Frauenhandel 3.6 – 3.7 Zeitgeist – Prostitution

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© ProLitteris, Rahel Zschokke

3.6 Einschätzung von Prostitution und Frauenhandel heute

Sie sagte sich: Mit ihm schlafen, ja aber nur keine Intimität.“ Karl Kraus

3.6.1 Selbstbewusste „Sex-Arbeiterinnen“

Im Zuge der neuen Frauenbefreiungsbewegungen ab Anfang 70er Jahre begannen sich auch die Prostituierten zu emanzipieren; sie forderten zivile Rechte und Aufnahme ins Arbeitsrecht und verschafften sich öffentlich Gehör. Ausgehend von den USA Mitte der 70er Jahre, wo die Prostitution bis heute strafbar ist, wehrten sich die selbstbewusster gewordenen „Sex-Arbeiterinnen“ gegen soziale und strafrechtliche Diskriminierungen, traditionelle Vorstellungen und Bilder über Prostituierte, Übergriffe der Polizei, medizinische Zwangsuntersuchungen und gegen das Diktat ihrer Arbeitsverhältnisse durch staatliche Kontrolle und Zuhälter. Von feministischen Anliegen bewegte Wissenschaftlerinnen, Anwältinnen, Ärztinnen, Journalistinnen, Künstlerinnen etc. befassten sich mit den Prostituierten, ihren Forderungen und ihrem neuen Selbstverständnis; dies geschah auf der Grundlage der Rechte für Frauen auf frei wählbare Arbeit, Selbstbestimmung über den eigenen Körper, freiem Ausdruck und Repräsentation, gegen Vergewaltigung und Gewalt gegen Frauen. Aus diesen Allianzen bildete sich die erste Organisation für die Rechte der Prostituierten in San Francisco,220 die sich im Laufe der Zeit unter verschiedenen Namen und Dachorganisationen über amerikanische und west-europäische Städte ausbreitete.

3.6.2 Organisierte Prostitution als moderner Sklavenhandel

Der aufkommende feministische Diskurs, der sich als Feministische Wissenschaft, Women Studies und heute Gender Studies auch an westeuropäischen Universitäten etablierte,221 machte sich daran, die Termini der Debatte zu analysieren.

In diesem Kontext wird Prostitution als eine vom Patriarchat begründete Institution zum Zwecke der Kontrolle, des Missbrauchs und der Fremdbestimmung von Frauen, Frauenkörpern und weiblicher Sexualität analysiert, die es zu bekämpfen gilt. So beschreibt Kathleen Barry in ihrem berühmt gewordenen Buch Sexual Slavery (1979) Frauen aus der Dritten Welt, die verschleppt, für sexuelle Zwecke verkauft und in die USA, Westeuropa, Saudi-Arabien und andere Länder transportiert wurden.222 1983 gründete sie mit Geldern der holländischen Regierung das „Internationale Feministische Netzwerk gegen weibliche sexuelle Sklaverei“ in Rotterdam, eine Dachorganisation für Frauenorganisationen, die in 24 Ländern mit ausländischen Prostituierten-Organisationen arbeiten. Nach COYOTE wurde in der Folge WHISPER223 mit Hauptquartier in New York gegründet, eine Organisation von Feministinnen, mittlerweile auch in Westeuropa präsent, die den Aspekt der sexuellen Ausbeutung von Prostituierten formuliert und, auf dieser Erkenntnis fußend, Frauenhandel zu bekämpfen sucht.

3.6.3 Feministische Debatte

Die feministische Debatte wird heute schismatisch geführt: Die einen deuten Prostitution als befreiende Wahl für einige Frauen und als eine legitime Form von Arbeit, die anderen sehen die Prostitution als Form von Ausbeutung und sexueller Gewalt.

Die Thematik der Prostitution ist eingebettet in den europäisch-nordamerikanischen Diskurs um Körper, Geschlecht, Weiblichkeit, weibliche Sexualität, sexuelle Befreiung, gesellschaftlicher Emanzipation von männlicher Bestimmung über Frauenkörper und sexuelle Selbstbestimmung, die in den 70er Jahren ihren Höhepunkt hatte und die heute etablierte Genderforschung begründete. Strukturierende Themen waren Gewalt gegen Frauen, Vergewaltigung, sexueller Missbrauch von Mädchen durch männliche Familienangehörige, patriarchale Strukturen und Werthaltungen und die Auseinandersetzung mit Vertretern von Justiz und Medizin, zum Beispiel in Fragen der Abtreibung (Recht auf den eigenen Körper) und der Rechtssprechung in Vergewaltigungsprozessen (Gentleman’s Delikt) und der Gesetzgebung (Gewalt in der Ehe).

Judith Butler artikuliert in ihrem Buch Gender Trouble, was einigen Feministinnen schon länger aufgefallen war.224 Das „Wir-Frauen-Gefühl“ der ersten Stunde des neuen Feminismus der 70er Jahre hatte tiefe Risse bekommen; angesichts der unterschiedlichen Positionen von Feministinnen sowie der unterschiedlichen Praxis von Frauen, aber auch im Verhältnis zu gesellschaftskritischen männlichen Theoretikern und Praktikern, wurde die politisch/soziale Kategorie Frau in Frage gestellt. Was einerseits als feministischer Generationenkonflikt und andererseits als Entpolitisierung und Fragmentierung der Frauenbewegung rezipiert wurde, mündete in jenen heute aktuellen Auseinandersetzungen um die Definitionsmacht darüber, was denn Gegenstand der Geschlechterforschung und wer für die wissenschaftliche Arbeit in diesem spezifischen Feld zuständig sei. Das belebende Moment der GenderDifferenz-Debatte ist für die heutige gesellschaftskritische Praxis und Theorie sicher ein Gewinn, bewahrt sie doch davor, ,,blinde Flecken“ der Partikularität als feministische Postulate zu verteidigen und die Sicht auf die eigene (partikuläre) Schicht- und Gesellschaftszugehörigkeit auszublenden. Die wissenschaftliche und praktische Herausforderung, Gesellschaftskritik ohne a priori festgelegtes „Wir-Gefühl“ zu artikulieren, ermöglicht die Weiterführung des Diskurses um Herrschaft im Sinne Foucaults, der Kritik an Herrschaftsstrukturen als wesentliches Moment begreift.

Obwohl es keine zu datierende spezifische Arbeit über die Beziehung zwischen kritischer feministischer Theorie, Praxis und Prostitution gibt, haben Theoretikerinnen das Thema Prostitution angesprochen: über Frauen und Kriminalität (Smart 1978, 1989, 1992) oder Frauen, Sexualität, soziale Organisation und Kontrolle (Mclntosh 1978, 1992; McLeod 1982; Jarvinen 1993; Brewis and Linstead 2000; O’Connell-Davidson 1998; West 2000). Historische Analysen haben vor allem Frauen, die als Prostituierte arbeiten, im Blick, aber auch den Staat als Kontrollinstanz, soziale Schichten und Gemeinschaften sowie die Regulierung des Körpers (Walkowitz 1980; Finnegan 1979; Bullough and Bullough 1987; Corbin 1987). Neuere Texte untersuchen den Sextourismus in Lateinamerika und Asien (Truong 1990; O’Connell-Davidson 1998).

In den Anfangsstadien der Analyse der Prostitution in der zeitgenössischen Gesellschaft galt ein reduktionistischer Ansatz, der Prostitution als abweichendes Verhalten behandelte. Feministische Arbeiten richteten den Blick vor allem auf Gewalt gegen Frauen, Sexualität, sexuelle Ausbeutung und/oder die Pornographie-Debatte (Barry 1988; Hoigard and Finstad 1992; Segal and Mclntosh 1992). Später wurde Prostitution als verständliche und vernünftige Strategie zur Überwindung von sozio-ökonomischer Not innerhalb des Kontextes einer Konsum-Kultur und innerhalb eines sozialen Rahmens, der männliche Sexualität privilegiert, gesehen (Pheterson 1986; O’Connell-Davidson 1998; McLeod 1982; McLintock 1995; Hoigard and Finstad 1992; Mclntosh 1978, 1992; West 2000). Jo Brewis und Stephen Linstead (2000) legen eine Untersuchung über die temporäre Organisation der Sexarbeit in Bezug auf den Arbeitsprozess vor und Jackie West (2000) untersuchte die Politik der Regulierung der „Sex-Arbeit“ im Vergleich zwischen Australien, Neuseeland, den Niederlanden und Großbritannien.

Liberale Feministinnen fordern eine Gleichstellung von Männern und Frauen und kritisieren die doppelte Moral, die Frauen kriminalisiert und Männer entehrt, aber das Geschäft mit der Prostitution aufrechterhalten will. Weg vom pathologischen Bild von Prostituierten argumentieren sie, dass Prostitution für Frauen ohne Alternativen eine Arbeitsgelegenheit ist, da der Arbeitsmarkt segmentiert und Frauen mit bestimmten Biographiemustern der Zugang zu regulären Arbeitsplätzen oft erschwert oder verwehrt ist. Prostitution gilt darum als Lebensstrategie, um ein von Ehemann und Sozialhilfe unabhängiges Einkommen zu erzielen, und als positive und rationale Wahl (rational choice), solange eine Frau dies für sich selber entscheidet. Liberale Feministinnen versuchen, das Thema aus der Perspektive der Prostituierten zu formulieren. Sie stützen sich bezüglich der Einschätzung der patriarchalen Ausbeutung auf deren Selbstdarstellung und -definition. Etwas abseits der Debatte finden sich auch Positionen, die sich auf den Stigma-Ansatz von Goffmann 225 berufen (Pheterson 1986).

Sozialistische Feministinnen wie Carole Pateman 226 argumentieren, dass Prostitution keine „Arbeit wie jede andere auch“ sei, denn die Prostituierte biete ihre körperliche Verfügbarkeit und damit ihre Identität als Frau feil. Ihr Ansatz befasst sich mit der Frage, warum Männer als Freier auftreten und formuliert damit eine Position, dieProstituierte als Frauen schützt, aber der Prostitution als Institution und deren Organisation und Kontinuität kritisch und ablehnend gegenüber steht.

Radikale Feministinnen wie Kathleen Barry sehen die Beziehung zwischen Klient und Prostituierter als Beispiel von männlicher Dominanz. Sie fordern deshalb ein Ende der Prostitution als Form sexueller Sklaverei und ein Ende von patriarchal hegemonialen Geschlechtsbeziehungen. Sie argumentieren, dass Frauen grundsätzlich in die Prostitution gezwungen sind und die Prostitution als Geschäft vor allem dem finanziellen Vorteil Dritter und nicht den Prostituierten selber diene.

Die kalifornische Soziologieprofessorin, ehemalige „Sex-Arbeiterin“ und Konsumentin der Sexindustrie Jill Nagle (1997) 227 profiliert sich als kontroverse Figur. Sie will eine Plattform schaffen für Frauen, die in der Sexindustrie arbeiten und keinen Zugang zur feministischen (akademischen) Debatte haben. Sie meint, dass die feministische Debatte die Prostituierten verfehlt habe. Sie plädiert für bessere Bedingungen der Sexarbeit, unterscheidet aber zwischen frei gewählter und mit Gewalt erzwungener Prostitution. Als Homosexuelle wendet sie sich gegen jede Form von Strafe von consensual adult sexual activity und will eine Brücke schlagen zwischen good girls and bad girls und macht keinen Unterschied zwischen Sex und kommerziellem Sex (erotic labour). Sie unterteilt Feministinnen in drei Kategorien:

Propositive Sex-Feministinnen: Sie sehen Prostitution und Pornographie als korrupte Praktiken, die positiven Sex oder Eros, der auf Liebe aufbaut, unterminieren. Der Ausdruck von Sex ist Liebe und ist in der Objektivierung vergewaltigend (Kathleen Barry, Carole Pateman u.a.). Diese Autorinnen wollen Frauen von der Objektivierung des Sex durch Männer befreien.

Anti-Sex-Feministinnen: Frauen haben auf dem Terrain „Sex“ nichts verloren, da dieses von Männern dominiert ist. Prostitution ist niemals Arbeit, da sie Frauen als Sex-Objekt konstituiert, was die von Männern phantasierte Definition von Frauen als „Huren“ bestätigt.

Radikale Feministinnen: Sie sehen alle Formen des Sex als subversive Möglichkeit, die kulturelle Ordnung von innen heraus durcheinander zu bringen. Sex kann männliche Macht destabilisieren, aber auch verstärken. Diese Haltung entspricht einer radikalen, libertären Ethik und Politik.

Wendy Chapkis (1997) äußert der „freien Wahl“ gegenüber kritisch, dass sehr wenige Frauen (dies gilt allerdings auch für Männer) in der Lage sind, aus unvorteilhaften Positionen in hierarchischen Strukturen von Geschlecht, Rasse und Schichtzugehörigkeit ihre Lebensgrundlage frei zu wählen. Sie geht davon aus, dass Frauen, die in der Prostitution arbeiten, eine rational choice zugrunde legen, da eine „freie Wahl“ der Lebensgrundlage praktisch nur einigen wenigen Privilegierten vorbehalten ist. Sie plädiert für vermehrte Kontrolle der Arbeitsbedingungen, aber auch für die Selbstbestimmung der Betroffenen und die Unterstützung der Bewegung für Prostituiertenrechte.

Die ganze Debatte zeigt, dass sich die Position der Prostituierten nicht auf eine passive Objekthaftigkeit reduzieren lässt, sondern „can be understood as a place of agency where the sex worker makes use of the existing social order“.228 Wenn die Autorin Prostituierte als Symbol von Frauenautorität und Bedrohung des Patriarchats anspricht und soziale Ungerechtigkeiten ins Feld führt, die mittels Prostitution und der Bewegung für Prostituiertenrechte subversiv-kreativ unterwandert werden können, fehlt ihrem Ansatz der Bezug zur Struktur der Ungerechtigkeiten. Ebenso schleierhaft bleibt der Bezug zur Gesamtgesellschaft. Von ihrem Ansatz bleibt eigentlich nur das „Huren-Stigma“ übrig, gegen das sie sich wendet. Damit rennt sie reihum offene Türen ein, da dieser Ansatz in westlichen Gesellschaften schon länger als veraltet gilt, weil damit keine den Menschenhandel oder die (Migrations)Prostitution betreffende Probleme erklärt bzw. gelöst werden können.

Die Engländerin Maggie O’Neill229 nimmt die Anregung von Nagle und Chapkis auf und betont die wachsende Bedeutung der Europäischen Bewegung für Prostituiertenrechte als neue soziale Bewegung. Teil des sozialen Kontextes ist der Kampf um die Anerkennung der Prostitution als Arbeit und die internationale Aufnahme der Prostitution in die Arbeitsgesetze. Nach O’Neill postulieren feministisch beeinflusste Prostituierte für sich dieselben Rechte und Freiheiten wie andere Arbeiterinnen auch, weil die Realität von Frauenleben nicht unbedingt die Möglichkeit biete, über Frauenunterdrückung und Unterstützung des Patriarchats zu debattieren. Aber viele Prostituierte seien sich der Widersprüche bewusst und fühlten sich ausgebeutet. Selbsthilfegruppen, die Strategien des Widerstands diskutieren, wo Prostituierte einander unterstützen und ermutigen, sind manchenorts aktiv. Das sind in England POW! und WHIP,230 in Schottland Scotpep, Apramp in Madrid, Hydra in Berlin, HWG in Frankfurt, Cal-Pep und COYOTE in den USA, EMPOWER in Thailand, ProKoRe in der Schweiz231 und weitere Projekte der weltweiten Bewegungen für Prostituiertenrechte.

Für O’Neill (2001) besteht ein großes Bedürfnis, Prostitution aus einer feministischen Perspektive mit einer frauenzentrierten Position zu untersuchen, die die Erfahrungen von Prostituierten im Kontext von sexueller und sozialer Ungleichheit beinhalten. Die Verbindung von feministischer Theorie, Frauenerfahrungen und politikorientierter Praxis könne gleichzeitig eine kollektive Antwort auf die Ideologie des Individualismus und auf feministischen Kritikerinnen (Nagle 1997 und Chapkis 1997) geben. Für O’Neill ist aber klar, dass Prostitution und Sexindustrie globale Institutionen sind, tief eingebettet in sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Strukturen, verwurzelt im Kapitalismus, der Warenwelt und der Struktur sexueller Beziehungen zwischen Männern und Frauen. Sie betrachtet es als große Aufgabe für Feministinnen, ein besseres Verständnis für diese komplexe Thematik zu entwickeln und hebt die Wichtigkeit von kritischen feministischen Ansätzen hervor, die in die materielle und persönliche Erfahrung von als Prostituierte arbeitenden Frauen eingebunden sind. Mit dem Schwerpunkt auf persönliche Erfahrungsaspekte entwickelt sie ein interpretatives Verständnis von Prostitution in der heutigen Gesellschaft. Dies führt zu einem neuen Blick auf die Geschlechterbeziehungen, auf Männlichkeit, männliche Gewalt und auf die soziale Organisation von Begehren und Zerstörung zwischen Zuhälter, Kunde und Prostituierter.

Mit ihrem Ansatz der „Politik der Gefühle“ tritt sie einerseits gegen eine Romantisierung und Idealisierung von marginalisierten Personen an, versucht aber einem „Postemotionalismus“ zu widerstehen, der unsere sozialen Welten durch „synthetische Emotionen“ und verloren gegangene Lust an der Leidenschaft prägt.232

Auf der anderen Seite argumentiert unter anderen Kathleen Barry „we cannot turn a blind eye to the horror of international trafficking in women and children when exploring possibilities, both, practical and ideological, for sanctioning the use value for exchange value of women’s bodies, or prostitution as work.233 Oder wie Carol Pateman (1988) argumentiert: “Neither contempt for women nor their ancient profession underlies feminist arguments; rather, they are sad and angry about what the demand for prostitution reveals of the general character of (private and public) relations between the sexes. The claim what is really wrong with prostitution is hypocrisy and outdated attitudes to sex is the tribute that liberal permissiveness pays to political mystification.“ (Pateman: 565). Die Prostitution muss innerhalb des sozialen Kontextes der Struktur von sexuellen Beziehungen zwischen Männern und Frauen platziert werden (Pateman: 563).

