Frauenhandel – Einleitung von Rahel Zschokke

Weiterlesen © ProLitteris, Rahel Zschokke

Die kontroversen Diskussionen über Phänomene um Frauenhandel und Prostitution in der Rechtslehre und der Rechtspraxis in Kreisen von Nicht-Regierungs-Organisationen (NGO), Politik und Literatur zeigen, dass Konflikte und Konfrontationen um Frauenhandel sich nicht ohne weiteres einem rechtlich verbindlichen, also einem normativen Zugang öffnen, wie ihn das Strafrecht etabliert. Joachim Kersten (1) fordert deshalb verstehende Zugänge, „die den im Geschäft der Rechtspflege und Strafverfolgung stehenden Instanzen häufig nicht zur Verfügung stehen“. Er begründet diese Feststellung damit, dass verstehende Zugänge eine Tendenz haben, Wirklichkeit schwieriger, komplexer und widersprüchlicher darzustellen, als es das Repertoire von einem der Entscheidungsfindung verpflichteten Instrument wie dem Strafrecht verlangt. Das Strafrecht fokussiert stets das Individuum und sucht das individuelle Handeln rechtlich einzuordnen. Eine sozialwissenschaftliche Perspektive hingegen richtet den Blick auf gesellschaftliche Verhältnisse und findet Gründe für menschliches Verhalten dort.
Meine Grundfrage lautet: Kann Frauenhandel zum Zwecke der Prostitution als private Strategie der Anpassungen ökonomische Globalisierungsstrategien verstanden werden? Die Frage ergibt sich aus folgenden Annahmen: Prostitution entspricht einer Ökonomisierung der Geschlechtsbeziehungen auf der Grundlage hierarchischer Geschlechterbeziehungen. Die Ökonomisierung der Geschlechtsbeziehung entwertet die sexuelle Integrität und tangiert damit die Menschenwürde. Somit wird Menschenrecht verletzt. Wenn bei der Verletzung von Menschenrecht Dritte beteiligt sind, ist die Intervention von lokalem Strafrecht legitimiert.
Die vorliegende Arbeit stellt sich die Aufgabe, Frauenhandel auf dem Horizont des Rechtsbegriffs im Strafrecht und der Rechtspraxis aus sozialwissenschaftlicher Perspektive zu verstehen und damit einen Beitrag zur Rechtssoziologie zu leisten. Untersucht werden historisch diskursive Zusammenhänge sowie die heutige soziale Verortung der Praktiken und Diskurse um Frauenhandel und Prostitution. Dabei geht es vor allem darum, im Rahmen von soziologischen Ansätzen jene gesellschaftlichen Strukturen zu rekonstruieren, welche die Phänomene um Frauenhandel und Prostitution hervorbringen, und ihre Position im sozialen Raum zu definieren. Ziel ist es, den Blick für diskursive Zusammenhänge und innovative gesellschaftliche Regelungen im Umfeld von Frauenhandel und Prostitution freizulegen, um Ansätze von Praktiken entwickeln zu können, die mit demokratisch-emanzipatorischen Werten wie soziale Gerechtigkeit, Stabilität und Menschenwürde vereinbar sind.

