Interdisziplinäre Rechtsforschung – Lottenbach Luzern

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Samantha Lottenbach

Legitimitätsdefizit des Gewaltmonopols? Die Problematik des staatlichen Zwangshandelns am Beispiel der Massenfestnahme vom 1. Dezember 2007 in Luzern

Zusammenfassung

Empirische Grundlage dieser Studie bildete die am 1. Dezember 2007 im Luzerner „Vögeligärtli“ von der Stadtpolizei Luzern durchgeführte Aktion gegen 245 Teilneh­mende einer nicht bewilligten Demonstration. Während der Einsatz aus rechtlicher Perspektive vertretbar und rechtens gewesen sein soll, stellt sich die Frage, welchen Ein­druck die Behandlung bei den Betroffenen hinterließ. Folgt man einer straf­zwecktheoretischen Überlegung, so hätte die Verhaftung und der Arrest bei den Be­troffenen ihr Unrechtsbewusstsein hinsichtlich ihres Vergehens schärfen und sie künftig von ähnlichen Handlungen abhalten müssen.

Die Ergebnisse der empirischen Analyse von 29 Gedächtnisprotokollen und fünf halbstandardisierten Interviews mit Betroffenen zeigen jedoch, dass diese Präventionsabsicht hinter dem staatlichen Zwangshandeln nicht wie intendiert realisiert werden konnte. Vielmehr wurde der von der Sicherheitsdirektion angeordnete Polizeieinsatz als illegitim empfunden, was sich negativ auf die Haltung der Betroffenen gegenüber den staatlichen Behörden auswirkte. Die persönlichen Konsequenzen, die die Betroffenen aus den Ereignissen zogen, fallen individuell sehr unterschiedlich aus: Sie reichen von Ankündigungen eines verstärkten Widerstandes über Ohnmacht und Frustration bis hin zu Resignati­on und Rückzug.

Legitimacy deficit of the state monopoly on violence? The problematic nature of coercive state actions using the example of the mass arest in Lucerne on 1st December 2007

Summary

This empirical study was based on a police operation against 245 demonstrators tak­ing part in an unauthorized demonstration in Lucerne, Switzerland on 1st December, 2007. Although the police operation ought to have been legally justifiable, the ques­tion of what impression the treatment left on the demonstrators remains. According to a theory of deterrence of punishment, the arrest, and subsequent custody of demonstrators, should have fostered a sense of wrong-doing thus deterring them from similar future actions.

The result of this study – which was based on 29 personal accounts, and five semi-standardised interviews with the demonstrators involved, indicate that the deterrence intended by this officially-ordered act was not successful. Those involved considered the police operation to be illegitimate, which resulted in a negative attitude towards public authorities. Experiences reported differ from individual to individual; ranging from resistance and helplessness, to resignation and retraction.

1. Einleitung

Im Dezember 2007 wurde durch die Luzerner Polizei unter enormem Personaleinsatz eine nicht bewilligte Versammlung aufgelöst. Die Polizei nahm kurzum 245 Perso­nen fest, was dem Total der eingekesselten Versammlung entspricht, und stellte sie für 6-8 Stunden in der Zivilschutzanlage „Sonnenberg“ unter Arrest. Ein Akt, der für Schlagzeilen sorgte und Fragen nach der Rechtfertigung und der Legitimität eines solchen Ein­satzes laut werden ließ.1

Staatliches Zwangshandeln muss legal und legitim sein. Dies bedeutet einerseits, dass die Handlungen über Gesetze begründet und in ihrer Art und in ihrem Ausmaß begrenzt sein müssen. Andererseits ist der Staat aber auch auf die Befolgung der von ihm gesetzten Regeln und Normen angewiesen. Legitimität stellt für die staatlichen Autoritäten somit einen Balanceakt dar: Ein Balanceakt einerseits zwischen Akten der sozialen Kontrolle und Machtdemonstration und andererseits einer gewissen Sen­sibilität gegenüber dem Empfinden der Bevölkerung. „Legal authorities“, so Tyler (1990: 71) „must restrict activities of those over whom they exercise power, but at the same time their effectiveness depends ultimately on their ability to secure volun­tary public compliance with their directives.“