Laurie Shrage (1994) nähert sich dem Thema Prostitution und Feminismus von der Seite der feministischen Philosophie und zeichnet ein klares Bild der schwierigen Debatte von Feministinnen. Einerseits wollen Feministinnen natürlich den Widerstand gegen Verbote und Diskriminierungen gegen Frauen unterstützen, die meist die Freier und Zuhälter verschonen und die Prostituierten diskriminieren. Andererseits können Feministinnen Prostitution und die Sexindustrie nicht unterstützen, da sie moralisch und politisch fragwürdig sind. Die Sexindustrie ist strukturiert über Werte und Attitüden, die frauenfeindlich sind, denn Prostitution hängt von der Naturalisierung gewisser Prinzipien ab, die Frauen sozial und politisch marginalisieren (Shrage 1989: 349). Diese Prinzipien sind letztlich in einen kulturellen Rahmen eingebettet, der Annahmen, Verhalten und Meinungen impliziert, die die Unterordnung der Frauen legitimieren. Sexindustrie und Prostitution perpetuieren eine patriarchale Ideologie und die Hegemonie der Heterosexualität. Dazu kommt, dass Prostitution eine Konsequenz der patriarchalen Hegemonie ist, die die Grundlage von allen sozialen Institutionen und Praktiken westlicher Gesellschaften bildet.

Shrage möchte die Voraussetzungen herausfordern, die Prostitution ermöglichen. Dazu braucht es keine speziellen Heilmittel. Prostitution heilt sich selbst, insofern als Feministinnen Änderungen in Glaubensmustern und Praktiken vorantreiben, die Frauen in allen Aspekten ihres Lebens unterdrücken. Obwohl eine feministische Position kompatibel mit der Entkriminalisierung von Prostitution ist, haben Feministinnen jeden Grund, Prostitution politisch zu bekämpfen, weil sie eine Praxis repräsentiert, die Geschlechter-Asymmetrie234 unterstützt, was wiederum Frauen unterdrückt (Shrage: 361).

Während Irigaray (1993) die Beziehung zwischen Prostitution, Sexualität und der sozialen Organisation des Begehrens untersucht, stellt sie fest, dass die „zwischen-Männern-Kultur“ die dominanten Diskurse konstituiert. Eine kritische feministische Praxis ist also eingebettet in eine kulturelle Politik der Differenz.

3.6.4 Von Sex als Sünde zu Sex als Arbeit

Die amerikanische Soziologin und langjährige politische Aktivistin Kamala Kempadoo konstatiert, dass die Prostituierten-Bewegungen sich nicht mehr auf die USA und Westeuropa beschränken, sondern mittlerweile die „Dritte Welt“ erfasst haben.235 Identität, Rechte, Arbeitsbedingungen, Entkriminalisierung und Legitimität waren Themen, die lange Zeit kollektiv von Prostituierten und ihren solidarisch Verbündeten angesprochen und nun weiter getragen werden. Wenn auch Begriffe wie „Hure“ teilweise in den Selbstdefinitionen weiterhin gebraucht werden, scheint man sich international doch in Begriffen wie Prostituierte, Prostitutionsmigrantin oder eben Sex Worker (,,Sex-Arbeiter“ und „Sex-Arbeiterin“) gefunden zu haben. Diese Begrifflichkeiten betonen, dass Prostitution weder als Identität noch als soziale oder psychische Eigenschaft von Personen verstanden wird, sondern dass damit primär eine Aktivität von Frauen und Männern benannt wird, die Einkommen generiert. Der Begriff „Sex-Arbeit“ bezeichnet den sozialen Ort jener Personen, die in der Sex-Industrie als Arbeitende tätig sind. Für Kempadoo ist die Idee der „Sex-Arbeiterin“ verbunden mit dem Kampf um Anerkennung von Frauenarbeit, um Menschenrechte und um akzeptable Arbeitsbedingungen. Diese Definition betont sowohl die Flexibilität und den Variantenreichtum der „Sex-Arbeit“ wie auch die Ähnlichkeiten mit anderen Dimensionen von Leben der arbeitenden Bevölkerung. Nach Kempadoo illustrieren die Erfahrungen von sexworkers in Dritt-Welt-Ländern, dass diese Tätigkeit zwar von vielen Frauen und Männern auf der ganzen Welt ausgeübt und damit Geld verdient wird, dies aber nicht notwendigerweise die einzige Identität und Selbstbewusstsein stiftende Aktivität in den betreffenden Menschenleben darstellt. Vielmehr geht sie davon aus, dass kommerzielle „Sex-Arbeit“ gleichzeitig mit anderen Formen der Erwerbsarbeit wie zum Beispiel Hausarbeit, informelle Handels- oder Marktstand-Geschäfte, Büro- und Putzarbeit etc. kombiniert ist und deshalb vor allem nach Gelegenheit oder saisonal und temporär auftritt. Es mag zutreffen, wenn die Autorin erklärt, dass „Sex-Arbeit“ für die meisten eine von vielen Aktivitäten ist, um Geld zu verdienen; weniger, um persönlichen Reichtum zu erwirtschaften, sondern vor allem, um ihre Familien zu ernähren, ihre Kinder zu kleiden und zu erziehen oder mangels Familieneinkommen die eigene Existenz zu sichern. Deshalb, so die Autorin, verbleiben nur wenige ihr ganzes Leben lang als Professionelle in der Prostitution. Maggie O’Neill bestätigt in ihrer Untersuchung über weibliche „Sex-Arbeit“ in England den Gelegenheits- und temporären Charakter von Prostitution, vor allem von sehr jungen Frauen und Hausfrauen mit Kindern, die ihre eigene Existenz oder die ihrer Familie durch Einkommen aus der Prostitution sichern. (236) Für die Schweiz liegen keine entsprechenden systematischen oder Langzeituntersuchungen zu Gelegenheits-, temporärer und saisonaler Prostitution von Einheimischen vor, so dass nur auf Grund sich häufender Medienberichte vermutet werden kann, dass auch hierzulande existentielle Not, Abbau von Familienschulden, ,,Sex für Drogen“ oder der Konsumdruck unter Gleichaltrigen in solche Muster der Prostitution führen.237 Armut ist kein Privileg der Dritt-Welt-Länder; westliche Gesellschaften sind damit ebenso konfrontiert, wobei auch hier Frauen mit Kindern am meisten davon betroffen sind.238

Auf der anderen Seite bemerkt Kempadoo, dass „Sex-Arbeit“ für viele mit Drogengebrauch, Verschuldung und Abhängigkeit, aber auch mit Migration weg aus den familiären Vernetzungen, dem Dorf und dem Heimatland verbunden ist. Erfahrungen, die – wie aus anderen Zusammenhängen bekannt239, schwerlich als saisonal oder temporär sozial reintegriert und kaum durch individuelle Anstrengung kontrolliert werden können. Wenn Migrationsmuster von Saisonalität und Temporalität vor allem zutreffen mögen auf männliche, aber auch auf weibliche Prostitution aus kulturell und geographisch „nahen“ Gesellschaften;240 und wenn männliche Gelegenheitsprostitution auch aus kulturell und geografisch „fernen“ Gesellschaften in Westeuropa eine gewisse Verbreitung hat, so wäre dies für weibliche kommerzielle Prostitutionsmigration zumindest kritisch zu überprüfen. Denn, wie Susanne Kappeler bemerkt, verdeckt der Handels- und Arbeitsdiskurs und der Versuch, ,,den Dienst am Mann“ als Sex-,,Arbeit“ aufzuwerten, die Koppelung der Existenzgrundlage von Frauen über Aufenthalts-, Ehe- und Arbeitsrecht an den Mann.241 Dieser Diskurs zielt in die gleiche Richtung wie die Bemühungen feministischer Ökonominnen, unbezahlte Haus- und Ehefrauenarbeit als Arbeit zu beziffern und in die wirtschaftliche Gleichung einzubringen. Kappeler fragt: „Ist Prostitution oder „Sex-Arbeit“ Teilzeit-Ehefrauenarbeit mit befristetem Vertrag? Und ist Ehefrauenarbeit Arbeit im Sinne unserer Gesellschaft und des kapitalistischen Leistungsprinzips, obwohl sie unbezahlt ist? Oder ist Lohnarbeit gleich Prostitution, weil der Mensch ja gleichermaßen Arbeit sucht, um die lebensnotwendige Bezahlung zu bekommen?“

Jill Jesson242 macht eine Literaturanalyse und nennt drei Hauptströmungen von Ansätzen zu Prostitution und Prostituierten: einen strukturalistischen, einen feministischen und die Perspektive der Prostituierten. In einem funktionalistischen Ansatz werden Prostituierte als mental, sozial und sexuell abweichend gesehen. Prostitution hingegen wird als funktional im Sinne der Sicherheit für die Gesellschaft und universell verstanden. Dieser Ansatz (Kinsey et al. 1948, Benjamin and Masters 1965) gilt heute als überholt.

Nagle (1997) und Chapkis (1997) vertreten die Perspektive der Prostituierten, indem sie die Anerkennung von Prostitution als Arbeit oder emotionalen Beruf, der durch spezielle Fertigkeiten und Fähigkeiten (skills) gekennzeichnet ist (erotic labour),fordern.

Feministische Ansätze (Finnegan 1979, Walkowitz 1980, Hoigard and Finstad 1992, McLeod 1982) wurzeln im Feminismus der Jahrhundertwende und thematisieren Ungleichheit, Geschlechterbeziehungen, sozio-ökonomische Macht der Männer und die Art, wie die Prostitution die patriarchale Sichtweise der Sexualität reflektiert.

Als interaktionistisch/konstruktivistisch bezeichnet Jarvinen243 ihren eigenen Ansatz. Prostitution ist demnach ein durch Zeit und Gesellschaft sozial konstruiertes, relatives Konzept. Eine Karriere in der Prostitution hängt von den Beziehungen zwischen den Prostituierten und deren Milieus ab. Der Fokus liegt in dieser Konzeption zwischen den Prostituierten (Objekte) und den Autoritäten (Subjekt der Kontrolle).

Zusätzlich erwähnt sie subkulturelle Ansätze, die Prostituierte in einer Subkultur der Zuhälter (Alkohol, Drogen, Prostituierte, Lebensstil), oder in einer „Zweiwelt“-Subkultur (Frauen kombinieren Prostitution mit Familienleben, Studium, konventionellen Jobs) oder in einer kriminellen Subkultur (Diebstahl, Drogenhandel) auf Grund ihrer sozialen Beziehungen zu Zuhältern, anderen Männern und Prostituierten den Männern unterordnen. Nagle (1997) und Chapkis (1997) sprechen allerdings von Frauen-Subkulturen, die auf Frauensolidarität aufbauen, von Frauen definiert und von Frauen dominiert sind.244

3.6.5 Politik der Prostitution

Wests Analyse unersucht die komplexen Überschneidungen zwischen lokalen Politiken, Sexarbeiter-Kollektiven und regulierenden Kontexten, die gekennzeichnet sind durch eine zunehmende Differenzierung innerhalb der Prostitution und durch ein Verschwimmen der Grenzen zwischen Legalisierung und Entkriminalisierung. Sie konstatiert auch, dass Investitionen in die Freizeit-Industrie sowie die Lockerung der staatlichen Regulierung von Prostitution einen prostitutionsfördernden Einfluss haben. Diesen Einfluss bezeichnet sie als untertheoretisiert, obwohl die Wichtigkeit dieses Aspekts unbestritten ist.

Johannes Boutellier (1991) entwickelt die Legalisierungs- und Entkriminalisierungsdebatte in den Niederlanden aus der Perspektive von Prostituierten, Strafrecht und Moral in Verbindung mit dem Engagement von führenden Feministinnen. Eine Koalition zwischen Feministinnen und bürokratischen Kräften habe die öffentliche Debatte über Prostitution geändert. Die holländische Regierung änderte 1985 das Gesetz über die Betreibung von Bordellen (1911 unter dem public morality act verboten). Ein Bordell zu betreiben, ist nicht länger verboten. Die Revision der Gesetze erleichtert es, Prostitution als Arbeit zu verstehen; es gibt jedoch Bedenken in der Beziehung von Prostitution als Arbeit und Frauenhandel. Die holländischen Feministinnen machen klar, dass Prostituierte nicht als Schuldige angesprochen werden sollten. Im Gegenteil: Männer, die Prostitution organisieren und konsumieren, sollten verantwortlich gemacht und zur Rechenschaft gezogen werden. Strafverfolgungsbehörden sollten Bordellbetreiber kontrollieren und nicht Prostituierte. Ein weiteres Anliegen der holländischen Feministinnen ist die Stärkung des sozio-legalen Status von Frauen.

3.6.6 Diegesetzliche Regulierung der Prostitution

Forschung über Prostitution bezieht sich auch auf den Kontext des geltenden Rechts. Um das Gesetz innerhalb europäischer und internationaler Instrumente zu homogenisieren und auszubalancieren, ist es nötig, Unregelmäßigkeiten, Widersprüche und Schlupflöcher zu finden und zu benennen. Die unterschiedliche ideologische Konstruktion von Prostitution Effekte wirkt auf die Gesetzgebung und die Gesetzespraxis. Das aktuelle Schisma (Prostitution als Sex und Privatangelegenheit oder Prostitution als Ausbeutung und Menschenhandel) beeinflusst das Klima der aktuellen Debatte um die Rekonstruktion der legalen Prostitution in Europa.

Die Gesetzeswerke, die die Prostitution im letzten Jahrhundert in Europa regelten, wurden in weiten Teilen im 19. Jahrhundert formuliert. Sie orientieren sich an Leitlinien wie „öffentliche Ordnung“, ,,Ruhestörung“, ,,Sittlichkeit“, Kontrolle des „weißen Sklavenhandels“ und Gesundheitspolitik. Dieser gesetzliche Rahmen blieb mehr oder weniger bis zum sogenannten Wolfenden Report 1957 intakt.245

In den westlichen Ländern gilt der Wolfenden Report als Versuch, die gesetzlichen Regelungen der Prostitution zu liberalisieren. Das Gesetz soll Prostitution grundsätzlich aus seinem Aufgabenbereich ausschließen und nur dann zur Anwendung kommen, wenn Prostitution offensiv und Prostituierte gefährdend organisiert und ausgeübt wird.

Dieser Report galt als Vorbild, wie der moderne Staat mit Phänomenen dieser Art umgehen sollte;. Zusammen mit dem Street Offences Act(1959) beruht er auf der Perspektive der Aktivitäten weiblicher Prostituierten. Obwohl Wolfenden als liberal galt, wies eine Kritikergruppe auf die vielen Inkonsistenzen und Spannungen hin und engagierte sich in der Debatte um den effizientesten Weg, wie Prostitution zu regulieren sei. Die Debatte beinhaltete vier grundlegende Punkte: Legalisierung, De-Kriminalisierung, Prohibition und Regulierung.

Legalisierung: Kontrolle durch den Staat und Lizenzierung von Bordellen. Ziel ist hier, Prostitution durch Formen der Institutionalisierung zu organisieren und zu kontrollieren. Dies erleichtert die Überwachung und die medizinische Kontrolle der Prostituierten. So will man die Prostituierten weg von der Straße holen und sie vor Zuhältern und Freiern schützen.

De-Kriminalisierung: Aufhebung von Gesetzen, die spezifisch auf Prostitution ausgerichtet sind. Damit soll die Stigmatisierung aufgehoben und die Spannungen durch Gesetze vermindert werden.

Prohibition: Kriminalisierung der Prostitution selbst. Diese Option wurde von verschiedenen US-Staaten angenommen. Hier sollten Widersprüche im Gesetz entschärft werden, das Prostitution zwar als legal, aber die verschiedenen Formen der Praxis als illegal bewertet.

Regulationismus: Diese Politik war z.B. in Großbritannien und in der Schweiz in den letzten 100 Jahren vorherrschend. Ziel ist hier, einige unerwünschte Effekte zu limitieren und ein niedriges Niveau von Kriminalisierung beizubehalten. Das Ziel ist nicht, Prostitution zu illegalisieren, sondern gewisse Aspekte des Gewerbes zu kontrollieren. Der Einstieg in die Prostitution soll erschwert werden.

Die Regulierungen sind aber weder fix noch gleich bleibend, sondern nehmen je nach den sozialen Bedingungen und der Mobilisierung von politischen Bewegungen in verschiedenen Ländern eine Kombination unterschiedlicher Formen an. Die Entwicklung von Organisationen, die weibliche Prostitution repräsentieren, spielt dabei eine große, doch wenig anerkannte Rolle bei der Einflussnahme auf die Art der Regulierung.

In letzter Zeit haben sich vor allem in England und Kanada Bürgerinitiativen entwickelt, die sich um Prostitution auf der Straße organisiert haben. Als Konsequenz von agierenden Nachbarschaftsgruppen haben sich eine Reihe von multiagencylnitiativen etabliert, die auf Politik und Umgebungsthemen und damit auf das Design der Prostitution abzielen. Solche Gruppen können sehr effizient sein, beispielsweise um die Visibilität des Phänomens in einem Rotlichtmilieu zu reduzieren. Wie John Lowman246 aus Kanada berichtet, führte ein multiagencyAnsatz mit dem Ziel, Straßenprostitution in Vancouver unter Kontrolle zu halten, dazu, dass sich die Szene in einen anderen Stadtteil verzog. Die Stadtautoritäten sollten bestimmen, wo Prostitution erlaubt sei. Roger Matthews widerspricht mit Beispielen aus Großbritannien, und weist auf die Unvereinbarkeit der verschiedenen Formen von Prostitution hin. Straßenprostituierte seien wenig daran interessiert, in Lokalen zu arbeiten, und umgekehrt hätten Bar-, Escort- oder Wellnessprostituierte ihre spezifischen Gründe, warum gerade dieses Umfeld das günstigste für sie sei.