Politische Instanzen
Frauenhandel ist als globales Problem erkannt und hat Aufnahme in die politische Agenda gefunden. Im deutschsprachigen Raum wurde Frauenhandel in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts zunächst von entwicklungspolitischengagierten und frauenbewegten universiträren Kreisen als politisches Problem wahrgenommen. Ausgangspunkt war die Auseinandersetzung mit dem Phänomen des Sextourismus, der Heiratsmigration und der Migration von Frauen in die Prostitution und in andere illegale oder informelle Beschäftigungsverhältnisse. Es entstanden Frauenprojekte mit dem Ziel, Massnahmen voranzutreiben, die präventiv wirken und die Situation der Frauen verbessern sollten. Die Projekte vernetzten sich national und international, es wurden Berichte publiziert oder von Regierungsorganisationen in Auftrag gegeben. Seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeugt eine Fülle von Resolutionen, Konventionen, Übereinkommen, Empfehlungen und Programmen, die von internationalen Organenen und Organisationen formuliert werden, von den Bestrebungen auf politischer und strafrechtlicher Ebene, Frauenhandel zu bekämpfen sowie durch Entwicklungsprojekte in den Herkunftsländern der Prostitutionsmigration vorzubeugen.
Auf nationaler und internationaler Ebene wird eine Debatte um die Definition von Frauenhandel ausgetragen. (2) Während die Regelung zur Bekämpfung des Frauenhandels für EU-Mitgliedstaaten zwar rechtlich verbindlich ist, bleibt die Umsetzung durch die Gesetze und Verordnungen der Souveränität der einzelnen Staaten überlassen, was die Frage nach Definitionen und Interpretationen auf eine andere Ebene verlagert. Damiet bieten national unterschiedliche Gesetzgebungen, Rechtsprechung und Praktiken der Strafverfolgung eine uneinheitliche Grundlage zur grenzüberschreitenden Bekämpfung des international und transnational auftretenden Phänomens Frauenhandel, wobei in vielen Ländern noch nicht einmal der Straftatbestand Menschenhandel besteht. Gleichzeitig bestätigen verschiedene Quellen die Korrumpierbarkeit von Strafverfolgungsbehörden und juristischem Apparat in Staaten des ehemaligen Ostblocks und vereinzelt auch in Deutschland und der Schweiz, was die Bekämpfung von Frauenhandel erschwert. (3)
Dem Fehlen einer einheitlichen Definition von Frauenhandel entspricht die fehlende Harmonisierung der Gesetzeslage, ohne die eine Strafverfolgung meist an der Landesgrenze Halt machen muss, denn ein Antrag auf Auslieferung kann nur dann mit Aussicht auf Erfolg gestellt werden, wenn der Anklagepunkt in beiden Ländern eine Straftat darstellt.

Nationale Gesetzgebung
Referenz für die Ebene der nationalen Gesetzgebung ist das schweizerische Sexualstrafrecht. Zu Beginn der neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts wurde der 5. Titel des Strafgesetzbuches (StGB) „Strafbare Handlungen gegen die sexuelle Integrität“ total revidiert. Anlass zur Revision gaben Normen, denen ein unzeitgemässes Verständnis von Sexualität zwischen Eheleuten zugrunde lag, insbesondere Gewalt in der Ehe, aber auch weitere Normen, die einer modernen Auffassung von Sexualität nicht mehr entsprachen, wie zum Beispiel die Regelung der Homosexualität.
Die Reform des Sexualstrafrechts stellte mit Art. 195 StGB die Förderung der Prostitution und mit Art. 196 StGB den Menschenhandel unter Strafe. Art. 195 StGB trat an die Stelle der früher strafbaren Zuhälterei. Er macht nicht die Prostitution an sich strafbar. Er schützt unmündige Personen und Personen, die der Prostitution zugeführt werden sowie die Handlungsfreiheit der Prostituierten. Art. 196 StGB schützt Personen, die unter Beeinträchtigung ihrer Autonomie der sexuellen Ausbeutung zugeführt werden. Trotz der Modernisierungsbemühungen im Rahmen der Revision des Sexualstrafrechts wurde der altertümlich anmutende Begriff der Unzucht zu lasten einer operationalen Definition sexueller Ausbeutung beibehalten. Die Titelmarginale Menschenhandel ist problematisch, da der Artikel nicht den Handel mit Kindern, etwa zur Adoption, oder den Handel mit Arbeitskräften, etwa im Zusammenhang mit illegaler Einwanderung, unter Strafe stellt. Im Zentrum des Sinns der Norm steht jedenfalls der so genannte Frauenhandel.

