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Menschenhandel und Frauenhandel
von Rahel Zschokke und Josef Estermann
Der 5. Titel des schweizerischen Strafgesetzbuches „Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität“ wurde zu Beginn der neunziger Jahre total revidiert. Die Revision war notwendig, weil sich im alten Sexualstrafrecht viele Normen fanden, die nicht mehr mit einer modernen Auffassung der sexuellen Freiheit übereinstimmten, insbesondere Schutzaltersbestimmungen, Homosexualität, sexuelle Gewalt in der Ehe und vieles mehr. Sie hat zur Folge, dass kontinuierliche, vergleichbare Zeitreihen im Sexualstrafrecht erst ab 1993 zur Verfügung stehen. In der Schweiz sind Prostitution und Zuhälterei nicht strafbar. In der kantonalen Praxis ist allerdings eine gewisse Kriminalisierung der Prostitution nach wie vor bekannt: So sind für das Jahr 1997 in der Zürcher Polizeilichen Kriminalstatistik 369 Fälle von unzulässiger Ausübung der Prostitution aufgeführt (von 1445 Sexualdelikten überhaupt). Deshalb erstaunt es auch nicht, dass sich in dieser Statistik der Anteil von weiblichen Tatverdächtigen unter dem Titel „Sexualdelikte“ auf 46% beläuft (verglichen mit 20% bei sämtlichen StGB-Tatverdächtigen). Im Umfeld von Prostitution und Zuhälterei werden jedoch auch erhebliche Aktivitäten der Organisierten Kriminalität vermutet.
Durch die Reform des Sexualstrafrechts (1992) wurde mit Art. 195 StGB die Förderung der Prostitution und mit Art. 196 StGB der Menschenhandel unter Strafe gestellt. Beide Artikel, insbesondere Menschenhandel, betreffen Aktivitätsbereiche, die Kriminelle Organisationen zugeschrieben werden.
Art. 196 StGB schützt Personen, die unter Beeinträchtigung ihrer Autonomie der sexuellen Ausbeutung zugeführt werden. Trotz der Modernisierungsbemühungen im Rahmen der Revision des Sexualstrafrechts wurde der altertümlich anmutende Begriff der Unzucht zu Lasten einer operationalen Definition sexueller Ausbeutung beibehalten. Die Strafbarkeit wird auf sämtliche Vorbereitungshandlungen ausgedehnt. Die Titelmarginale „Menschenhandel“ ist problematisch, da der Artikel nicht den Handel mit Kindern, etwa zur Adoption, oder der Handel mit Arbeitskräften, etwa im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung, unter Strafe stellt. Solche Aktivitäten müssen auf jeden Fall auch als Menschenhandel bezeichnet werden. Im Zentrum der ratio legis steht jedenfalls der sogenannte Frauenhandel.
Die Schweiz kennt weder eine Migrations- noch eine Integrationspolitik im engeren Sinne. Die entsprechende Politik muss als Zulassungspolitik bezeichnet werden. Unter diese Politik fällt in der Schweiz auch die Problematik der Migrationsprostitution.
Richtlinie dieser Zulassungspolitik ist die Beschränkung der Zahl der ausländischen Personen in der Schweiz, was mit Kontingenten für neu einreisende und anwesende ausländische Arbeitskräfte geregelt wird.(1) Berücksichtigt werden in erster Linie die Interessen auf dem Arbeitsmarkt, wobei inländischen Arbeitskräften eine Vorrangstellung eingeräumt wird. Die gesetzliche Grundlage bildet das ANAG (Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer, SR 142.20) und die BVO (Verordnung über die Begrenzung der Zahl der Ausländer). Als politische Grundlage galt bis Mitte der neunziger Jahre das „Drei-Kreise Modell“, das dann durch ein „Zwei-Kreise-Modell“ ersetzt wurde, in dessen Rahmen aus Nicht-EU/EFTA-Ländern nur noch qualifizierte Arbeitskräfte in besonderen Fällen zugelassen werden. Da für diesen Personenkreis die Aufenthaltsbewilligungen immer an einen bestimmten Zweck gebunden sind, beispielsweise Heirat, Arbeit oder Studium, bleiben Bürgerinnen aus Ost- und Mitteleuropa in der Regel nur folgende Möglichkeiten, um in die Schweiz zu migrieren: Als Ehefrauen, Cabarettänzerinnen und Touristinnen. Eine Arbeitsbewilligung können sie praktisch nur durch Heirat (Jahresaufenthaltsbewilligung B, nach fünf Jahren Bewilligung C mit Recht auf selbständige Erwerbstätigkeit und freie Niederlassung) und als „Artistinnen“ (Kurzaufenthaltsbewilligung L) erlangen. Viele Frauen gelangen daher als Touristinnen in die Schweiz und nehmen eine (nach ANAG gesetzeswidrige) Tätigkeit im Haushalts-, Reinigungs-, Pflege- oder eben Sexbereich auf. Diese „illegalisierten“ Migrantinnen verfügen über keine sozialen Rechte und riskieren jederzeit in Ausschaffungshaft genommen und ausgewiesen zu werden. Dabei kommen der Wegweisungspraxis der kantonalen Fremdenpolizei ein grosser Ermessensspielraum zu. Die Migrantinnen haben im Gegensatz zu andern illegalen Arbeitern oder Arbeiterinnen keine Arbeitsverträge, die sie zur Prostitution berechtigen (Ungültigkeit von Verträgen wegen Sittenwidrigkeit), und werden auch nicht als selbständig Erwerbende anerkannt. Die Rechtspraxis bezüglich der Sittenwidrigkeit des Prostitutionsvertrags ändert sich aktuell, so dass ein Prostitutionsvertrag nicht mehr als nichtig, sondern als gültig und einklagbar anerkannt wird. Aber auch unter der neuen Rechtslage besteht die Gefahr, dass die Migrantinnen durch alle Netze sozialer Sicherung und persönlicher Rechte fallen.
Die ausländerrechtlichen Auflagen des Einreiselandes sowie deren Handhabung bei der Grenzkontrolle haben auf die Strukturen der sich im Graubereich bewegenden grenzüberschreitenden Organisationen einen wesentlichen Einfluss.
Die Anforderungen und die Strategien zur Zielerreichung lassen sich systematisieren. Geografisch und auch im zeitlichen Ablauf ergibt sich naturgemäss eine Gliederung in Herkunftsland, Grenzübertritt und Zielland. Auf jeder Stufe zeigen sich spezifische Anforderungen, die mit ebenso spezifischen Strategien beantwortet werden.
(1) Mit dem Inkrafttreten der sogenannten Bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU gilt für EU-Bürger in der Schweiz die sogenannte Freizügigkeit, also die Niederlassungsfreiheit. Das harte Einwanderungsregime und entsprechende Kontingentierungen sind somit nur noch für Nicht-EU-BürgerInnen von Bedeutung
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