Rezeption von Umweltbedingungen

Josef Estermann, Berlin

Weiterlesen Belastung durch militärische Tiefflüge
© ProLitteris, Josef Estermann

Die Konzepte der Umweltsoziologie sind wie wohl keine andere «Bindestrichsoziologie» auf unterschiedliche Bereiche der Vergesellschaftung und der conditio humana ausgerichtet.

Die Umweltsoziologie kommt nicht aus ohne eine exakte naturwissenschaftliche Analyse ihres Gegenstandes Umwelt oder dem gerade im Forschungsprozess interessierenden Segment davon. Weiterhin bedarf es einer makrostrukturellen Betrachtung des Verhältnisses Gesellschaft – Forschungsgegenstand, was den genuinen Beitrag der Soziologie ausmacht, allerdings auch Recht und Ökonomie einschliessen muss sowie der Analyse der intraindividuellen Auseinandersetzung mit dem Umweltzustand, sei es bezüglich der Rezeption oder handlungstheoretisch, was durch Psychologie und Soziologie gemeinsam zu bewältigen ist. Nicht vergessen werden darf die Wirkung von Umwelt auf die Physiologie, ein genuiner Gegenstand der Medizin. Soziologie der Umwelt kann nur interdisziplinär betrieben werden.

Bei umweltsoziologischen Forschungsvorhaben müssen also folgende Punkte in Betracht gezogen werden:

1 Naturwissenschaftliche Beschreibung des fraglichen Umweltzustandes

2 Wirkungszusammenhang Gesellschaft-Individuum-Umweltzustand

– 2a Determinanten gesellschaftlichen und individuellen Handelns, die den Umweltzustand beeinflussen

– 2b Wirkungsweisen des Umweltzustandes auf Gesellschaft und Individuum

3 Umweltbewusstsein und Handlungsperspektiven (-intentionen) des Einzelnen

Umweltbewusstsein und Handlungsintentionen lassen sich am besten mittels eines Konzeptes von Schranken der Wahrnehmung und Schranken im Hinblick auf umweltbezogenes Handeln beschreiben.

Schranken der Wahrnehmung (Indikator: Bestreiten des Zustandes bei gleichzeitiger naturwissenschaftlicher Bestätigung desselben oder gleichzeitigem Nachweis der physiologischen Wirksamkeit) unterteilen sich in physiologisch-sensitive (nicht sehen, nicht hören, nicht fühlen) und kognitive (nicht wissen, nicht wissen wollen). Kognitive Schranken können auf Verdrängungsmechanismen oder auf politischen und kulturellen Einstellungen beruhen. Aktivitätsschranken im Hinblick auf umweltbezogenes Handeln sind entweder gesellschaftlich-ökonomische (es lässt sich nichts machen), individuell-materielle (ich kann nichts tun) oder aber individuell-kognitive (für mich ist es sinnlos, etwas zu tun, vgl. Mertons Retreatism).

Das Modell möchte ich verdeutlichen anhand der Lärmwirkungsforschung und den Daten eines empirischen Projekts über den militärischen Tiefflug, welches wir an der Freien Universität in den Jahren 1987 und 1988 durchführten. Die Ergebnisse der Untersuchungen in dem Tieffluggebiet in Rheinland-Pfalz finden Sie hier (page id=) und diejenigen im Tieffluggebiet Norddeutschland finden Sie hier (page id=). Analysen zu physiologischen und psychologischen Auswirkungen hier (page id=).

Die naturwissenschaftliche Analyse bestand aus Messungen von Menge und Qualität der Ereignisse. Zentraler Gegenstand war die maximale Schallemission, die Spitzenwerte über 120 dB(A) und Pegelanstiegsgeschwindigkeiten von bis zu 100 dB/s erreichte, Schallereignisse, deren Qualität mit Explosionen oder Gewehrschüssen vergleichbar sind. An Tagen mit gutem Flugwetter konnten wir deutlich über 50 Ereignisse mit Spitzenpegeln über 80 dB(A) feststellen.
Physiologische Auswirkungen wurden in erster Linie sekundäranalytisch erfasst. Es ergaben sich Hinweise auf Gehörschädigungen und negative Auswirkungen auf Blutdruck, endokrines System und Peristaltik. Unsere Daten zeigten Schlafstörungen, Schreckreaktionen, Störungen von Kommunikation und Konzentration, verstärkte Stressmomente, Realängste und Angstdispositionen sowie eine Beeinträchtigung der gesundheitlichen Befindlichkeit.