Vorliegende Untersuchung bestätigt diese Sichtweise. Escort Organisationen, Prostitution in Privathäusern von Wohnquartieren oder Wellnessprostitution kommen aufgrund der „Unsichtbarkeit“ den Bedürfnissen von Prostituierten ohne erforderliche Arbeits- und Aufenthaltsbewilligungen besonders entgegen, während Straßenprostitution oder das Rotlichtmilieu den polizeilichen Kontrollen eher zugänglich sind.

Statt Unterdrückung und Regulierung von Prostitution kam in den letzten Jahren ein eher wohlfahrtsorientierter Ansatz auf, der die Bedürfnisse der Frauen anspricht, und teilweise einen Ausstieg unterstützt. Natürlich ist Wohlfahrt auch eine Art, Regulierungen durchzusetzen, aber die Perspektive ist eine andere. Nach anfänglichen Erfolgen eines Aussteigerprogramms in Malmö hatte dies in Norwegen und anderen Ländern wenig Erfolg. Vermutlich wären Aussteigerprogramme auf freiwilliger Basis besonders für Prostitutionsmigrantinnen auch in der Schweiz wenig erfolgreich, angesichts der Attraktivität, in drei Monaten soviel Geld zu verdienen wie eine Reinigungskraft ohne entsprechende Bewilligung, die dafür ein ganzes Jahr hart arbeiten muss.

3.6.7 Prostitution als medizinisches Problem

Mit Aids verstärkte sich die Regulierung weiter. Prostituierte wurden als Risikogruppe identifiziert. Forschungsgelder im Bereich Prostitution und Freier wurden bereitgestellt. Die Untersuchungen zeigten, dass Aids unter Prostituierten vor allem aufgrund intravenös gespritzter Drogen auftauchte und bei Prostituierten nicht häufiger vorkam als bei sich nicht prostituierenden Frauen. Es sind vor allem Abtreibungen und mit der Schwangerschaftskontrolle verbundene Probleme sowie aufsteigende Unterleibsinfektionen, die weibliche Prostituierte gesundheitlich bedrohen.247 Auch Alkoholismus, Tablettensucht und in einigen Fällen Drogenabhängigkeit treten vor allem bei Tänzerinnen und Prostitutionsmigrantinnen als gesundheitsschädigende Begleiterscheinungen auf.248

Unterschiedliche Arten von Regulierung sind historisch auf unterschiedliche Formen der Prostitution angewendet worden. Gesetze und Rechtspraxis sind dabei nicht einfach als Antwort auf wahrgenommene Probleme der Prostitution zu verstehen. Vielmehr erfüllen sie eine formende und definierende Funktion in Debatte und Problemwahrnehmung von Prostitution und Menschenhandel und nicht zuletzt bezüglich deren gesellschaftlichen Legitimation.

3.6.8 Der Begriff der „Sexuellen Selbstbestimmung“

Angeregt durch den jahrelangen feministischen Diskurs zu Gewalt und sexueller Ausnützung von Frauen in der Ehe, fokussiert die Schweizerische Gesetzgebung im Rahmen der Revision des Schweizerischen Sexualstrafrechts 1992 die sexuelle Selbstbestimmung, formuliert das Gesetz über Prostitution neu und nimmt Abstand von der moralischen „Bekämpfung der Prostitution“. Die Revision steht im Zeichen der Liberalisierung und streicht den Straftatbestand der Zuhälterei ersatzlos. Die Prostitution soll als „Geschäft wie jedes andere auch“ gelten.249

Über die Strafbarkeit des Zuführens von Minderjährigen herrscht in Lehre und Rechtsprechung Einigkeit, die anderen Tatbestände geben zu unterschiedlicher bis kontroverser Auslegung Anlass.250 So wird zum Beispiel unter „Ausnützung von Abhängigkeit“ die „Unbeholfenheit mittelloser Ausländerinnen, die unter Vorspiegelung falscher Tatsachen in die Schweiz gelockt wurden“ ins Feld geführt,251 was die Begriffe ,,Freiwilligkeit“ und ,,Informiertheit“ in der Rechtsprechung stark gewichtet. Der Art. 195 StGB wird aber vor allem auf Personen angewendet, die gegen dieses Gesetz im Zusammenhang mit ANAG verstoßen, also auf Personen, die Prostitution ohne die erforderlichen Bewilligungen in der Schweiz ausüben bzw. auf deren Zuhälter, Vermittler, Club- und Bordellbesitzer als „Arbeitgeber“. Dies hat zur Folge, dass „Illegalität“ auf die Prostitutionsmigrantinnen selbst zutrifft und sie als Täterinnen in ihre Herkunftsländer zurückgeschafft werden können, und den Gerichten nur in den wenigsten Fällen als Zeuginnen für „Freiwilligkeit“ und „Informiertheit“ zur Verfügung stehen. Ähnlich verhält es sich mit dem Tatbestand der „Überwachung“ und dem „Bestimmen von Ort, Zeit, Ausmaß oder anderer Umstände der Prostitution“, dessen Anwendbarkeit in casu von Strafverfolgungsbehörden und Gerichtsinstanzen unterschiedlich interpretiert, höchstrichterliche Entscheide herausfordert, ebenfalls ohne entsprechende Zeuginnen. Auch das Führen von Bordellen mit ausländischen Prostituierten ohne entsprechende Bewilligung wird – entgegen der Ansicht des Gesetzgebers252 – von Lehre und Rechtsprechung nicht generell als Ausnützen der Abhängigkeit der darin Tätigen angesehen,253 sondern es wird nach der Freiwilligkeit oder physischen und psychischen Zwangsbedingungen gefragt. Diese Beispiele zeigen, dass sich in der Schweiz Formen der Prostitution entwickeln, die sich einerseits der Kontrolle der Polizei entziehen und die andererseits als Probeballons die Grenzen der staatlichen Rechts- und Polizeiinstrumente ausreizen.

Dem Begriff der sexuellen Selbstbestimmung kommt in diesem Kontext eine Schlüsselstellung zu. Protestbewegungen, die im Feminismus der 70er Jahre ihren Höhepunkt erreichten, richteten sich vor allem gegen das Selbstverständnis der Definitionsmacht von Männern über Frauen, allen voran gegen Ehemänner, die die rechtmäßige Funktion von Ehefrauen bestimmten. Dadurch sicherten sie sich einen ungehinderten Zugang zum Frauenkörper und verfügten über weibliche Sexualität.

Der Widerstand gegen unerwünschte sexuelle Ansprüche von Ehemännern gegenüber ihren Ehefrauen äußerte sich in der Forderung nach der allgemeinen, rechtlichen und sozialen Selbstbestimmung, aber auch nach der speziellen körperlichen und sexuellen Selbstbestimmung. Nicht länger durften Vergewaltigung in der Ehe oder die Durchsetzung sexueller Interessen des Ehemannes gegen den Willen der Ehefrau als Privatsache zwischen den Eheleuten verstanden und strafgesetzlich ignoriert werden. Obwohl in der Schweiz mittlerweile häusliche Gewalt als eines der schwerwiegendsten Sicherheitsprobleme erkannt ist, sollte es noch 30 Jahre dauern, bis die Gesetze entsprechend geändert waren; dabei steht die Rechtspraxis erst am Anfang dieses neuen Selbstverständnisses von (ehe)fraulicher Selbstbestimmung und es ist noch ungewiss, was das neue Instrument zur Entschärfung häuslicher Gewalt beiträgt.

Während sich der Begriff Selbstbestimmung immer auf die emanzipativen Bestrebungen von Frauen bezieht, die ihre bürgerlichen, ökonomischen und sozialen Rechte einfordern, ist die an diesen Kontext angelehnte Begriffsbildung der sexuellen Selbstbestimmung im allgemeingültigen Kontext des positiv formulierten Gesetzeswerks zumindest kritisierbar. Denn als Grundlage von geschlechtlichen Beziehungen genügt die Selbstbestimmung wohl kaum, um die doch in den meisten Fällen paarweise auftretenden sexuellen Austausch zu begründen und zu regeln. Als ein Produkt der political correctness verweist der Begriff sexuelle Selbstbestimmung auf die Legitimität von Ehefrauen, auf sexuelle Ansprüche ihrer Ehemänner nicht einzutreten. Denn bislang galten sexuelle Ansprüche von Eheleuten unter sich als legitim. Davon wird stillschweigend wohl heute noch ausgegangen (debitum carnale), da im Schweizerischen Gesetzbuch eine diesbezügliche Änderung fehlt. Der positiv formulierte Anspruch der sexuellen Selbstbestimmungetwa einer Ehefrau mit Kinderwunsch, den sich entsprechend verweigernden Ehemann vor den Richter zu zitieren, bleibt abzuwarten oder führt den Begriff ad absurdum. Im Weiteren gilt der Begriff der sexuellen Belästigung, dem in Westeuropa allerdings eine ausgedehnte Gerichtspraxis fehlt, und die Vergewaltigung, die zwar schon länger pönalisiert, aber als Straftat erst seit kürzerem – auch für Verheiratete – angemessen geahndet wird. In den meisten Fällen ist dabei von Aggressoren männlichen Geschlechts die Rede. Ob in oder außerhalb der Ehe – es muss vielmehr von einem reziproken Vertrauensverhältnis ausgegangen werden, das sexuelle Ansprüche legitimiert, oder gegebenenfalls von Zwang, Gewalt, oder Nötigung, und weniger von einer aus dem Kontext gelösten sexuellen Selbstbestimmung.

Wird nun die sexuellen Selbstbestimmungvon Gesetz und Rechtspraxis auf die Prostitution oder in der Schweiz vielmehr auf die organisierte Prostitutionsmigration angewendet, liegt die Vermutung nahe, dass der Begriff der Legitimierung und Rechtfertigung von Prostitution und von international organisierten Prostitutionsgeschäften dient. Denn die sexuelle Selbstbestimmung ist gerade das, was bei der Prostitution zum Kauf angeboten ist. Hier wird das Vertrauensverhältnis durch eine kommerzielle Geschäftsbeziehung ersetzt, die gerade die Legitimität des Anspruchs zum Vertragsgegenstand hat. Die.Kurzformel für Prostitution heute heißt: Legitimität für sexuelle Ansprüche gegen Geld. Für das Repertoire der Prostitution ist der Begriff der sexuellen Selbstbestimmung überflüssig, verwirrend und inadäquat.254 Nicht die sexuellen Präferenzen der Prostituierten sind für eine Ablehnung eines Kunden maßgebend, sondern etwa die vermutete Gewaltbereitschaft oder die bezweifelte Zahlungsmoral.255 Die Vielfalt des Angebots gründet nur in Ausnahmefällen auf den sexuellen Präferenzen der Prostituierten. Die zunehmende Diversifizierung ist vielmehr die Folge einer marktwirtschaftlichen Anpassung an den zeitgenössischen life-style und die segmentierten Wünsche der Kunden sowie der rechtlichen, sozialen, zeitlichen und finanziellen Möglichkeiten der Prostituierten.

Die einzige fragliche Variable, die bei der Rechtfertigung von (organisierter Migrations-)Prostitution durch den Begriff der sexuellen Selbstbestimmung rechtlich argumentative Probleme bereitet, ist die „Freiwilligkeit“. Im neusten Leitentscheid des Bundesgerichts (BGE 128 IV 117) wird diese denn auch dahingehend modifiziert, als von einer wirksamen Einwilligung (effettivamente libero da costrizioni) die Rede ist, die mit fast schon bevormundenden Verfahren gerichtlich festgestellt werden soll. Ob sich diesbezüglich erweiternde gerichtliche Verfahren durchsetzen können, bleibt fraglich, denn bislang griff man auf die wenig aufwendige, bewährte Methode der Rechtspraxis zurück, die Freiwilligkeit operational definiert oder/und stillschweigend voraussetzt, wenn sie nicht von Betroffenen selbst eingeklagt wird.

Allerdings sieht sich die Schweizer Rechtspraxis den internationalen Standards zur Bekämpfung von Menschenhandel verpflichtet und gibt den internationalen Abkommen bei Widersprüchen mit der eigenen Rechtspraxis den Vorzug (BGE 128 IV 117).

Die schweizerische Rechtspraxis formt und definiert die Bedingungen von organisierter Prostitutionsmigration mit: Sie wendet Begriffe der sexuellen Selbstbestimmung und der vom Richter definierten Freiwilligkeit auf ausländische Frauen an, die in der organisierten Sexindustrie ohne entsprechende Bewilligung tätig sind. Damit ermöglicht sie Geschäfte mit der sexuellen Ausbeutung von Frauen, die aus materieller Not in die Prostitution einwilligen.

3.6.9 Menschenhandel

Einen Ausweg aus dieser juristisch und politisch herausfordernden Situation bietet der Artikel des Strafgesetzbuches zu Menschenhandel.256 Die etwas altertümliche Formulierung weist auf das internationale Übereinkommen zur Bekämpfung des Mädchenhandels aus dem Jahre 1910 und dasjenige über die Unterdrückung des Handels mit volljährigen Frauen aus dem Jahre 1933. 257 Damals bestand eine Kontroverse, ob volljährige Frauen in gleicher Weise zu schützen seien wie die Minderjährigen, oder nur bei Täuschung, Drohung, oder Gewalt.258 Der Schweizer Gesetzgeber beschloss die Strafbarkeit des Handels auch bei Zustimmung von volljährigen Frauen und trat dem heute noch gültigen Abkommen von 1933 bei.259 Laut Begründung in einem Gerichtsurteil wurden diese internationalen Abkommen „im Bestreben abgeschlossen, deninternational tätigen Menschenhändlerndas Handwerk zulegen, welche insbesondere die Bordelle in aller Welt mit immer neuer Ware versorgten oder aber auch Lebemännern Frauen überlieferten.“260Gestützt auf diese Sachlage wird deshalb in der Botschaft zur Gesetzesrevision ausgeführt, dass durch Art. 196 StGB auch erfasst werde, wer Prostituierte anwerbe, die voll einverstanden seien, z.B. das Etablissement zu wechseln.261 Diese Regelung galt bereits vor Inkrafttreten des revidierten Strafrechts, und aus der Botschaft lässt sich folgern, dass der Gesetzgeber daran nichts ändern wollte. Ohne Diskussion stimmten beide Räte der vom Bundesrat vorgeschlagenen Fassung zu.262

Die Ansicht, ,die Strafbarkeit selbst bei Einwilligung zu bejahen, stieß jedoch in der Lehre auf Kritik. Mit Hinweis auf den Grundgedanken der Revision des Sexualstrafrechts, ,,wo die Bekämpfung der Prostitution schlechthin, ein Kampf gegen Windmühlen, kein Ziel des revidierten Strafrechts ist…“,263 führt die Literatur aus, dass die sexuelleSelbstbestimmung,das geschützte Rechtsgut, in solchen Fällen nicht tangiert sei.264 Laut Bundesgericht war nämlich die ,,Leitidee der Revision des Sexualstrafrechts die Freiheit und die freie Selbstbestimmung jedes Menschen in sexuellen Dingen […} und nicht, Moralvorstellungen durchzusetzen.265 Der damalige Bundespräsident wird zitiert,266 der die „unbeeinflusste Freiheit der sexuellen Selbstbestimmung“ als Schutzbereich in den Vordergrund stellte und für keinen Tatbestand, auch nicht denjenigen des Menschenhandels, eine Ausnahmeregelung vorsah.

Im selben Entscheid erkennt das Bundesgericht in Übereinstimmung mit der herrschenden Lehre nur dann auf Menschenhandel, wenn das Selbstbestimmungsrecht der betroffenen Person beeinträchtigt wird. Es weist aber auch auf Diskriminierung, Doppelmoral und vielfältige Abhängigkeiten hin, denen Prostituierte, insbesondere solche ohne erforderliche Bewilligungsdokumente, ausgesetzt sind. Es empfiehlt, anhand der konkreten Umstände zu prüfen, ob die Betroffenen im Einzelfall selbstbestimmt gehandelt haben und ob die Willensäusserung dem tatsächlichen Willen entspricht.

Ausgehend von meinen Ausführungen zur sexuellen Selbstbestimmungzeigt sich, dass die juristische Debatte über Prostitution und Menschenhandel – von Ausnahmefällen abgesehen – auf die bisherige Auslegung des Begriffs verzichten kann, da Prostitution nicht auf einer sexuellen Selbstbestimmung der Prostituierten beruht. Vielmehr wird mit der Einwilligung zum Akt der Prostitution auf die Möglichkeit von sexueller Selbstbestimmung explizit verzichtet, was dahingehend interpretiert werden kann, dass die Prostitution selbst die sexuelle Selbstbestimmung der Ausübenden verletzt. Weil nicht davon ausgegangen werden kann, dass eine Prostituierte einem Dritten gegenüber verpflichtbar ist, jederzeit als solche ansprechbar zu sein, muss Prostitution grundsätzlich als Einzelakt verstanden werden, in dem die Möglichkeit der sexuellen Selbstbestimmungseitens der Prostituierten zugunsten eines Vertrags zwischen Prostituierter/m und Kunden aufgegeben wird. Ohne eine wie auch immer geartete öffentliche Moral oder Unsittlichkeit bemühen zu müssen, folgt, dass Prostitution nur dann kein geltendes Recht verletzt, wenn sie/er als Selbständige/r arbeitet. Jegliche anderen Verpflichtungen gegenüber Dritten, seien dies finanzielle, zeitliche oder organisatorische, verletzen demnach geltendes Recht, auch wenn die sich prostituierende Person damit einverstanden ist. Im übrigen bietet das allgemeine bürgerliche Vertragsrecht außerhalb des Arbeitsrechts (OR, z.B. die Normen über den Auftrag etc.) genügend Schutznormen für die Vertragschließenden, um Interessen von Prostituierten durchsetzbar zu machen.