Dieser zweite Aspekt, die „public com­pliance“ von Regeln und Gesetzen, soll im Folgenden analysiert werden. Die Daten­basis für diese empirische Studie entstand im Kontext des oben genannten Er­eignisses in Luzern. Die untersuchte Forschungshypothese lautete: Das als illegitim empfundene staatliche Gewalthandeln führt nicht wie beabsichtigt zu einer Vermin­derung individueller Gewaltbereitschaft, sondern zu einer Verschärfung des Pro­blems. Nach einer kurzen (2) theoretischen Grundlegung des Problems wird (3) die verwendete Datenbasis sowie das Untersuchungsdesign dargelegt. Anschließend werden (4) die Ergebnisse der empirischen Studie vorgestellt und (5) ein Fazit gezogen.

2. Die Legitimität des staatlichen Zwangshandelns: Rechtens und richtig

Die Legalität respektive Legitimität des Polizeieinsatzes vom 1. Dezember 2007 kann systematisch betrachtet auf zwei Ebenen begründet werden: Auf der operativen Ebene wird die Rechtfertigung des Polizeieinsatzes in der rechtlichen Ermächtigung gesehen (2.1). Auf der theoretischen, zweckorientierten Ebene findet ein derartiger Eingriff seine Legitimation in präventionstheoretischen Überlegungen (2.2). In der subjektiven Dimension stellt sich jedoch die Frage, wie die Betroffenen diese zwei Ebenen wahrgenommen haben (2.3 und insbesondere 4).

2.1 Staatliches Zwangshandeln: Ermächtigung durch Gesetz und im Rahmen des Rechts

Max Weber nennt jene menschliche Gesellschaft Staat, „welche innerhalb eines be­stimmten Gebietes (…) das Monopol legitimer physischer Gewaltsamkeit für sich (mit Erfolg) beansprucht.“ (Weber 1972: 822,; vgl. ders.: 29f.) So gesehen ist das Gewaltmonopol kein Attribut politischer Herrschaft, sondern das Attribut einer be­stimmten Staatsform. Weber charakterisiert das Monopol der legitimen physischen Gewaltsamkeit als herausragendes, geradezu definierendes Merkmal des modernen Staates.

Staatliche Gewalt wird, um legitim zu wer­den, vorgängig politisch kaserniert. Sie darf nur innerhalb bestimmter gesetzlicher Grenzen ausgeübt werden, ihr Einsatz muss rechtlich und tatsächlich kalkulierbar bleiben. Gleichzeitig müssen die Mittel und Maßnahmen der staatlichen Gewalt selbstverständlich geeig­net sein, um die be­absichtigten Ziele erreichen zu können. Legitimes staatliches Zwangshandeln wird durch Gesetze ermöglicht und gleichzeitig auch durch Gesetze beschränkt. Diese Grundsätze rechts­staatlichen Handelns sind in der Verfassung verankert und werden in spezielleren Gesetzen durch die Formulierung von Bedingungen, unter denen der Staat zum Mit­tel der Gewalt greifen darf, konkretisiert. Die Vorkehrungen der Ver­fassung setzen das Gewaltmonopol voraus und versuchen es gleichzeitig auf der Ausübungsebene zu zähmen.

Das staatliche Monopol auf legale Gewaltanwendung (Weber 1972) ist kein Selbst­zweck. Es ist eine zivilisatorische Entwicklung, dessen Zielsetzung die Friedens­staatlichkeit ist (Starck 1995), also die Garantie einer weitgehend friedlichen Sozial­ordnung.2 Der Einsatz des Zwangsmittels zur Aufrechterhaltung einer rechtlichen Ordnung birgt den Anspruch in sich, ein legitimes Zwangsmittel zu sein, welches auf legitime Art und Weise zur Anwendung kommt. Das Mono­pol auf legale Gewaltan­wendung hat also zwei Dimensionen: Eine der Legalität und eine der Legitimität. Legitimität bezieht das staat­liche Gewaltmonopol aus seiner funktionalen Bedeu­tung: Indem das organisierte Gemeinwesen Staat rechtmäßige Gewaltausübung bei sich konzentriert, sollen gesellschaftliche Gewaltereignisse mi­nimiert werden. In die­ser „Friedensfunktion des Staates“ (Starck 1995: 231) ist sozu­sagen die äußere Dimension des Monopols legiti­men staatlichen Gewalthandelns zu sehen.

