalten als Korrelat der Aufrechterhaltung von „Recht (Ruhe) und Ordnung“. Die Normvorgabe jedoch wird durch die Machtverhältnisse, somit durch die Machtausübenden bestimmt.

3 Wenn beispielsweise in einem faschistischen Staat gefoltert wird, ist das ohne Zweifel ein Verbrechen. Es wird sich aber in dem Lande keine Richterin finden, der die Folterer verurteilt. Die Verbrechensdefinition bleibt moralisch oder politisch und bekommt keine juristisch legitimierte Grundlage. Eine Sanktionierung findet nicht statt, höchstens als Volksjustiz, die dann wiederum von den Herrschenden als Verbrechen bezeichnet und durch Gerichte sanktioniert werden kann.