Folgt man dieser Interpretation, ist auch die leidige juristische Debatte um „Freiwilligkeit“ bei ausländischen Prostituierten ohne entsprechende Bewilligungen vom Tisch, da jegliche Einmischung Dritter die „Freiwilligkeit“, (auf das Recht der Selbstbestimmung zu verzichten) beeinträchtigt. Selbständige Prostituierte ohne entsprechende Bewilligungen können aus fiskalischen und aufenthaltsrechtlichen Gründen zur Rechenschaft gezogen werden.

3.6.10 Prostitution als Doing Gender

Gegen die Vorstellung, dass die geschlechtsspezifische Rollenteilung Ergebnis einer in der biologischen Grundlage verankerten „Natur“ der Frau sei, hat sich die Frauenforschung mit der aus der amerikanischen Forschung entlehnten Unterscheidung von sex und gender gestellt. Während in der Diskussion um die Bedeutung von Geschlecht als Analysekategorie sex biologisch konnotiert wurde, war gender der Bedeutungsträger der sozialen und kulturellen Komponenten, der die Diskriminierung von Frauen als Ergebnis historischer Entwicklung und politischer Entscheidungen und nicht als Konsequenz „natürlicher“ Differenzen zwischen Männern und Frauen erscheinen ließ. Gender kann als soziale Konstruktion von Geschlecht verstanden werden, und der Begriff doing gender beschreibt den Prozess, der sozio-kulturelles Geschlecht herstellt. Männlichkeit (oder auch Fraulichkeit) wird mithilfe dieser Begriffe also nicht als „natürlich“, sondern als sozial hergestellt dekonstruierbar und kritisierbar. Die zentrale These von West und Zimmermann (1991) lautet, dass sowohl sexals auch gender in einem kontinuierlichen Interaktionsprozess hergestellt werden. Als doing gender hat dieser Interaktionsprozess auf der individuellen Ebene Eingang in die englischsprachige Theorie gefunden. Alltägliches Handeln dient zur Herstellung von gender. Dieser Prozess der Geschlechterdifferenzierung bleibt aber im Alltagshandeln unbemerkt und verschwindet. Als naturalisiert wird Geschlecht dann bezeichnet, wenn der Prozess seiner sozio-kulturellen Herstellung zum Verschwinden gebracht worden ist. So kann dann zum Beispiel das Freierwesen als „natürliche“ Männlichkeit legitimiert werden, ohne dass dieses Verhalten als Ausdruck von doing gender hinterfrast und kritisiert werden müsste.

Prostitution kann so als soziales Konstrukt, als Funktion des scripted doing gender gelesen werden, wobei sich in den scripts die sexuellen Fantasien von Freiern über etablierte soziale, ökonomische und Gender-Beziehungen abbilden. Männer können so den Gebrauch von Prostitution auf verschiedene Arten erotisieren, wie z.B. als Feindseligkeit und dem Wunsch nach Entwürdigung des anderen oder dem Verlangen nach einer Domina. Im Zentrum des Kontakts zwischen Klient und Prostituierter/m stehen demnach alltägliche Widersprüche und Spannungen in den Geschlechterbeziehungen, wie z.B. Fürsorge und Feindseligkeit, Beherrschung und Subordination, Anziehung und Abstoßung. Ebenso folgen Prostituierte einem script, indem sie ihre Fraulichkeit als sexuelle Attraktivität für Männer herstellen, was sie lebenserfahrungsbedingt mit einer Mehrheit von autonomen, sich nicht prostituierenden Frauen gemeinsam haben, im Unterschied zu diesen dann aber diese Passage aus einer Vielfalt von möglichen Kontinuitäten isolieren, instrumentalisieren und kommerzialisieren. Die Bezeichnung dieses Prozesses als „natürliche Weiblichkeit“, „ewig gleich bleibende Prostitution“ oder „selbstbestimmte Sex-Arbeit“ lässt den Prozess des doing gender verschwinden und naturalisiert damit Prostitution.

Die aktuelle Debatte befasst sich mit den logischen Schwächen der Unterscheidung von gender und sex,da das binäre Begriffspaar doch eine biologische Grundlage zum Ausgangspunkt von Geschlecht zu implizieren scheint und eine stillschweigende Parallelisierung von biologischem und kulturellem Geschlecht stehen lässt. Denn es müsste zumindest denkbar sein, dass das soziale Konstrukt Mann nicht nur in einem männlichen Körper und das soziale Konstrukt Frau nicht nur in einem weiblichen Körper vorkommt.

Die Diskrepanz in der neuen Struktur des Sexmarktes manifestiert sich in zahlreichen Aspekten, vor allem in der Internationalisierung der Prostitution, wo die Prostituierten, häufig auch die Zuhälter und Betreiber, aus Dritt-Welt-Ländern oder neuerdings aus den postkommunistischen Ländern mit vordemokratischen Strukturen kommen. Für eine Auffassung des sozio-kulturellen Anachronismus der importierten Prostitution spricht, dass Prostitutionsmigrantinnen und zum Teil auch ihre Lobby doing gender als „natürliches“ Faktum verteidigen. Sie ignorieren die lange Tradition der „Gleiche-Rechte-Bewegungen“, den begleitenden gesellschaftskritischen Diskurs und das liberale Rechtssystem westlicher Gesellschaften. Sie verteidigen die staatlich legitimierte Abschiebung der feminisierten Armut in die „Arbeit“ der Prostitution.

3.6.11 Prostitution als „Sex-Arbeit“

Eine wachsende Anzahl von Publikationen – meistens von Feministinnen, die in der Sexindustrie arbeiten oder deren Unterstützerinnen – insistieren, dass Prostitution von vielen Frauen als Dienstleistung verstanden wird, die sie als Erwerbsmöglichkeit frei gewählt haben, und fordern zivile Rechte ein. Diese Literatur wird unter Menschenrecht und zivile Freiheiten eingeordnet – und, so könnte man argumentieren, innerhalb einer postmodernen Gesellschaft unter einer Soziologie der Arbeit, die auf dem Leistungsprinzip und in der Ideologie des Individualismus wurzelt (Delacoste and Alexander 1988; Roberts 1992; O’Neill 1996; Jarrett 1997; Nagle 1997; Chapkis 1997; Bell 1987).

Kempadoo und Doezema (1999: 8) kommen in ihrem Reader mit Essays, Interviews und Einschätzungen zum Schluss, dass Prostitution am Ende des letzten Jahrtausends kapitalisiert und sorgfältig globalisiert wurde. Sie definieren sexual labour als Quelle von Profit und Wohlstand und als „constituent part of national economies and transnational industries within the global capitalist industry“ . Ähnlich wie Chapkis definieren sie sexual labour als verwandt mit Gefühlsarbeit. Sie lehnen die Opferperspektive ab, auch wenn es sich um Kinder, Schuldenbeziehungen oder Prostitutionsmigration handelt. Sie versuchen, die komplexen Strukturen zwischen personal agency und Widerstand gegen Ausbeutung und Unterdrückung im Kontext von strukturellen Zwängen und dominanten Machtbeziehungen in der globalen Sexindustrie aufzudecken. Agency,so sagen die Autorinnen, ist ein integraler Teil von Feminismus, ebenso selfhood. Prostitution ist also nicht isoliert von ökonomischen, politischen und sozialen Faktoren zu behandeln. Dasselbe gilt für Migration. ,,Migration is another impact of globalization that is explored alongside the feminization of international labour migration.“ In diesem Kontext fordern sie legale Anerkennung vor allem für die „Sex-Arbeiter und Arbeiterinnen“ der nicht-westlichen Länder, die zu oft in den Debatten der internationalen Arena fehlen. Die Autorinnen gehen von der Globalisierung der Sex-Industrie aus und finden es wichtig, Instrumente zu entwickeln, die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten ansprechen, und redefinieren Prostitution als Arbeit.

3.6.12 DasKonzeptder„Sex-Arbeiterin“

Das Konzept der „Sex-Arbeiterin“ tauchte in den Prostituierten-Rechte-Bewegungen der 70er Jahre in den USA und Europa auf und wurde in vielen Publikationen diskutiert.267 Der Begriff „Sex-Arbeiterin“ (sexworker)wird vor allem in Abgrenzung zum Begriff „Hure“ (whore) eingeführt, der im Sprachgebrauch auf eine soziale oder psychische Eigenschaft von Frauen verweist und mit Stigmatisierung verbunden ist. ,,Sex-Arbeiterin“, auch „Prostituierte“, konnotieren hingegen nicht eine Identität, sondern weist auf eine Form von Einkommenserwerb oder Arbeit (labour)für Frauen und Männer hin. ,,The definition stresses the social location of those engaged in sex industries as working people“ (Kempadoo/Doezema: 3). Die Autorinnen beziehen sich vor allem auf Zeugnisse von Migrantinnen, Migranten und mittellosen Personen aus „Dritt-Welt-Ländern“, wenn sie argumentieren, dass Prostituierte in den wenigs­ ten Fällen ihr ganzes Erwerbsleben lang und ausschließlich von dieser Tätigkeit ihr Einkommen beziehen. In den meisten Fällen, so fassen sie zusammen, ergänzt die Sex-Arbeit Einkommen aus anderen Erwerbszweigen wie etwa Kleinhändler auf lokalen Märkten, aus informellem Handel oder Hausarbeit. Auch saisonale Rhythmen sowie wechselnde Phasen im Lebensalter oder in der sozialen Situation sind häufig. Sex-Arbeit ist demzufolge integraler Bestandteil einer Vielzahl von Einkommensmöglichkeiten, aufgeteilt auf eine Erwerbslebensspanne, die dem Unterhalt von Familien und Einzelpersonen dient. In den meisten Fällen, so die Autorinnen, dient das Einkommen aus der „Sex Arbeit“ nicht dem individuellen Reichtum, sondern der Familie oder dem eigenen Überleben. Für viele bedeutet „Sex-Arbeit“ Migration, weg vom Heimatdorf, der Stadt oder dem Land. Auffällig bei dieser Argumentation ist allerdings, dass die Frage nach den Rückkehrerinnen oder der weiteren Biographie der im „fremden“ Land Verbliebenen nicht gestellt wird.

Obwohl im Kontext von Dritt-Welt-Prostitution vor allem Frauen, aber auch Kinder und junge Männer, als Sex-Anbieter eine männliche Kundschaft ansprechen, gibt es Zeugnisse von weiblichen Klienten, vor allem in „Dritt-Welt-Feriendestinationen“.268 Than-Dam Truong arbeitete eine der ersten theoretischen Ansätze zu „Sex-Arbeit“ aus.269 Sie geht von menschlicher Aktivität oder Arbeit aus, die darin besteht, Grundbedürfnisse zu befriedigen und menschliches Leben zu produzieren und zu reproduzieren. Sie argumentiert, dass Aktivitäten sexueller Natur, die körperliche Sexualität und sexuelle Energie umfassen, zu den vitalen menschlichen Grundbedürfnissen hinzuzuzählen seien, nämlich sowohl zwecks Fortpflanzung als auch zwecks körperlichen Vergnügens. Sie führt das Konzept der „Sex-Arbeit“ als Gebrauch von körperlichen, sexuellen Elementen ein und versteht sie als produktive Lebenskraft, die von Männern und Frauen eingesetzt wird. Sie schlägt vor, dass „Sex-Arbeit“ als eine ähnliche Form der Arbeit aufgefasst wird, die die Menschheit ausführt, um sich zu erhalten; wie zum Beispiel geistige oder manuelle Arbeit, die bestimmte Teile des Körpers und bestimmte Typen von Energien und Fertigkeiten verlangen.

Dem Konzept von „Prostitution als Beruf‘ liegt die kommerzielle Verwertung von Geschlechtlichkeit zu Grunde. Das Konzept stützt den Versuch, die Sozialität stiftende Differenz von „Geschlecht“ und „Geschlechtsbeziehungen“ in Abrede zu stellen und damit den Geschlechterbeziehungen das liberale Postulat der Gleichheit unter Gleichen aufzuzwingen. Resultat ist das neutrale Gender nach dem Muster des unabhängigen Eigentümers, der auf einem Markt von Gleichen nach vorteilhaften Geschäften Ausschau hält. Gesellschaft auf der Grundlage von Differenz ist abgeschafft, und damit wird alles, was Gleichheit in Frage stellt, verdrängt, ignoriert, marginalisiert, bekämpft, unterdrückt. Denn dass es „den Anderen“ in seiner Differenz braucht, um Gesellschaft herzustellen, dass gerade die Erkenntnis „des Anderen“ und dessen Differenz Handeln erst motiviert, zeigt sich wohl nirgends deutlicher als in der Geschlechtlichkeit.

3.6.13 „Sex-Arbeit“ und Partner-Sex

Eileen McLeod270 betrachtet „Sex-Arbeit“ in den westlichen Gesellschaften als Akt der Resistenz gegen relative Armut. Mag der „Job“ auch interessant sein, so ist er doch sozial unsicher und individuell unvorhersehbar. ,,Sex-Arbeit“ ist abhängig von der Organisierung der Prostitution, von willkürlichen Zuhältern und Bordellbesitzern, von gesetzlichen Rahmenbedingungen und deren Umsetzung in einer lokal unterschiedlichen Polizeipraxis, und vom unsteten Kaufverhalten und der schwankenden Kaufkraft von individuellen Freiern. McLeod fasst Prostitution als Strategie auf, Haushalt und Kinderhüten zu kombinieren und sich aus Armut und den sozialen Folgen davon zu befreien. In der „Sex-Arbeit“ trifft der Geldmangel von Frauen auf männliche sexuelle Bedürfnisse. Prostituierte schützen sich aber meist durch zeitliche Beschränkung und Ablehnung gewisser Praktiken vor emotionalem und körperlichem Engagement. Von „emotionaler Arbeit“ kann auch deswegen keine Rede sein, da Prostituierte mit ihren Partnern eine „normale“, d.h. eine von der kommerziellen Form differente Sexualität pflegen können. Trotzdem machen sie den „Job“ nicht ungern, da sie Männer als Mittelpunkt für ihr emotionales Leben auffassen und so aus einer Position der Stärke verhandeln können.

Chapkis (1997) argumentiert, dass in der heutigen Gesellschaft Prostitution für viele Frauen eine frei gewählte Tätigkeit, eine Form von Arbeit ist. Frauen, die in der Sex-Industrie-arbeiten, wollen gleiche Rechte und Freiheiten wie andere Arbeiterinnen, einschließlich Angstfreiheit, Absenz von Gewalt und Ausbeutung. Dazu kommt, dass ,,Sex-Arbeit“, oder „Erotic Labour“, ein Terrain der Befreiung für Frauen sein kann.

In den letzten Jahren machte sich eine feministische Richtung stark, die aus der Perspektive der „Pro-Sex-Feministinnen“ Prostitution als Performing Erotic Labour verstehen (Chapkis 1997; Nagle 1997). Diese Arbeit baut auf den Arbeiten der „Sex-Arbeiterinnen“ der 80er Jahre auf, die Priscilla Alexander zusammengestellt hat (Alexander and Delacoste 1988). Beide Texte möchten einen Beitrag zur Auflösung des Schismas, das sich innerhalb des Feminismus um kommerziellen Sex entwickelt hat, leisten (Chapkis 1997). Die Erfolgschancen dieser Absichten werden allerdings von verschiedenen Autorinnen in Frage gestellt (O’Neill 2001).

3.6.14 Prostituierte: Ja Prostitution: Nein

Über die letzten zwei Dekaden hat sich das politische Terrain rund um die Prostitution entscheidend verändert. Unter den offensichtlichsten Änderungen ist das selbstbewusste Auftreten von Prostituierten-Gruppen zu verzeichnen wie auch die kontroverse Debatte zwischen Feministinnen über Prostitution und Prostituierte. Diese Kontroverse gipfelt im Slogan: Prostituierte: Ja, Prostitution: Nein. Unterstützt von NRO haben Prostituierten-Organisationen teilweise großen Einfluss in der westlichen Welt, vor allem indem sie die Termini der Debatte von Sünde, Sex und Verbrechen auf Arbeit, Selbstbestimmung und zivile Rechte umformulierten. Der Einfluss dieser Gruppen wird allerdings relativiert durch die Erfolglosigkeit als soziale Bewegung (etwa im Kontrast zu der „Schwulenbewegung“ oder Abtreibungsbewegung), vor allem aufgrund der fehlenden Massenbasis und der Absenz von unterstützenden Wissenschaftlerinnen. Die Bewegung war allerdings insofern erfolgreich, als dass sie einige Rechtstreitigkeiten für sich entscheiden und das öffentliche und mediale Intresse auf Prostitution lenken konnte.271

Auf der anderen Seite wurde das öffentliche Interesse auch geweckt durch die Formierung von Quartiervereinigungen, die sich gegen die öffentliche Ruhestörung und die dreiste Sichtbarkeit der Prostitution wehren. So verlangen Gruppen vor allem in den USA, Kanada und in Großbritannien Änderungen im Management der Prostitution in Wohnquartieren, und führen Sicherheitsprobleme, Verbindung mit anderem kriminellen Verhalten, Lärm durch Freierverkehr und Belästigung von Frauen und Kindern an. Diese Opposition gegen Prostitution gründet weniger auf moralischen Werteeinstellungen, sondern auf den als Störung der öffentlichen Ordnung empfun­ denen Begleiterscheinungen von Prostitution wie Lärmimmissionen oder sonstigen Belästigungen, aber auch auf der damit verbundenen Abwertung von Wohn- und Geschäftsquartieren durch Entmischung, Förderung von tageszeitabhängigen Monokulturen und überhöhten Mietzinsen für Geschäfts- und Wohnräume.