Lehre
Lehre und Rechtstradition werfen Fragen zur Rechtspraxis bezüglich der neuen Sexualstrafrechtsartikel auf. Die Qualifizierung des Tatbestandes Menschenhandel orientiert sich einerseits am Schutzgedanken in den Bestimmungen des Ausführungsgesetzes zu den internationalen Übereinkommen zwecks Bekämpfung des Frauen- und Kinderhandels von Anfang des letzten Jahrhunderts, räumt aber der Handlungsfreiheit der Prostituierten unter Berufung auf ihre „sexuelle Selbstbestimmung“ einen gewichtigen Stellenwert ein. Damit wird das Moment der Freiwilligkeit und des Einverständnisses der Betroffenen zum entscheidenden Kriterium – zu Lasten des Schutzgedankens vor sexueller Ausbeutung. Während die Bundesrätliche Botschaft auch Prostituierte schützen will, die voll einverstanden sind (zum Beispiel das Etablissement zu wechseln, Botsch. 1086) sind die Lehrmeinungen dazu kontrovers.

Rechtsprechung
Auf der Ebene der Rechtsprechung haben diese Kontroversen über die Auslegung des Menschenhandelsartikels Folgen, denn die Rechtsprechung tut sich schwer mit der Anwendung des Menschenhandelsartikels. Dies hat verschiedene Gründe. Zunächst dient den meisten Richtern die Verletzung der „sexuellen Selbstbestimmung“ als Kriterium, das „Ausnützung sexueller Handlungen“ qualifiziert. Dabei steht dieses Kriterium, das der liberalen Idee des Geschäfts nachempfunden ist, bei dem gleichgestellte Partner nach Gutdünken ein Geschäft abschliessen, im Widerspruch zu Verhältnissen, wie sie real meist Vorliegen: Der Begriff „sexuelle Selbstbestimmung“ ist in diesem Zusammenhang problematisch, da Selbstbestimmung im Sinne einer ökonomischen Entscheidungsfreiheit, einen Vertrag abzuschliessen oder nicht, in den meisten Fällen von Prostitutionsmigration ausserhalb der Reichweite der Betroffenen liegt – und zwar unabhängig von einer postulierten oder deklarierten Freiwilligkeit.
Dem Widerspruch zwischen der „sexuellen Selbstbestimmung“ und dem Schutzgedanken des Menschenhandelartikels begenet die Spruchpraxis von Schweizer Gerichten mit dem Postulat, die effektive Freiwilligkeit von einer bloss situativen Zustimmung zu unterscheiden – angesichts der philosophischen Dimension dieser Aufgabenstellung ein schwieriges Unterfangen!
Da der Gesetzestext die strafbare Beschränkung der Handlungsfreiheit einer Person, die Prostitution betreibt, im Tatbestand „Förderung der Prostitution“ formuliert und näher ausführt, stützt sich die Rechtsprechung im Umfeld von Frauenhandel meistens auf diesen Artikel des Strafgesetzbuches (Art. 195 StGB). Dabei sind Parameter zur Bestimmung der Handlungsfreiheit, etwa Pass- und Geldentzug, Vorenthalten des vereinbarten Lohns, Einsperren, Überwachen oder psychischer und physischer Druck relevant. Allerdings können diese Kriterien von der Rechtsprechung ebenso als „normale Arbeitsbedingungen interpretiert werden, wenn sie einer „gewissen Krassheit“ entbehren: nämlich als Präsenzzeiten, Kost und Logis im Etablissement, Lohnabrechnung am Monatsende, Provisionen für den „Arbeitgeber“ und „Arbeitvermittler“, Abzahlung von Reisekrediten, sichere Aufbewahrung von Wertgegenständen und Dokumenten, sicherer Begleitschutz von Chauffeuren bei Escort-Service etc. (Bundesgerichtsurteil 6S. 765)
Falls die „Arbeitsbedingungen“ also einer „gewissen Krassheit“ entbehren und Prostituierte nicht als Opfer massiver Gewaltanwendung, Freiheitsberaubung, Nötigung etc. erkannt werden können, wird ausländischen Personen, die sich ohne erforderliche Aufenthaltspapiere oder Arbeitserlaubnis in der Schweiz prostituieren, illegaler Aufenthalt und illegale Erwerbstätigkeit angelastet. Grund genug, sie wegen Verstosses gegen das Ausländergesetz (ANAG, SR 142.20) zu kriminalisieren und als Täterinnen mittels richterlicher Massnahmen meist sofort des Landes zu verweisen.
Diese Praxis ist nicht nur in der Schweiz und in anderen westeuropäischen Ländern, sondern auch in osteuropäischen Ziel- und Transitländern üblich. Schlepper oder Händler, die vom Ausland aus operieren oder deren Aktivitäten im Inland nicht unter Strafe stehen oder aus anderen Gründen nicht verfolgt werden, entgehen so einer Starfverfolgung. Ansässigen Zuhältern oder Bordellbesitzern mit entsprechender Arbeits- und Aufenthaltsbewilligung ist oft schwer der Prozess zu machenda die Zeuginnen den Gerichten nicht mehr zur Verfügung stehen, so dass sie nicht selten nach dem gleichen Gesetz (ANAG) mit „Beschäftigen von Personen ohne Arbeitserlaubnis“ mit einer Busse davonkommen oder, wenn es doch zum Prozess kommt in dubio pro reo von der schweren Straftat Menschenhandel freigesprochen werden.