Der Wirkungszusammenhang Gesellschaft – Individuum – Umwelt ist unter anderem dadurch geprägt, dass das Thema Tiefflug in der Bundesrepublik aktuell zu politischen Auseinandersetzungen Anlass gibt, wobei sich die Interessen des Bundesverteidigungsministeriums und der Hersteller von Militärflugzeugen denen der betroffenen Bevölkerung gegenüberstehen. Der untersuchte Umweltzustand unterliegt prinzipiell politischen Entscheidungen und hat nicht den Grad der Notwendigkeit für das menschliche Überleben wie beispielsweise Wohnungsbau oder Energieproduktion, ist aber Teil des machtpolitisch bedeutsamen und emotionsgeladenen Komplexes «Verteidigungsbereitschaft» und «Aufrüstung» versus «Antimilitarismus» und «Zumutbarkeit der Belastung». Dieses Spannungsverhältnis ist im Bewusstsein der Beteiligten präsent, was für viele relevante Umweltzustände nicht gilt.

In Bezug auf den kognitiven Bereich zeigte das Schrankenkonzept seine Leistungsfähigkeit. Es konnte dargestellt werden, dass physiologisch-sensitive Filter beim militärischen Tiefflug nicht wirksam sind, da die Ereignisse gleichzeitig optisch und akustisch und auch in einem Frequenzbereich wahrgenommen werden, der nicht nur «gehört», sondern auch «gefühlt» wird. Kognitive Schranken der Wahrnehmung hingegen lassen sich nachweisen. Gerade in Tiefstfluggebieten gab es einige Befragte, die die Ereignisse bestritten oder als nicht auffällig bezeichneten. Wir fanden sowohl Verdrängungen als auch Rückwirkungen politischer Einstellungen als kognitive Schranken des Umweltbewusstseins. Handlungsschranken zeigten sich auf allen Ebenen. Das Hauptproblem besteht in den fehlenden oder mangelhaften Einflussmöglichkeiten (vgl. Parsons) der «Bürger» auf die Entscheidungen der «Militärs», was in der aktuellen Diskussion zur Forderung nach der «Wiederherstellung des politischen Primats über das Militärische» führt. Die angesprochene gesellschaftliche Schranke scheint wesentliches Bestimmungsmoment auch der individuell-materiellen und individuell-kognitiven Handlungseinschränkungen zu sein, deren Stärke mit dem Aufbau von Organisationsstrukturen und der Aufnahme des Themas durch Parteien, Wissenschaft und Presse abnimmt, in der Konsequenz zu Mertons «Rebellion» führen kann.

Literaturverzeichnis

Merton, R. K., Social Structure and Anomie. American Sociological Review, Vol. 3, No. 5 (Oct., 1938), S. 672-682.

Parsons, Talcott, The Social System. New York: The Free Press, 1951.

Estermann J.: Belastung der Bevölkerung durch militärische Tiefflüge. Mitteilungen aus dem Schwerpunktbereich Methodenlehre, Heft 12, Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin 1986, 2.A. 1987, pp 70, ISSN 0931-0886 / 12.

Projektgruppe FLUG: FLUG – Tieffluguntersuchung Norddeutschland. Erhebung 1987. Mitteilungen aus dem Schwerpunktbereich Methodenlehre, Heft 16, Institut für Soziologie der Freien Universität Berlin 1988, pp 63, ISSN 0931-0886 / 16.

Oremus D., Estermann J.: Wirkung von Tiefflugübungen in Norddeutschland – Angst, Einstellungen und Handlungsmuster verschiedener Strata, in: Poustka F (Hg.): Die physiologischen und psychischen Auswirkungen des militärischen Tiefflugbetriebs, Bern, Stuttgart, Toronto, 1991, S. 183-201.