Nachbarschafts- oder Quartiergruppen entstanden nicht so sehr auf Grund einer Zunahme von Prostituierten (O’Neill 2001, Matthews 1993), sondern sie sind als Ansprüche der Bewohner und Geschäftsleute eines Quartiers an die Lebensqualität zu interpretieren. Die gesellschaftliche Toleranz gegenüber Marktteilnehmern von kontrovers diskutierten Wirtschaftszweigen, die in einem immer neu zu verhandelnden Verhältnis von Öffentlich und Privat Rechte beanspruchen, nimmt ab.272 Gerade das Bedürfnis von Frauen, sich frei auf den Straßen bewegen zu können, ohne von Freiern sexuell belästigt zu werden, oder auch der Anspruch von Männern, im öffentlichen Raum frei von Belästigung durch teils handfeste Werbemethoden von Prostituierten zu sein, weist auf das antagonistische Potenzial einer juristisch/richterlich abgesicherten Berufsgruppe „Prostituierte“ und den damit verbundenen öffentlichen, aber anfechtbaren, da gesellschaftlich nicht legitimierten, Privilegien hin. Nachbarschafts- und Quartiervereinigungen mobilisieren beispielsweise in Großbritannien und den Niederlanden erfolgreich Polizei, Richter, Medien und die Öffentlichkeit gegen die Straßen-, Bar- und Schaufensterprostitution.273

3.6.15 ZurSoziologie derProstitution

Am Ende des 19. Jahrhunderts taten sich vor allem die Ärzte der großen europäischen Städte hervor und wiesen auf den drohenden Sittenzerfall und auf die gesundheitlichen Folgen hin. Dies weniger aus Sorge um die Prostituierten als vielmehr aus Präventionsgründen gegen Epidemien wie Syphilis, die vor allem durch promiskuitive Männer übertragen wurde und das ganze Volk bedrohten. Interessanterweise suchte man nicht das männliche Verhalten zu kontrollieren, sondern war bestrebt, die Prostitution zu regeln und die Prostituierten zu registrieren. Dazu gehörte auch die regelmäßige Kontrolle durch den Arzt. Prostitution wurde in Begriffen wie Sittlichkeit, Verderbtheit, Laster, Krankheit, Gesundheit diskutiert.

Neben diesem medizinisch-sittlichen Diskurs etablierte sich parallel dazu die administrative Reglementierung und als Folge davon, bzw. als Folge von deren Verletzung, die strafrechtliche Einbettung der Prostitution.274 Wenn es hier vor allem um die Durchsetzung sittenpolizeilicher Regelungen und Bestrafung bei Nichteinhaltung ging, wurden nebst dem Zuhälter bald auch der Mädchenhändler und seine Geschäfte Ziel der strafrechtlichen Verfolgung. Denn mit den großen Migrationswellen – zum einen von Europa nach Amerika und zum andern vom Land in die Stadt – versprach die Zuführung junger Frauen in die aufblühenden Sexmärkte dieser Zeit lukrative Geschäfte.275 Frauen begriffen ihre Migration auch als Strategie, der materiellen Not zu entkommen und ein eigenes Einkommen zu erzielen. Der Ausdruck „Handel mit weißen Frauen“ schafft den Bezug zu dem in den Köpfen offenbar noch gegenwärtigen Sklavenhandel mit afrikanischen Frauen und Männern auf den amerikanischen Kontinent, wobei von den weiblichen Sklaven offenbar erwartet wurde, dass sie nebst Feldarbeit und Haushalt dem Hausherr auch sexuell zu Diensten waren.276 Entführung und Zwang zur Prostitution riefen in Europa verschiedene Organisationen zum Schutze gefährdeter Personen auf den Plan. Es gab europäische Vereinigungen, z.B. die „Freundinnen junger Mädchen“, die auf Bahnhöfen aktiv waren, Zusammenschlüsse von Polizeiorganisationen und internationale Konferenzen von Sozialpolitikern und Wissenschaftlern zur Bekämpfung des Frauenhandels. Bei dieser Gelegenheit wurden auch wieder moralische Stimmen laut, die Prostitution ganz verbieten wollten, um so das „Krebsgeschwür“, die „Geißel der Menschheit“, aus der Welt zu schaffen. Sozialwissenschaftlich äußerte man sich in Begriffen wie soziale Schichten, Elend der Prostituierten, Abolitionismus.

Historisch ist die Soziologie der Prostitution mit abweichendem Verhalten verknüpft, was als soziologische Betrachtungsweise von Kriminalität auf Durkheim (1895) zurückgeht.277 Er führte den Begriff Anomie (Regel- oder Normlosigkeit) ein. Grundsätzlich entsteht Anomie durch überstarke Individualisierung der Gesellschaftsmitglieder und durch die Diskrepanz zwischen dem Niveau ihrer Ansprüche und den begrenzt zu deren Befriedigung zur Verfügung stehenden Gütern. Anomie äußert sich im Fehlen von gemeinsamen Verbindlichkeiten und Regulierungen und führt letztlich zu abweichendem Verhalten. Sein Anspruch besteht darin, Kriminalität als soziale Tatsache nur durch Soziales zu erklären.

Nach Merton (1945)278 entsteht Anomie aus der Diskrepanz zwischen kulturell vorgegebenen Zielen und institutionalisierten (legitimen) Mitteln zur Zielerreichung. Das Auseinanderfallen von kultureller und sozialer Struktur, dem einzelne Gesellschaftsmitglieder ausgesetzt sind, muss durch (individuelle) Anpassungsstrategien bewältigt werden. Neben der Konformität einer Anpassung gibt es unterschiedliche Formen der Abweichung, die Merton als Typen der Anpassung an die Situation entwickelt. Der Prototyp des Kriminellen akzeptiert die vorgegebenen kulturellen Ziele (hoher sozialer Status), setzt aber zu deren Zielerreichung infolge Fehlens legitimer Mittel illegitime Mittel ein. Soziologisch theoretische Erklärungsversuche abweichenden Verhaltens bilden zwar kein einheitliches Konzept, obwohl ihnen gemeinsam ist, dass sie die Gründe für Devianz bzw. strafrechtlich relevante Delinquenz eher in gesellschaftlichen Bedingungen sehen, als dass individuelle, persönlichkeitsspezifische Pathologien dafür ursächlich wären. Während soziologische Theorien mehrheitlich ätiologisch orientiert sind und versuchen, Ursachen für abweichendes Verhalten zu benennen, verlagert sich das Interesse mit dem Labeling Ansatz auf die Instanzen sozialer Kontrolle als „Produzenten“ von Kriminalität durch Kriminalisierung.279 Diese neue Perspektive ist letztlich ein zentraler Ausgangspunkt für die wissenschaftliche und gesellschaftliche Zuwendung zum Konzept sozialer Kontrolle. Die Theorie des differentiellen Lernens von Edwin Sutherland (1939, 1955 zit. nach Lamnek) und die Subkulturtheorie der Chicagoer Schule gehen von einer inhomogenen Gesellschaft aus, in der konforme (oder abweichende) Verhaltensweisen und Werthaltungen erlernt werden müssen.

Wenn Gender-orientierte Kriminologen wie Carol Smart (1978) die Unsichtbarkeit der Frauen in der klassischen Kriminologie kritisiert, stellt sie in einem „neuen Realismus“ die Wahrnehmung von Frauen zwischen den Polen Romantisierung und Dramatisierung fest, wobei das Interesse an Frauen vor allem an deren Viktimisierung festgemacht ist. Die Kriminalstatistiken bieten keine reine Fakten, sondern sind selbst Ergebnis zeitgebundener Wahrnehmungs- und Auswahlprozesse; so müssen die jeweiligen Zugangschancen und -restriktionen ebenso thematisiert werden wie die institutionellen Selektionsbestimmungen und vielfältigen Filter, die weibliches Verhalten als relevanten Bruch des geltenden Rechts sichtbar bzw. unsichtbar machen. Gängige Geschlechterstereotypen steuern die Normenproduktion und die Selektion von kriminellem Verhalten (Wunder 1988). So zeichnet sich im 18. Jahrhundert auf Grund intensiver Debatten über Hexerei, Kindsmorde und Prostitution ein grundlegender Wandel des Frauenstereotyps von den durch den Sündenfall biologisch zum Verbrechen prädestinierten Täterinnen zu reinen Opfern gesellschaftlicher Verhältnisse ab, die durch die Rechtssprechung in besonderem Maße in Schutz genommen werden sollten. Angesichts der allgemeinen geringen Sichtbarkeit von Frauen in der vormodernen Überlieferung gerät das als deviant kenntlich gemachte Handeln von Frauen zu weiblichem Verhalten schlechthin und präsentiert sich im Vergleich zu männlicher Devianz als defizitär und ohnmächtig. Mit der Entkriminalisierungstendenz entsteht der Eindruck, dass Frauen per Geschlecht zu Opfern bzw. zu Verfolgten prädestiniert seien (Heike Wunder, 1988, Gerichtsaktenforschung). Dabei ist Prostitution – im kriminologischen Diskurs des 19. Jahrhunderts das Frauendelikt par excellence – keineswegs durchgängig als gesetzeswidriges Verhalten zu betrachten. Trotz einer Sprache, die Asymmetrie und Machtgefälle zwischen den Geschlechtern ausdrückt, ,,verführen“ Frauen die Männer, die dies als Rechtfertigung für ihr eigenes (Freier)Verhalten vorbringen. Auch den Frauen selber erschien ihr Körper als ökonomische Ressource, die in Zeiten der Not gezielt in Kapital umgesetzt werden konnte, ohne dass sich jemand zur Rechenschaft verpflichtet sah. Nicht die „bürgerliche Sexualmoral“, sondern die geschäftsmäßige Tauschlogik „Körper gegen Geld“ stellt den Rahmen dar, in den die Betroffenen ihr Verhalten einordneten. Gelegenheitsprostitution war für Frauen aus der Unterschicht kein abweichendes Verhalten, sondern angesichts der fehlenden Alternativen zur Einkommenssicherung legitim.

Die klassische Schule der Kriminologie, die sich am Täter orientiert, legt sich programmatisch auf die Devianzperspektive fest und verengt den Blick auf die Prostitution als ein „Täter-Opfer-Verhalten“. Gisela Bock (1988) spricht in diesem Zusammenhang von einer androzentrischen Sichtweise.

Zwischen den beiden Weltkriegen forscht eine sich gerade herausbildende Sexualwissenschaft über Prostitution, die erst allmählich beginnt, sich von den beobachtungsleitenden Fixierungen auf Devianz und Pathologie zu emanzipieren. Sie markiert den Beginn der Soziologie der Prostitution als eigenständiges Forschungsfeld (Simmel 1908, Kingsley Davis 1937). Nach dem Zweiten Weltkrieg geht die Forschung punktuell vor: Sie reduziert den Gegenstand auf die Person der Prostituierten, setzt Prostitution weiterhin in den Bezugsrahmen abweichenden Verhaltens, fasst Prostitution unter sozialstaatlichen Prämissen als Problem und rückt das Phänomen der Zuhälterei ins Blickfeld. Mit der Veränderung der sexuellen Normen und des sexuellen Verhaltens wird es wichtig, sich der Differenz zwischen Prostitution und Promiskuität zu versichern und neuen Formen der Prostitution nachzugehen. Die Selbsthilfeorganisation Hydra (1991) nimmt die Thematik der Freier auf und stellt fest, dass diese der eigentlich tabuisierte Teil des Prostitutionsgeschäfts verkörpert. Sie versuchen, das Phänomen erklärbar zu machen, zu entmythologisieren und Stigmatisierung und Diskriminierung abzubauen.

Im Interesse der Aids-Prävention rückten die Prostitutionskunden und die Intimkommunikation ebenso ins Blickfeld (Kleiber und Velten 1994; Ahlemeyer 1996; Aids-Hilfe Schweiz, 1999 und 2002) wie die rechtliche und soziale Situation von Prostituierten. Denn nicht nur Aids bewegte die Gemüter in den 90er Jahren, sondern auch die zunehmende Wahrnehmung von ausländischen Prostituierten auf westeuropäischen Sexmärkten. Die Rechtlosigkeit dieser Personen veranlasst juristische Wissenschaftler, sich mit rechtlichen Aspekten von Prostitution auseinander zu setzen, wobei sie feststellen, dass die Qualifikation von Prostitution als sittenwidrig die Anerkennung von Prostituierten als Berufstätige, was einen vertraglichen Rechtsschutz begründen könnte, erschwert (Ulrich 1998; Heller 1999; Hürlimann 2004). Das Dilemma der Rechtssprechung, einerseits den internationalen Verpflichtungen im Kampf gegen Menschenhandel (was ausländische Personen auf dem einheimischen Sexmarkt betrifft) und andererseits den ständischen Forderungen nach gleichberechtigter Anerkennung als Beruf nachzukommen, kann damit allerdings nicht gelöst werden. Einen etwas anderen Ansatz vertritt die Juristin Susanne Bertschi (2003), indem sie die Migrationspolitik der Schweiz als Zulassungspolitik kritisiert, die selektiv gewisse Arbeitsmigration fördert und Frauenmigration vor allem über die zivilstandsabhängige Zugehörigkeit zu Männern reguliert und segmentiert.

Eine kontinuierliche Erforschung prostitutiver Sexualität hat bisher nicht stattgefunden. Dies mag damit zusammenhängen, dass Prostitution in der Forschung als soziales Phänomen und nicht als die Sexualität betreffend verstanden wird. Die soziale Konstruktion von Sexualität wird in der Forschung eben erst entdeckt. Obwohl Lautmann (2001) von einer starken sozialen Determiniertheit von Sexualität ausgeht, schließt er Prostitution als Untersuchungsgegenstand ausdrücklich davon aus, indem er der Prostitution das Sozialität generierende Moment sexuellen Handelns abspricht.280 Er beruft sich auf Georg Simmel, der 1910 formuliert: ,,Das Liebesverhältnis enthält in sich das deutliche Zusammen der beiden Elemente, die auch die Form des Abenteuers vereinigt: die erobernde Kraft und die unerzwingbare Gewährung, den Gewinn aus eigenem Können und das Angewiesensein auf das Glück, mit dem ein Unberechenbares außerhalb unser uns begnadet.“281

Das „Unerzwingbare“ und das „Unberechenbare“ deutet auf den psychoanalytischen Ansatz, der heute eher von Verwertbarkeit (Weissberg 2004, persönliche Mitteilung) und Ersatz (Strassberg 2004) spricht, wenn die spielerische „Modulierbarkeit“ (Giddens 1993; Lichtblau 1997: plastic sexuality) und das „Aufsitzen auf den Trieb“ (Strassberg 2004) angesprochen werden. Auch wenn „beziehungslose Sexualität“ (Lautmann 2001) oder „Erlebnis-Sexualität“ (Gerhards 1990) den Untersuchungsgegenstand auf neuzeitliche Formen wie Swinger-Clubs, Singles etc. ausweiten, ist damit nicht die Prostitution angesprochen.

Dieser Auffassung widersprechen „Pro-Sex orientierte Feministinnen“ wie Chapkis (1997) und Nagle (1997), die auf Erotic Labour als Ausdruck ihrer Sexualität insistieren und Gegner dieser Sichtweise als „moralisch“ und „Anti-Sex-orientiert“ vehement kritisieren. Angesichts der Realität von Tausenden von Frauen und Kindern, die sich zurzeit in Osteuropa, Asien, Afrika, Lateinamerika und auch in Westeuropa der Not gehorchend sexuell ausbeuten lassen müssen,282 erscheint dieser Zugang zu Prostitution als Erotic Labour nicht nur partikulär oder allenfalls einer Subkultur verpflichtet, sondern geradezu frauen- und kinderverachtend sowie realitätsfern. Aus diesem Grund sind ihre Argumente wenig geeignet, ,,Prostitution als Beruf‘ zu begründen und damit gravierendes Unrecht und Ausbeutungsverhältnisse zugunsten von partikulären Interessen zu legitimieren.

Die Frage nach den sexuellen Bedürfnissen der Frau bleibt ausgeklammert. Diese Frage nimmt Mary Mclntosh (1978)283 auf und fragt, wer denn für die sexuellen Bedürfnisse der Frauen sorge und warum Männer auf der Nachfrageseite und Frauen auf der Angebotsseite stünden. Für Mclntosh ist klar, dass Muster und Motivationen von menschlichem sexuellem Verhalten zwar auf biologischen Strukturen und genetischen Vorlagen basieren, aber weder als gleiches auszumachen noch von ihnen determiniert sind. Biologische Faktoren sind wohl kaum in der Lage, einen kommerziellen Sexmarkt mit einer fast ausschließlich männlichen Nachfrage- und einer gemischten Angebotsseite zu erklären.