Migrationspolitik
Die Schweiz kennt weder eine Migrations- noch eine Integrationspolitik im engeren Sinne. Die entsprechende Politik muss als Zulassungspolitik bezeichnet werden. Darunter fällt auch die Problematik der Prostitutionsmigration. Richtlinie dieser Zulassungspolitik ist die Beschränkung der Zahl der ausländischen Personen in der Schweiz, was früher in erster Linie mit Kontingenten für neu einreisende und anwesende ausländische Arbeitskräfte geregelt wurde. Berücksichtigt werden in erster Linie die Interessen auf dem Arbeitsmarkt wobei inländischen Arbeitskräften bis von kurzem eine Vorrangstellung eingeräumt wurde. Die zweite gesetzliche Grundlage bildet also das ANAG (SR 142.20).

Fussnoten
(1) Kersten Joachim (1999): Kulturwissenschaftliche und sozialkriminologische Anmerkungen, in Höffe, Otfried (1999): Gibt es ein interkulturelles Strafrecht? Frankfurt/M: Suhrkamp, S. 143
(2) UNO-Menschenrechtskonferenz, Wien 1993, erklärt die Frauenrechte zu Menschenrechten und definiert den „Internationalen Frauenhandel“ als ein Form geschlechtsspezifischer Gewalt. Sie verlangt ihre Eliminierung auf wirtschaftlichem Gebiet, durch Entwicklung und mit Hilfe der nationalen Gesetzgebung. Die Weltfrauenkonferenz, Bejing 1995, erweiterte in der Aktionsplattform die Definition von Frauenhandel, indem sie Frauenhandel nicht ausschliesslich auf Prostitution reduziert, sondern auch andere aktuelle Formen des Frauenhandels mit einschliesst (Heiratshandel, Handel mit Arbeitskräften für „informelle“ Arbeit). Resolutionen des Europäischen Parlaments 1989, 1993, 1996: Das traditionelle Konzept von Frauenhandel zum Zwecke der prostitution wird zugunsten einer weiter gefassten Formulierung aufgegeben. Europarat 1991: Seminar über „Zwangsprostitution und Menschenhandel als Verletzung der Menschenrechte und Menschenwürde“. Gründung einer Expertengruppe, die Frauenhandel anstelle von Menschenhandel setzt.
(3) Private Communication von Frank Ledwige (2001). OSCE Presence in Albania, Tirana. „Informell gibt es eine Tarifliste für Verbrechen. Nur wer kein Geld hat, sitzt wegen Mordes oder Frauenhandels im Gefängnis.“ (Aus dem Englischen von der der Autorin). Dazu auch: Review of Albanian Legislation on Trafficking in Human Beings (April 2001), Tirana OSCE, Office of the legal counselor; Juchler, Jakob (2000): Zum Kontext der postsozialistischen Länder. Zürich: unveröffentlichtes Manuskript.
Hier steht die Zählmarke der ProLitteris.

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