Entsprechende Versuche, in Zürich ein Bordell für weibliche Kundschaft zu betreiben, sind aus mangelndem Interesse abgebrochen oder, wie in einem Fall, für homosexuelle Männer umfunktioniert worden.284 Dass dies aber nicht an mangelnder Potenz oder mangelndem sexuellen Interesse der Frauen liegt, begründet die Zürcher Frauenärztin aus der weiblichen Anatomie.285 Offenbar treffen sich die Geschäftspraktiken für kommerzialisierten Sex für Frauen nicht mit ihren Bedürfnissen, denn: ,,Die maskuline Vorstellung von weiblicher Sexualität beruht auf der patriarchalischen Denktradition. Wird Sexualität in dieser Tradition definiert, obliegt männliche und weibliche Sexualität einer maskulinen Voreingenommenheit .Denn die männliche Voreingenommenheit lässt außer Acht, dass Sexualität für Frauen einen wichtigen Aspekt der sexuellen Selbstbestimmung enthält.286

3.6.16 Zusammenfassung: Prostitution und Frauenhandel heute

Mit Prostituierten solidarische Gruppierungen beeinflussen die öffentliche Wahrnehmung und die institutionelle Praxis von Prostitution. Für Europa gilt dies vor allem für Aspekte des Frauenhandels, Sextourismus und den internationalen Heiratsmarkt. In westlich orientierten Ländern wie Kanada, Holland, England oder der Schweiz formieren sich Nachbarschaftsinitiativen, die sich gegen die Privilegierung von „Sex-Arbeiterinnen“ mittels Unterstützung durch öffentliche Gelder oder gegen Inanspruchnahme öffentlichen Raumes zulasten der Lebensqualität der Bevölkerung oder der Geschäftstätigkeit anderer Branchen zur Wehr. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass Investitionen in die Freizeitindustrie sowie Lockerungen der staatlichen Regulierung einen prostitutionsfördernden Einfluss haben.

Neu bilden sich Selbsthilfegruppen und Solidarbewegungen um Prostituierte und Prostitutionsmigrantinnen (und -migranten) in Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, wo Identität, Begrifflichkeiten, Rechte, Arbeitsbedingungen, Entkriminalisierung und Legitimität thematisiert werden. Aus den Erfahrungen dieser Gruppen geht hervor, dass sich viele Frauen und Männer auf der ganzen Welt prostituieren, um damit Geld verdienen, dies aber nicht notwendigerweise als einzige identitätsstiftende und existenzsichernde Tätigkeit für ein ganzes Menschenleben konzipiert ist. Vielmehr kombinieren sie „Sex-Arbeit“ mit anderen Formen der Erwerbsarbeit oder üben sie nur in bestimmten Lebensphasen aus. Eine englische Untersuchung bestätigt den Gelegenheits- und temporären Charakter heutiger Prostitution. ,,Sex-Arbeit“ ist aber für viele auch verbunden mit Drogengebrauch, Verschuldung, Abhängigkeit und Auflösung sozialer Beziehungen, beispielsweise durch Migration. Implikationen, die schwerlich saisonal oder temporal reintegriert und kaum durch individuelle Anstrengungen kontrolliert werden können.

In der Soziologie ist Prostitution historisch mit abweichendem Verhalten verknüpft und wird höchstens am Rande als Form männlicher Sexualität abgehandelt. Die klassische Kriminologie orientiert sich über die Opfer-Täter-Logik am Täter und verengt den Blick auf eine androzentrische Perspektive. Die Soziologie fasst Prostitution als soziales Phänomen auf und macht sie mit ätiologischen Ansätzen an der Prostituierten fest. Die soziale Konstruktion von Sexualität wird in der Soziologie eben erst entdeckt: Wenn also neue Begriffe wie plastic sexuality oder beziehungslose Sexualität, Erlebnissexualität etc. auftauchen, ist damit nicht die Prostitution gemeint.

Der feministische Diskurs um Prostitution ist kontrovers und bewegt sich vornehmlich um die Auffassungen von „Prostitution als Sexarbeit“, Selbstbestimmung und somit als Privatsache und Prostitution als sexuelle Ausbeutung, Frauen- und Mädchenhandel, Prostitutionsmigration und somit als von öffentlichem, politischem Interesse. Die Kontroverse gipfelt im Motto: Prostituierte: Ja – Prostitution: Nein.

Im Zentrum des Interesses stehen akzeptable Bedingungen für Sexarbeit sowie die Anerkennung von Prostitution als Beruf. Auf der andern Seite bestimmen politökonomische Überlegungen zur Struktur von Armut und Migration als Folge der Globalisierung und der Reformation des Sozialstaats nach westlich/amerikanischem Muster sowie das Verhältnis der Geschlechter die Debatte.

Die Bemühung, der Perspektive der Prostituierten Gehör zu verschaffen, gründet auf dem Verlangen, die Opfer-Täter-Perspektive zu überwinden, fokussiert Prostitution aber von neuem als Problem von Prostituierten. Damit ist Prostitution als individuelle Anpassungsstrategie an das Leistungs- und Marktprinzip legitimiert. Mit Referenz auf die Selbstbestimmungsdebatte der 70er Jahre wird der Begriff sexuelle Selbstbestimmung ins Feld geführt, wobei doing gender von Prostituierten und Freiern stillschweigend vorausgesetzt und damit als naturalisiert bestätigt wird.

3.7 ZeitgeistProstitutionFrauenhandel

Herrschaftswissen kümmert sich nicht um die Zustände, die tatsächlich sind. Claudia von Werlhof

3.7.1 Netzwerkkultur

Der aktuelle politische Diskurs zeichnet sich dadurch aus, dass die im Zuge der Globalisierung international ausgerichteten Strategien von Wirtschaft und Politik von ebenfalls international agierenden Hilfswerken, internationalen Organen, Organisationen und Netzwerken begleitet sind. Teils direkt der politischen Administration unterstellt, teils von den einzelnen Regierungsprogrammen unterstützt oder mehrheitlich mit privaten Spenden finanziert, bildet diese Parallelstruktur die Grundlage für die weltweit aktive NRO- oder Netzwerk-Kultur. Verstanden als Gegenbewegung zu global wirksamen Deregulierungsmaßnahmen zugunsten eines neoliberalen „freien“ (Welt-)Marktes von Gütern, Dienstleistungen und Arbeitskräften, gerät die politische Vertretung dieser ökonomischen Gangart angesichts der teilweise verheerenden und humanitär untragbaren Folgen unter Druck. So beansprucht diese Netzwerk-Kultur als Re-Regulierungs-Option einen zunehmend wichtigen Platz im Prozess der Deregulierung und Globalisierung.

Aufgrund der Wirkungsweise von Deregulierung und Re-Regulierung verwundert es nicht, dass „Frauen“ an prominenter Stelle der Netzwerk-Agenda stehen. Obwohl Frauen keine Interessengruppe darstellen, finden sie bezeichnenderweise explizite Erwähnung z.B. in der „UN-Conventionon the Elimination of All Forms of Discrimination against Women“ von 1979.287

Diese Konvention wird von den Netzwerken als wichtiges Instrument im Kampf gegen Frauenhandel angesehen. Der Artikel 6 lautet: ,,Die Staaten sollen gesetzliche und sonstige Maßnahmen ergreifen, um alle Formen des Frauenhandels und der Ausbeutung der Prostitution von Frauen zu unterbinden.“ Dazu folgte 1992 eine Empfehlung (Nr. 19): ,,Poverty and unemployment increase opportunities for trafficking in women. In addition to established forms of trafficking there are new forms of sexual exploitation, such as sextourism, the recruitement of domestic labour from developing countries to work in developed countries, and organized marriages between women from developing countries and foreign nationals. These practices are incompatible with the equal enjoyment of rights by women and with respect for their rights and dignity“.

3.7.2 Feminisierung derArmutPolarisierungder Gesellschaft

Eigentlich erstaunlich, wie sich die These von der Selbstregulierung des Marktes hält. Jill Rubery

Die Gender-Forschung beschäftigt sich seit den 90er Jahren in Europa, den USA und Kanada mit Deregulierungsmaßnahmen für Frauen auf dem Arbeitsmarkt, im Erwerbsleben und im Familienbereich, um die Auswirkungen von neoliberalen Instrumenten auf Frauen einschätzen zu können. Die bisherigen Erfahrungen zeigen, dass diese Auswirkungen sehr widersprüchlich und komplex sind, und es daher schwierig ist, die Frage der Deregulierung auf den Arbeitsmärkten von Fragen der Sozial- und Familienpolitik zu trennen. Mascha Madörin288 kommt in ihrer Studie zum Schluss, dass eine Feminisierung von Armut stattfindet und sich eine soziale Polarisierung in der Gesellschaft generell, aber auch zwischen Frauen auswirkt, was England, Kanada und die USA betrifft. Auch in den EU-Ländern wirkt sich zunehmend die Ausrichtung des Steuer-, Sozial- und Arbeitsmarktsystems auf das herkömmliche Emährermodell für eine Mehrheit von Frauen negativ aus. Dieser Idealtypus entspricht den realen Familienkonstellationen längst nicht mehr, weil er nur für eine Minderheit Geltung hat, aber in den Köpfen von Politikerinnen, Sozialversicherungs- und Arbeitsmarktstrategen festsitzt.

Claudia von Werlhof kritisiert das Emährermodell, weil dieses den weltweiten ökonomischen Beitrag von unbezahlter Haus- bzw. Subsistenzarbeit von Frauen ignoriert bzw. nicht in Rechnung stellt.289 Unabhängig von politischen Intentionen gewinnen mit der fortschreitenden, globalisierten Transformation von Subsistenz-Arbeitszusammenhängen in Lohnarbeitssysteme die Löhne von Frauen an Bedeutung. ,,Die Erwerbslöhne von Frauen werden immer wichtiger für einen zunehmenden Teil von Haushalten. Ohne Erwerbsarbeit von Frauen wäre die Zahl verarmter Haushalte wesentlich größer. Die Frage, wer Kinder und pflegebedürftige Personen betreutund für sie bezahlt, wird zu einem wirtschaftspolitisch brisanten Thema(Madörin: 12). Diese Aussage trifft nicht nur auf westliche Gesellschaften zu, sondern überall dort, wo ökonomisch-politische Instrumente der Globalisierung zum Tragen kommen. Frauen sind überall auf der Welt überproportional stark in informellen oder atypischen Beschäftigungsverhältnissen (Nicht-Vollerwerbsarbeit) anzutreffen. Die besondere Bedeutung, die eine gezielte Gleichstellungspolitik und die Bestrebungen nach der Regelung dieser Arbeitsverhältnisse für Frauen rechtfertigt, (z.B. Minimallöhne und Sozialversicherungen) beruht demnach nicht etwa auf einer besonderen Schwäche der Frauen, sondern auf der gesellschaftlich notwendigen Haus- bzw. Subsistenzarbeit. Bei fortschreitender Arbeitsteilung wird diese mehrheitlich von Frauen erbracht, was den Zugang zu „regulärer“ Lohnarbeit erschwert. Wenn vielleicht das Ernährermodell für eine bestimmte gesellschaftliche Schicht, in einer historisch und ökonomisch bestimmten Ära und unter bestimmten sozialen und kulturellen Voraussetzungen eine eingeschränkte gesellschaftliche Entsprechung findet, so trifft dies bei der sich drastisch verknappenden Ressource der regulären Lohnarbeit und unter Berücksichtigung des Gleichheitspostulats weder global noch lokal zu. Der Zugang zu regulären Arbeitsplätzen in Wohlfahrtsstaaten westlichen Zuschnitts ist für Migrantinnen ohne besondere Qualifikation bzw. für Frauen mit ausländischem Pass besonders eingeschränkt, da für diese Personen andere Segregationsmuster und – mechanismen gelten als für „Mehrheitsfrauen“ oder für Frauen mit inländischem Pass. Auf dem informellen internationalen Arbeitsmarkt hingegen erweist sich die Nachfrage nach dieser Kategorie von Arbeitskräften als besonders hoch.290 Darunter fällt nicht nur die Nachfrage nach Hausarbeit wie Haushalt, Putzen, Kinderbetreuen und Pflege von Betagten und Kranken, sondern auch der „Dienst am Mann“ als Ehe(haus)frau und Prostituierte. Die Umbenennung dieser Tätigkeiten zum Beruf verändert zwar nichts an den Mechanismen und Strukturen, die sich weltweit besonders existenzbedrohend auf Frauen der Unterschicht auswirken; die Begriffsbildung erlaubt aber, den Schein zu wahren und prekäre Arbeitsverhältnisse zu verdecken, zu ,,naturalisieren“ und damit zu legitimieren. Dieser Zusammenhang weist auf Widersprüche und auf die Schattenseite des neoliberalen Instrumentariums hin.

3.7.3 Gender Mainstreaming

Fachfrauen diskutieren zunehmend den Zusammenhang zwischen Gleichstellungspolitik, generellen Arbeitsmarktregelungen, Sozial-, Finanz- und Budgetpolitik des Staates. Die Frage stellt sich, wie denn Gleichstellungspolitik in einer Situation sehr großer kultureller und sozialer Heterogenität von Erwerbssituationen und Lebensstilen von Frauen zu realisieren sei. Die Diskriminierung manifestiert sich noch immer in allen Bereichen des Erwerbslebens, wobei die Maßnahmen und die Ebenen, wo Gleichstellungspolitik sinnvollerweise ansetzen müsste, sehr verschieden sein dürften“(Madörin: 8). Mit Instrumenten des Gender-mainstreaming und des Gender Budgets sehen auch andere Autorinnen Möglichkeiten, die Schattenseiten der Neoliberalisierung zu erhellen.291

Seit 1992 forscht das European Network on the Situation of Women in the Labour Market im Rahmen des Equal Opportunities Unit der Europäischen Kommission. Jill Rubery, wissenschaftliche Koordinatorin und Co-Autorin verschiedener Jahresberichte, (292) unterscheidet die verschiedenen analytischen Herangehensweisen.293 Ausgangspunkt ist die neoklassische Ökonomie, die von generellen und universellen Verhaltensmodellen ausgeht, die für verschiedene Länder und Zeiten gelten. Von hier aus werden Abweichungen von hypothetischen Normen eines Marktmodells untersucht und Schlüsse gezogen, was an den Rahmenbedingungen geändert werden muss, um eine gewünschte Entwicklung zu erreichen.294

Auf der anderen Seite gibt es die gesamtgesellschaftliche Herangehensweise, die von verschiedenen Typen sozialer Kohärenz ausgeht. Dieses Denkmodell untersucht das System von wirtschaftlicher und sozialer Organisation: Wie verbindet sich Frauenerwerbsarbeit, das System von Arbeitsmarkt, sozialstaatliche Einrichtungen und Familienorganisation? Welches ist die Rolle von politischen und sozialen Werten in der Gesellschaft, die diese Verhältnisse unterstützen? Wie Rubery (1988) kritisch anmerkt, stellt sich bei diesem Ansatz die Frage nach den Grenzen einer Gesellschaft in einer Zeit der Internationalisierung von Märkten und der Internationalisierung von politischen und sozialen Ideen und Werten. Sie betont, dass es viele Studien gibt, die zeigen, wie unperfekt Arbeitsmärkte funktionieren, und dass es eigentlich erstaunlich sei, wie stark Ökonomlnnen immer noch an der These der Selbstregulierung des Arbeitsmarktes hängen.

Diese beiden Ansätze unterscheiden sich in Bezug auf die Struktur der Gesellschaft, die Funktion von Ökonomie, Politik, Kultur und ihre Interdependenzen wesentlich. Es gibt auch differierende Sichtweisen bezüglich Familienpolitik und deren Zusammenhang mit der Frauenerwerbsarbeit. Susanne Schunter-Kleemann295 unterscheidet drei verschiedene Trends in familienpolitischen Konzepten:

  1. 1. Die eher sozialdemokratische Position geht von der Vereinbarkeit von Beruf und Familie aus, wobei dieser Ansatz das Management, die beiden Bereiche kompatibel zu gestalten, den Frauen als ihr eigenes Problem zuschreibt. In der Familie engagierte Frauen sollen aber durch Kinderkrippen, Tagesheime und sich beteiligende Väter Unterstützung erhalten.
  2. 2. Konservative Familienpolitik nimmt Frauen vor allem als Mütter wahr, für welche der Staat Aufgaben im Bereich von Mutterschutz und Gesundheitsvorsorge übernehmen soll. Sie lehnt die Individualisierung, d.h. die Loslösung vom Familienprinzip der Sozialversicherung ab, um die weitere Erosion des traditionellen Familiensystems zu verhindern.
  3. 3. Die neoliberale Position geht von einer im juristischen Sinn strikten Gleichbehandlung von Mann und Frau aus. Wenn Frauen den Ansprüchen, die an männliche Arbeitskräfte gestellt werden, nicht genügen, stellt sich die Frage, wie sie gefördert werden können. Zentral für diese Auffassung ist, dass anstelle von Staatsregelungen die individuelle Freiheit gestärkt werden muss.

Die Erwerbsarbeit von Frauen hat, unabhängig von der Familienpolitik, in allen westeuropäischen und nordamerikanischen Ländern stark zugenommen. Die Fragen nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie und nach einer Gleichstellungspolitik sind hochaktuell und politisch und analytisch nach wie vor heiß umstritten. Teilzeitarbeit und die damit verbundene überproportionale Besetzung von atypischen Arbeitsplätzen durch Frauen sind umstrittene Ausgangspunkte für künftige Strategie-Entwicklungen.296 Im Rahmen der gegenwärtigen Sozialstaatsreform kritisieren Autorinnen auch die neoliberale Position, die Frauen, welche infolge ihrer Arbeitsleistung in Familie und Haushalt den Anforderungen auf dem Arbeitsmarkt nur bedingt genügen können, aus einer Defizitperspektive betrachtet.297

Ilona Ostner konstatiert, dass „der Vergleich von Wohlfahrtsstaaten unter dem Aspekt weiblicher Lebenschancen noch in den Kinderschuhen steckt“ und stellt Konzepte, Variablen und Kriterien für die Beurteilung von „Frauenfeindlichkeit“ vor.298 Sie ordnet einzelne Wohlfahrtsstaaten der Europäischen Union nach ihrem jeweiligen Individualisierungspotential, wobei die „Stärke“ oder „Schwäche“ der Norm des Ernährermodells „rasch Auskunft über die Besonderheiten der Erwerbsbeteiligung von Frauen und über die Art ihres Einschlusses in das System der sozialen Sicherheit“ gibt. Ostner unterscheidet zwischen Individualisierung „als Freiheit, den Lebensunterhalt eigenständig zu sichern“ und „als Freiheit in der Sorgeverpflichtung gegenüber der eigenen Familie“. Sie kommt zum Schluss, dass in keinem der verglichenen Länder die Mehrheit der Frauen vom Zwang befreit ist, ihr Einkommen durch ein zweites, nämlich das des Partners, zu vergrößern.

3.7.4 Dualismus

Die Geschichte der westlichen Kultur unterstellt den Begriff „Frau“ dem Begriff ,,Mann“ in der geschlechtlichen Statushierarchie, wobei gerade die europäische Tradition – im Unterschied etwa zu den USA – die mit Privatbesitz verbundene Herrschaft von Frauen in Klöstern und Adelshäusern kennt. Während die Bedeutung der Klöster mit der Säkularisierung abnahm, erhielt sich der europäische, besitzende Hochadel seine Macht und sein Eigentum bis heute, trotz französischer und kommunistischer Revolution. Das Geschlecht der Herrscher scheint bedeutungslos, solange der Privatbesitz groß genug ist und ausreichend Nachkommen für die Erbfolge zur Verfügung stehen. Auf der anderen Seite erlaubt die zunehmende Chancen- und Rechtsgleichheit westlicher Gesellschaften auch „bürgerlichen“ Frauen die Partizipation an vormals den bürgerlichen Männern vorbehaltenen Privilegien wie Privatbesitz, Generierung eines eigenen Einkommens durch berufliche Tätigkeit oder politische Machtausübung. Die sozial wohl weitreichendste Herausforderung solcher Ansätze rechtlicher und gesellschaftlicher Gleichstellung der Geschlechter liegt aber in der Möglichkeit, ein von männlichem Einkommen, Besitz und somit von männlichen Herrschaftsansprüchen unabhängiges Frauenleben zu begründen. Denn an den Widersprüchen und den individuellen Unvereinbarkeiten zwischen den nun auch für Frauen geltenden gesellschaftlichen Ansprüchen, Pflichten und Leistungsanforderungen, verbunden mit den traditionellen, auf den „Mann“ bezogenen, ,,privaten“ Pflichten von Frauen wird der historisch neue, bürgerliche Versuch sichtbar, Herrschaft auf Geschlechterpolarität zu gründen. Freud postulierte anfangs des letzten Jahrhunderts, dass das Gesetz der Autorität dem Krieg aller gegen alle vorzuziehen und Herrschaft auf Grund der menschlichen Destruktivität unvermeidlich sei.299 Jessica Benjamin300 stellt fest, dass die verschiedenen Versuche von Freudianern, Herrschaft neu zu formulieren, ausschließlich in einer Männerwelt stattfinden. ,,Der Machtkampf entbrennt zwischen Vater und Sohn, die Frau spielt darin keine Rolle, außer als Siegespreis, als Verführerin zur Regression oder als dritter Punkt eines Dreiecks. In dieser Geschichte gibt es keine Auseinandersetzung zwischen Mann und Frau; tatsächlich wird die Unterordnung der Frau unter den Mann stillschweigend vorausgesetzt. Sogar die radikalsten unter den linken Freudianern hatten eine son­derbare Scheu, jenes grundlegende und völlig ungeprüfte Postulat der Psychoanalyse über die Herrschaft anzutasten: die Unterordnung der Frauen unter die Männer. Dieses Postulat leistet mehr, als allen alten bewussten oder unbewussten Ideen über Männer und Frauen ein Refugium zu bieten; es bietet auch, wie sich zeigen wird, die ultimative Rechtfertigung für das Akzeptieren jeglicher Autorität“ (Benjamin: 10). Sie analysiert die (bürgerliche) Geschlechter-Herrschaft als eine Komplementärbeziehung zwischen ihm (Subjekt) und ihr (sein Objekt), was eine neue Perspektive auf den alles beherrschenden Dualismus der westlichen Kultur eröffnet. ,Jhr zufolge liegt die Polarität der Geschlechter dem vertrauten Dualismus von Autonomie und Abhängigkeit zugrunde und legt mithin auch die Koordinaten von Herr und Knecht fest“ (Benjamin: 11). Sie fragt, warum diese Positionen bis heute die Beziehungen zwischen den Geschlechtern prägen, obwohl die westliche Gesellschaft sich doch formal zur Gleichheit bekennt, und erklärt mithilfe des psychoanalytischen Modells den Entfaltungsprozess dieser Struktur als Grundlage von (bürgerlicher) Herrschaft. Sie warnt vor der Versuchung, das Verhältnis der Geschlechter einfach umzukehren und „aufzuwerten, was abgewertet wurde undherab zu setzen, was überbewertet wurde“; anders gesagt, die Unterdrückten (Frauen) zu idealisieren und Herrschaft auf eine simple Beziehung zwischen Täter und Opfer zu reduzieren, was hieße, die Analyse durch moralische Empörung zu ersetzen. ,,Gäbe es denn einen Grund, der Macht zu gehorchen, wenn sie nur immer unterdrückend wäre, wenn sie nur immer nein sagte?“ fragt sie mit Foucault301 und versucht die Geschichte der (bürgerlichen) Herrschaft so zu erzählen, dass deren Komplexität und Mehrdeutigkeit erhalten bleibt. ,,Was die Macht dauerhaft macht und bewirkt ,dass sie akzeptiert wird, ist einfach die Tatsache, dass sie nicht nur auf uns lastet wie die Kraft, die Nein sagt, sondern dass sie sich lateral ausbreitet und Dinge hervorbringt, dass sie Freude schafft, Wissen formt und Diskurs produziert“ (Benjamin: 8). Machtsysteme produzieren nach Foucault wesentlich die Revolte gegen diese selbst. ,,Um den Gegensatz derGeschlechter, der unser psychisches, soziales und kulturelles Leben durchdringt, in Frage zu stellen, ist es notwendig, nicht nur die Idealisierung der Männlichkeit zu kritisieren, sondern auch die reaktive Aufwertung der Weiblichkeit“, fordert Benjamin und betont angesichts der starken Strömung im heutigen feministischen Diskurs, Herrschaft als Drama zu verstehen, bei dem weibliche Verletzlichkeit der männlichen Aggression zum Opfer fällt. Die Modalitäten der Unterwerfung „der Frau“ seien zu analysieren und weibliche Beteiligung an der Herrschaftsbeziehung anzusprechen, um damit die dualistische Struktur selbst in den Blick zu bekommen.

3.7.5 Von der asexuellen Mutter zur Sexy Women

Seit sich Sexualität und Fortpflanzung in den westlichen Gesellschaften voneinander gelöst haben und das Frausein nicht mehr mit Muttersein gleichgesetzt werden kann, hat sich das Bild der „Frau“ gewandelt: von der fürsorglichen aber asexuellen Mutter zur heutigen sexy women, die sich uns täglich von Plakatwänden, Illustrierten und Soaps aufdrängt. Die „Madonnas“ unserer Zeit genießen zwar ihre etwas kurzlebige Fähigkeit, das Begehren (der Männer) zu wecken und verstehen es häufig auch, dieses Begehren für klingende Münze, Ruhm, beruflichen Aufstieg, finanzielle Sicherheit als Partnerin oder Ehefrau oder für sonstige Privilegien auszuwerten; aber am für bürgerliche Gesellschaften grundlegenden hierarchischen Dualismus von (männlichem) Subjekt und (weiblichen) Objekt ändert sich dadurch nichts. Im Gegenteil: Die Kluft, durch die Illusion der Selbstbestimmung verschleiert, wird vertieft und gefestigt. Denn die sexy warnen drückt weniger ihr eigenes Begehren, ihre eigene Leidenschaft aus, als vielmehr die Lust, begehrt zu werden. ,,Weder die Macht der Mutter noch die Macht der ,sexy women‘ ist die Macht eines sexuellen Subjekts, wie im Falle des Vaters“ (Benjamin: 88). Dem hierarchischen Geschlechter-Dualismus von Subjekt und Objekt liegt die Vorstellung zugrunde, dass „die Frau“ kein eigenes Begehren hat und deshalb auf das Begehren des Mannes zurückgreifen muss. Sowohl Freud in seiner Theorie des Ödipus wie auch die soziale Praxis vieler Frauen, ihr Begehren in selbstgewählter Unterordnung durch Anerkennung und Bejahung des Subjekts als männlich und durch Bejahung der eigenen Objekthaftigkeit auszudrücken, hat viel zur selbstverständlichen Überzeugung beigetragen, dieses Geschlechterverhältnis sei ,,naturgegeben“. Wenn heute viele Frauen eine Beziehung zu einem Mann eingehen, um etwas zu bekommen, was sie nicht selbst haben, oder wenn Frauen ihre Autonomie durch Verzicht schützen, wenn das Begehren sie zu Selbstverleugnung und Unterwerfung nötigt, ist eine solche Situation vielleicht traurig, aber nicht unvermeidlich. ,,Sie ist entstanden durch Kräfte, die verstehbar sind und denen wir entgegenwirken wollen. Es braucht gar nicht geleugnet zuwerden, dass auch ,Natur‘ und ,Anatomieihr Teil zur ,condition femininebeitragen, sondern es muss lediglich festgehalten werden, dass die psychologische Integration biologischer Realität vor allem ein Werk der Kultur ist, eine Folge sozialer Bedingungen, die sich verändern oder doch kontrollieren lassen(Benjamin: 89).

3.7.6. Patriarchale Frauenmoral

Christina Thürmer-Rohr begreift das Werk der Kultur als Struktur der patriarchalen Frauenmoral, indem die Frau – mit einer höheren Moral ausgestattet als der Mann – aufgefordert ist, ihn unter jeder Bedingung zu lieben.302 ,,Die ,höhere Moral der Frau‚, von Männern attestiert, hat ihren Grund darin, dass Frauen das andere Geschlecht vergöttern oder aber, wenn dieses sich allzu offensichtlich als wenig göttergleich erweist, alles zu tun, es diesem Bilde ähnlicher zu machen: Die Frau ist dazu erschaffen, so fand man, die Fehler des Mannes auszugleichen und ihn damit zu einem vollkommeneren Menschen zu machen, als er es sonst wäre. [...] Gemäß diesem Auftrag war die Frau seit der frühkapitalistischen Gesellschaft und der bürgerlichen Familie moralisches Modell“ (Thürmer-Rohr: 170). Von allen Frauen aller Schichten und Klassen wurde erwartet, dass sie ihre Männer nicht nur mit Nahrung und einem gemütlichen Heim versorgen, sondern sie tagtäglich moralisch unterstützen und aufrüsten. Mit dieser „Frauenmoral als Männerbejahung“ traten Frauen den Beweis für die Richtigkeit der männlichen Geschlechterideologie der bürgerlichen Gesellschaft an, nach der Frauen „von Natur aus“ so ganz anders seien als die Männer. Die „Tugenden der Frau“ wie Hilfsbereitschaft, Selbstbeherrschung, Selbstverleugnung, Friedlichkeit, die ihnen „von Natur aus“ gegeben sind (die Männern nicht zur Verfügung stehen und die sie deswegen auch nicht erwerben müssen), ,,sind keine Ergebnisse der Willens- und Gefühlsanstrengung der Frau, kein Ergebnis der Arbeit an ihrer eigenen Person, kein Ausdruck der Unterwerfung unter Unvermeidliches, kein Ausdruck von Angst, kein Ausdruck des rationalen Kalküls, sondern vielmehr Ausdruck ihres schönen weiblichen Wesens“ (Thürmer-Rohr: 171). Ebenso ein Werk der Kultur und der sozialen Bedingungen ist die Aneignung und Verteidigung dieser Frauenmoral als Männerbejahung von Frauen selbst. Denn die Privilegien, die mit der aktiven Bejahung dieser gesellschaftlich tief verankerten Frauenmoral verbunden sind, ermöglicht vielen Frauen einen Grad an sozialer Partizipation, den zu erreichen sie kraft eigener, autonomer Ressourcen nicht in der Lage sind oder nur auf mühsamem, einsamem und beschwerlichem Weg. Die Angst von Männern, dass Frauen die ihnen von der Gesellschaft abverlangte Perspektive der Frauenmoral verlassen und eine Position der Nicht-Bejahung einnehmen könnten, gilt wohl als die gefährlichste Bedrohung von persönlicher und gesellschaftlicher Existenz. Aber für Thürmer-Rohr und andere Wissenschaftlerinnen besteht die gesellschaftliche Notwendigkeit, an den hierarchisch dualistischen Grundfesten, auf die sich westliche bürgerliche Gesellschaften stützen, zu rütteln, und zwar aus Sorge um die ganze Gesellschaft. ,,Die normale Gewalt in den Männergesellschaften hat seit der zweiten Hälfte dieses (des letzten) Jahrhunderts eine neue Form angenommen. Sexuelle Gewalt, Frauenmisshandlung, Vergewaltigung sind historisch alte, in immer neuen Gewändern auftretende, Umgangsformen‘ mit Frauen. Darüber hinaus aber ist Gewalt nicht nur eine, die der einzelne Mann der einzelnen Frau antut [...}. Männergewalt hat eine generalisierte Formgebung gefunden, die sie unabhängig von dem einzelnen gewalttätigen oder friedlichen Individuum Mann hat werden lassen“ (Thürmer-Rohr: 174). Sie bezieht sich hier auf die Atomtechnologie und Tschernobyl, was sie als Folge eines Denkens kennzeichnet, dass alles, was machbar, auch vertretbar sei. Das Vertrauen in den gesellschaftlich gemachten abendländischen Typus Mensch der diese Gesellschaften und ihre Denkgewohnheiten repräsentiert, ist beschädigt. 303 Aber lassen sich die Repräsentanten und potenziellen Vernichter des Wohnorts Erde wirklich an der sozialen Kategorie „Männer“ festmachen? Sind es wirklich nur Frauen, die eines „emotionalen Akrobatikaktes, der nur unter massivster Realitätsverkennung zu leisten ist“ bedürfen, um diese „Männerwelt“ zu bejahen? Entspricht nicht die Angst der Männer vor der Autonomie der Frauen der Angst von Frauen, ohne Frauenmoral den Boden unter den Füssen zu verlieren? Angst wehrt ab, verdrängt und kaschiert, Angst ist ein alterprobtes Herrschaftsinstrument und beschränkt sich wohl kaum auf das „Dilemma der Mittelklasse“.304

Wenn Thürmer-Rohr postuliert, ,,dass die Frau sich endlich von der patriarchalen Frauenmoral und ihrem Kern, der grundsätzlichen, der nicht mehr hinterfragbaren, der wahnhaften Männerbejahung verabschieden soll“, kommt sie zu spät: Längst sind Frauen als Repräsentantinnen des abendländischen Denkens und Handelns aktiv, längst bejahen sie mit der Frauenmoral auch ihre eigenen Privilegien, längst ist auch der „Ort beim Mann“ ihre eigene Heimat. Was aber nicht heißen soll, dass die Analyse der „Frauenmoral“ nichtig wäre und die „Scheinheimat“ in der dualistisch hierarchischen Gesellschaft für viele keine Realität.

Die Schwierigkeit, heutigen Widerstand und Anpassung theoretisch zu fassen, ohne dabei die traditionellen, dualistischen Kategorien von Herrschaft und Geschlecht fallen zu lassen, erfordert eine Aktualisierung der Debatte. Einig ist man sich über eine gesellschaftliche Stratifizierung entlang einer vertikalen (Schicht, Klasse) und einer horizontalen (Geschlecht, Rasse) Dimension, wobei sich Frauen ebenso wie Männer dem Leistungs- und Marktprinzip sowie den Konsumansprüchen anpassen oder sich zu widersetzen suchen. Das vormals exklusiv „Männliche“ hat sich zum Maßstab von Macht- und Partizipationsansprüchen verallgemeinert und formt das individuelle Selbstverständnis westlicher Prägung. Christina Thürmer-Rohr versteht das „Männliche“ als patriarchale Sozialstruktur, in der die Frau seit der frühkapitalistischen Gesellschaft als moralisches Modell fungiert. Dieser Ansatz lässt sich möglicherweise auf die globalisierte Gesellschaft unter Einbezug der Machtpartizipation von Frauen, also der horizontalen Stratifizierung, modifiziert anwenden.

Anmerkungen

220 COYOTE, 1973: Call OffYour Old Tired Ethics.

221 Institut für Sozialforschung, Frankfurt (1994) (Hg.): Geschlechterverhältnisse und Politik. Gender Studies. Frankfurt/M: Suhrkamp; Frauenlehrstuhl Frankfurt, Dokumentation (1986).

222 Barry, Kathleen (1988) (New York 1981): Female Sexual Slavery: The Problems, Policies and Cause for Feminist Action, in: Boneparth, E. and Stoper, E. (eds): Women, Power and Policy towards the Year 2000.

223 WHISPER: Acronym für Women Hurt in Systems of Prostitution Engaged in Revolt.

224 Butler, Judith (l 991): Das Unbehagen der Geschlechter.

225 Goffmann, Erving (1964): Stigma.

226 Pateman, Carole (1988): The Sexual Contract.

227 Nagle, Jill (ed) (1997): Whores and other Feminists.

228 Chapkis, W. (1997): Live Sex Acts: Women Performing Erotic Labour.

229 O’Neill, Maggie (2001): Prostitution and Feminism. Towards a Politics of Feeling.

230 POW! Prostitute Outreach Workers (Nottingham) und WHIP, Women’s Health in Prostitution Project (Leicester), wurden im Zusammenhang mit Gesundheitsprojekten der Aids-Prävention gegründet.

231 PROstitution KOllektiv REflektion gegründet im Jahr 2000, versteht sich als „Schweizerisches Netzwerk zur Verteidigung der Rechte von Personen, die in den Berufen des Sexgewerbes arbeiten“. Seine Mitglieder treten für die in ihrer Charta entwickelten Prinzipien ein. Die Mitglieder sind aktive Vereinigungen aus dem Kreis der weiblichen und männlichen Prostitution und Personen die im Sexgewerbe arbeiten, Pressemappe vom 17. Oktober 2000, Bern: ProKoRe.

232 Nach Mestrovic hat sich unser kulturelles Leben zu einer immerwährenden Unterhaltungs­ runde gewandelt. Wir nehmen Bilder von Medien in einer relativen Unaufmerksamkeit wahr. Postemotionalismus verweist auf eine heutige „ich-dominierte“ und mediengesättigte Gesell­ schaft, während Räume, wo kritisch gedacht und gefühlt werden kann, am Verschwinden sind. Damit ist auch ein Grad von Pessimismus und Lähmung in unserem Angesprochensein für die Notlage anderer verbunden. Diese Lähmung ist ein Markstein von Postemotionalismus. Wir blättern um, schalten ab – und sind unbewegt. Aber O’Neill bestreitet, dass dieser Zustand der Abgestumpftheit so weit verbreitet ist, wie Mestrovic postuliert, denn noch sind wir fähig, dieser Tendenz in der Politik des Alltags zu widerstehen.

233 Europarat 1991, zit. nach O’Neill, 2001, S. 30.

234 Vielleicht eindeutiger zu sagen: Die Redimensionierung asymmetrischer Gegebenheiten auf symmetrische Praktiken beinhaltet gleichzeitig eine Verleugnung von „Ungleichem“.

235 Dazu etwa: Amalia Lucia Cabezas: Discourses on Prostitution: The Case ofCuba; Group Sisterhood: Prostitution, Stigma and the Law in Japan: A feminist Roundtable Discussion; John K. Anarfi: Ghanaian Women and Prostitution in Cöte d’Ivoire; Satoko Watenabi: From Thailand to Japan: Migrant Sex Workers as Autonomous Subjects; Kamala Kempadoo: The Migrant Tightrope: Experiences from the Caribbean; Shane A. Petzer and Gordon M. Issacs: SWEAT: The Development and Implementation of a Sex Worker Advocacy and Intervention Program in Post-Apartheid South Africa; Khartini Slamah: Transgenders and Sex Work in Malaysia; Oumar Tandia: Prostitution in Senegal; Paulo Henrique Longo: The Pegac,;ao Pro­ gram: Information, prevention and Empowerment of Young Male Sex Workers in Rio de Janeiro etc. Alle Autoren in Kempadoo, K. und Doezema, J. (eds) (1998): Global Sex Work­ ers. Rights, Resistance, and Redefinition.

236 O’Neill, Maggie (2001): Prostitution and Feminism. Toward a Politics of Feeling. Cambridge: Polity Press; Matthews, Roger and Maggie O’Neill, Maggie (2002): Prostitution.

237 Sexgeschäfte, in: NZZ Folio, Die Zeitschrift der Neuen Zürcher Zeitung, Januar 1999.

238 Bundesamt für Statistik (BFS) (1997): Nationale Armutsstudie, Gesamtbericht; Streuli, Elisa und Bauer, Tobias (2002): Working poor in der Schweiz, BFS: Neuchätel.

239 Dazu etwa Heidi Schär Sall (1999): Überlebenskunst in Übergangswelten, in: Schär, Heidi et al. (1999): Überlebenskunst in Übergangswelten. Ethnopsychologische Betreuung von Asylsuchenden, S. 77-106; Leopold, Beate und Steffan, Elfriede (1997): Special needs of children of drug misusers. Consultant’s final report, Strasbourg, Council ofEurope Publishing.

240 Vgl. Fallbesprechung in vorliegender Arbeit. Die männlichen Prostitutionsmigranten kamen ausschliesslich via Prag nach Zürich, wo sie einige Monate lang als „Stricher“ Geld verdienten. Sie waren zwischen 16 und 22 Jahre alt. Meinen Informationen zufolge ist männliche Prostitution, die männliche Freier anspricht, nur bis zum Erwachsenenalter kommerziell verwertbar.

241 Kappeler, Susanne (2003): Frauenhandel und Freier-Markt, in: Widerspruch Nr. 44, Zürich, S. 109-119.

242 Jill Jesson (1993): Understanding adolescent fernale Prostitution: a literature review.

2434 Jarvinen, Margaretha (1993): OfVice and Warnen: Shades of Prostitution.

244 Nagle,Jill(ed.) (1997): Whores and other Ferninists; Chapkis, Wendy (1997): LiveSex Acts: Warnen Performing Erotic Labour.

245 Report ofthe Committee on Homosexual Offences and Prostitution (1957), Wolfenden.

246 Zit. nach Matthews und O’Neill (eds) (2003).

247 Dr. med. Zemp, Basel, persönliche Mitteilung, 2000.

248 Aids-Hilfe Schweiz, Barfüsser-Projekt, Interviews mit Fachstellenleiterinnen. Interview mit Frau Noi-Togni, Kantonsrätin, Kt. Graubünden.

249 Der Schweizer Gesetzgeber formuliert im Abschnitt „Strafbare Handlungen gegen die Sittlichkeit“ im Kapitel „Ausnützung sexueller Handlungen“:

Art. 195 StGB Förderung der Prostitution

Wer eine unmündige Person der Prostitution zuführt,

wer eine Person unter Ausnützung ihrer Abhängigkeit oder eines Vermögensvorteils wegen der Prostitution zuführt,

wer die Handlungsfreiheit einer Person, die Prostitution betreibt, dadurch beeinträchtigt, dass er sie bei dieser Tätigkeit überwacht, oder Ort, Zeit, Ausmaß oder andere Umstände der Prostitution bestimmt,

wer eine Person in der Prostitution festhält,

wird mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren oder mit Gefängnis bestraft.

250 Vgl. dazu Trechsel, Stefan (1997): Schweizerisches Strafgesetzbuch. Kurzkommentar, Zürich: Schulthess.

251 Jenny, Guido: Art. 195 N 8, Stratenwerth, Günther: Schweizerisches Strafrecht, Besonderer Teil IBT I § 9 N 9, 19, 21.

252 Botschaft, S. 1084.

253 Trechsel, Stefan (1997), S. 731.

254 Eine Ausnahme bilden hier vielleicht die Selbstdeklarationen einer Minderheit von Prostitu­ ierten, die Prostitution als ihren persönlichen Ausdruck ihrer eigenen Sexualität verstehen.

255 Nach Auskunft von NRO-Vertreterinnen (Aids-Hilfe Schweiz) existieren „Schwarze Listen“ über gewalttätige und zahlungsunwillige Freier.

256 Art. 196 StGB Menschenhandel

Wer mit Menschen Handel treibt, um der Unzucht eines andern Vorschub zu leisten, wird mit Zuchthaus oder mit Gefängnis nicht unter sechs Monaten bestraft.

Wer Anstalten zu Menschenhandel trifft, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren oder mit Gefängnis bestraft.

In jedem Fall ist auch auf Buße zu erkennen.

257 SR 0.311.32 und SR 0.311.34.

258 vgl. Franz Stämpfli, ZStrR 39, 1926.

259 Ernst Hafter, ZStrR 46, 1932.

260 4. Strafkammer des Obergerichts des Kantons Bern, Protokoll vom 19.11.1999.

261 Botschaft zur Revision 1992 (BBI 1985, S. 1086).

262 AB 1987 S 401 und AB 1990 N 2329.

263Trechsel, a.a.O. S. 732.

264 Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, BT I, 5. Auflage Bern 1995 § 9 N 18; Jenny, Kommentar zum Schweizerischen Strafrecht, 4. Band: Delikte gegen die sexuelle Integrität und gegen die Familie, Art. 196 N 4 und Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 2. Auflage Zürich 1997, Art. 196 N 1. Ablehnend hingegen Rehberg, Strafrecht III, 7. Auflage 1997, S. 413.

265 BGE 6S.356 / 2000 / bue.

266 Bundespräsident Arnold Koller, AB 1990 N 226lff.

267 U.a. Alexander, Priscilla and Delacoste, Frederique (1987): Sex Work: Writings by Women in the Sex Industry; Bell, Laurie (ed.) (1987): Good Girls: Feminist and Sex Trade Workers Face to Face; Roberts, Nickie (1992): Whores in History: Prostitution in Western Society.

268 Pruit, Deborah, LaFont, Suzanne (1995): For Love and Money: Romance Tourism in Jamaica, S. 422-440.

269 Truong, Than-Dam (1990): Sex, Money and Morality: The Political Economy of Prostitution and Tourism in South East Asia.

270 McLeod, Eileen (1982): Women working: Prostitution Now.

271 Obwohl in Deutschland seit 2002 Prostitution als Arbeit gilt, ist Zuhälterei immer noch straf­ bar. Im Gegensatz dazu gilt in der Schweiz Zuhälterei als „Arbeitsvermittlung“, falls sie nicht der Rechtssprechung nach Strafgesetz Art. 195 StGB, ,,Förderung der Prostitution“ oder Art. 196 StGB „Frauenhandel“ zuwider läuft. Obwohl selbstbestimmte Prostitution als Gewerbe längst anerkannt und besteuert wird, hindert die Auffassung von Prostitution als „unsittlicher Vertrag“ vor der rechtlichen Anerkennung als „Arbeit“. Vgl. dazu „für die Anerkennung als Arbeit“ die beiden juristischen Beiträge von Heller (1998) und Hürlimann (2004).

272 Die Rassismus-Debatte sieht sich bezüglich Toleranz gegenüber Drogenhändlern schwarzer Hautfarbe bzw. mit Herkunftsland Balkan mit ähnlichen Problemen konfrontiert. Dazu Eser Davolio, Miryam (2000): Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Gewalt.

273 So in Zürich zu beobachten: Quartierverein Langstrasse, städtisches Projekt zur Verbesserung der Lebensqualität und Aufwertung des Quartiers „Langstrasse“.

274 Lombroso, C. (1896): La femme criminelle et Ja prostituee.

275 Tacussel, F. (1877): La traite des blanches: Paris, zit. nach Dos Santos Silva (1988).

276 Mittels moderner Genanalyse-Technik konnte kürzlich nachgewiesen werden, dass der 3. Präsident der USA, Thomas Jefferson, neben seinen Kindern mit seiner Ehefrau auch mehrere Kinder mit einer schwarzen Haushälterin hatte, eine Praxis, die wohl nicht nur dem Präsiden­ ten der USA als selbstverständlich erschien.

277 Durkheim, Emile: Les regles de Ja methode sociologique, und Le suicide, zit. nach Lamnek, Siegfried (1997): Neue Theorien abweichenden Verhaltens.

278 Merton, Robert K. (1945): Social Theory and Social Structure, New York, zit. nach Lamnek, Siegfried (1997): Neue Theorien abweichenden Verhaltens.

279 Ein kurzer Überblick findet sich bei Estermann, Josef (1984): Strafgefangene und (! 986): Kriminelle Karrieren.

280 Lautmann, Rüdiger (2001): Sexuelle Abenteuer – eine Beziehungsform? in: Criminologische Vereinigung (Hg.): Retro-Perspektiven der Kriminologie. Freundschaftsausgabe zum 70. Geburtstag von Fritz Sack.

281 Simmel, Georg (1992): Das Abenteuer, in: Philosophische Kultur. Gesammelte Essays. Gesamtausgabe Bd. 14.

282 Dottridge, Mike (2004): Kids as Commodities? Terre des Hommes. Nach Schätzungen der ILO werden weltweit 1,2 Millionen Kinder Opfer von Kinderhandel. Der neuste Unicef-Bericht (2003): ,,Trafficking in Human Beings in South Eastem Europe“ kommt zum Schluss, dass 90% der Frauen im Sexgewerbe auf dem Balkan als Opfer des Menschenhandels im Sinne der „Stability-Pact“-Erklärung von Palermo (2000) gelten. 10-15% der Gehandelten sind minderjährig.

283 Mclntosh, Mary (1978): Who needs Prostitutes. The Ideology ofmale sexual needs.

284 Tages-Anzeiger Zürich vom 9. Oktober 2003.

285 Dr. med. Theres Blöchlinger, Zürich: ,,Frauen sind sexuell potenter als Männer. Aber die befriedigende weibliche Sexualität bezieht sich auf den ganzen Körper, so dass klassische Sexangebote, die auf genitaler Penetration basieren, für Frauen nicht so interessant sind“ Tages-Anzeiger Zürich vom 9. Oktober 2003.

286 Tschopp, Edith, Soziologin, Tages-Anzeiger Zürich vom 9. Oktober 2003.

287 Diese Resolution definiert Diskriminierung von Frauen als „any distinction, exclusion or restriction made on the basis of sex which has the effect or purpose of impairing or nullifying the recognition, enjoyment or exercise by women … of human rights and fundamental free­ dom in the political, economic, social, cultural, civil, or any other field“.

288 Madörin, Mascha (1997): Auswirkungen von Deregulierungsmaßnahmen auf Frauen, eine Bibliographie mit Kommentaren und Zusammenfassungen.

289 von Werlhof, Claudia (1999): Frauen und Globalisierung.

290 Sassen, Saskia (1996): Metropolen des Weltmarkts. Die neue Rolle der Global Cities. Sie beschreibt, wie der Bedarf an informellen Dienstleistungen in den Weltfinanzzentren steigt, wobei eine neue Geographie der Zentralität und Marginalität entsteht.

291 Jegher, Stella (2003): Gender Mainstreaming. Ein umstrittenes Konzept aus feministischer Perspektive; Madörin, Mascha (2003): Gender Budget. Erfahrungen mit einer Methode des Gender Mainstreaming; Imboden, Natalie (2003): Mit Gender Mainstreaming gegen Malestream? Alle in: Feminismus, Gender, Geschlecht. Widerspruch 44, Zürich.

292 Equal Opportunities Unit, DGV, of the European Commission: Women and the European Employment Rate. V/995/96-EN, Bruxelles, 1996, Jill Rubery, European Work and Employ­ ment Research Centre, Manchester School of Economics.

293 Rubery, Jill (ed.) (1988): Women and Recession.

294 Zu dieser Herangehensweise gehören in der Literatur beispielsweise die Berichte der OECD (Organisation for Economic Cooperation and Development): Les femmes et le changement structurel, Nouvelles Perspectives, Cedex, Paris, 1994.

295 Schunter-Kleemann, Susanne (Hg.) (1992): Herrenhaus Europa.

296 Vgl. auch Publikationen der ILO (International Labour Organisation) in Genf: Warnen Workers. An annotated bibliography, 1983-1994, No. 14, Genf 1995.

297 Dazu etwa Brodie, Janine (2004): Die Re-Formulierung des Geschlechterverhältnisses. Neoliberalismus und die Regulierung des Sozialen, S. 19-33.

298 Ostner, Ilona (1995): Arm ohne Ehemann? Sozialpolitische Regulierung von Lebenschancen für Frauen im internationalen Vergleich.

299 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur. GW XIV, S. 482-493.

300 Benjamin, Jessica (1999): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht, Frankfurt/M: Fischer. 5. Auflage.

301 Foucault, Michel (dt. 1976): Sexualität und Wahrheit.

302 Thürmer-Rohr, Christina (1987): Vagabundinnen. Feministische Essays.

303 Zu diesem Schluss kommt auch Jürg Sambeth, der damalige Direktor der Schweizerischen Chemie-Fabrik im italienischen Seveso, in seinem Buch, in dem er die Katastrophe des hoch­ gefährlichen Gasaustritts nachzeichnet, die nachhaltige Gesundheitsschädigungen in der Bevölkerung ausgelöst hat. Er sucht nach Verantwortlichkeiten bei sich selbst und der Kon­ zernleitung in Basel (Ciba-Geigy, heute Novartis), die über die juristisch festgelegten kleineren und größeren Geldbeträge zur Abfindung hinausgehen. Sambeth, Jürg (2004): Zwischenfall in Seveso.

Ebenfalls die Suche nach einem ruhigen Gewissen bzw. unternehmerische Weitsicht hat wohl den Schweizer Großindustriellen Stephan Schmidheiny veranlasst, nachdem er die Asbest verarbeitende Produktion von Baumaterialien rasch nach Antritt des väterlichen Erbes umgestellt hatte, sein Milliardenvermögen in Lateinamerika zu „verschenken“ – oder, wie es Jörg Becher (Bilanz) in seiner Serie über die Familie Schmidheiny formuliert hat, ,,den unternehmerischen Megatrend vorzuzeichnen: die Hinwendung der Konzerne zum Thema ,corporate social responsibility“‚ Tages Anzeiger Magazin, Zürich vom 17. Juli 2004.

304 Barbara Ehrenreich beschreibt den rasanten Aufstieg der amerikanischen Mittelklasse unter Partizipation der Frauen und ihre reaktiven Machterhaltungstendenzen in Zeiten der Krise in ihrem Buch: Angst vor dem Absturz. Das Dilemma der Mittelklasse (dt. 1992).

Mario Erdheim legt den irrationalen und selbstzerstörerischen Kern absoluter Herrschaft bloß und entwickelt eine Psychologie der Herrschenden, deren Realitätsverlust eine Hauptursache destruktiver und selbstdestruktiver Tendenzen in der Geschichte ist. Erdheim, Mario (1992): Die gesellschaftliche Produktion von Unbewusstheit. Eine Einführung in den ethnopsychoanalytischen Prozess; (1994): Psychoanalyse und Unbewusstheit in der Kultur.