Die nach innen gerichtete Dimension der Legitimitätserzeugung ist die Ein­bettung des staatli­chen Gewaltmonopols in Legali­tät. Obschon Legalität auch die Dimension der Legi­timität speist, stellt sie „nur“ eine notwendige Bedingung für legitimes staatliches Gewalthandeln dar. Erst aus der – erfolgreich umgesetzten – Friedensfunktion bezieht staatliches Gewalthandeln seine hinreichende Legitimitäts­bedingung3. Das Mittel der Gewalt­anwendung kann somit nur als rechtens bezeich­net werden, wenn es legal und le­gitim ist. Diese Funktionsbe­stimmung hat Folgen für die Instrumentie­rung und den Einsatz der legal autorisierten, beim Staat konzen­trierten Gewalt.

Wie aus der Pressemitteilung der Stadt Luzern vom 30. November 2007 hervorgeht, war die Stadtpolizei im Vorfeld über den Demonstrationsaufruf der „Aktion Frei­raum“, Organisatorin der Kundgebung, informiert und stand in Kontakt mit den Veran­staltern. Diese zeigten sich jedoch nicht kooperativ und lehnten die angebotene Ver­schiebung der Kundgebung auf ein späteres Datum ab. Vor diesem Hintergrund rechtfertigte der Stabschef der Stadtpolizei Luzern den Einsatz des Polizeiaufgebots folgendermaßen: „Die Veranstalter hatten kommuniziert, dass über 500 Teilnehmen­de kommen. Die Polizei schätzt insgesamt 800 Teilnehmende und Sympathisanten, davon traf sich ein Teil im Vögeligärtli.

Die Veranstalter hatten der Polizei mehrfach angekündigt, man könne bei einer Auflösung ‘nicht dafür garantieren, dass Einge­kesselte und außenstehende Sympathisanten friedlich bleiben’“. Operativ gesehen er­achtete die Sicherheitsdirektion der Stadt Luzern den Einsatz im Vorfeld als sicher­heitspolitisch notwendig und gerechtfertigt. Die Ankündigung, dass sich rund 500 zum Teil gewaltbereite Personen zu einer nicht bewilligten Demonstration im Vöge­ligärtli versammeln würden, reiche als Grundlage, um eine Polizeiaktion im stattge­fundenen Ausmaß rechtlich zu legitimieren. Zudem wurden, so der Stabschef der Stadtpolizei Luzern, während des Einsatzes die rechtlichen Rahmenbedingungen ein­gehalten: „Der Einsatz und das Polizeiaufgebot waren aus unserer Sicht angemessen. (…) Trotz schwieriger Umstände dauerte der Polizeigewahrsam maximal 11 Stun­den. Damit wurden die gesetzlichen Möglichkeiten von 24 Stunden deutlich unter­schritten.“

2.2 Staatliches Zwangshandeln: Der fremde Zweck

Die öffentliche Gewalt wird dem Staat, so etwa Grimm (2006), nicht als Selbstzweck eingeräumt, sondern sie muss im Interesse des Gemeinwohls stehen. „Daraus zieht sie ihre Legitimität (…). Da die Staatsgewalt ihren Zweck nicht in sich trägt, sondern außerhalb ihrer selbst in dem jeweils näher zu bestimmenden Gemeinwohl findet, ist sie freilich auch legitimationsbedürftig.“ (Grimm 2006: 19)

Somit muss nebst der rechtsstaatlichen Rechtfertigung des Einsatzes – einer Ermäch­tigung durch Gesetz und einer Ausführung im Rahmen des Gesetzes – die Festnahme und Arrestierung von 245 Personen auch einen Zweck erfüllen, der diese Handlung in den Dienst des Gemeinwohls stellt. In rechtstheoretischer Perspektive kann diese Rechtfertigung in einer Präventionsabsicht gefunden werden. Der Zweck von Sank­tionen besteht – folgt man den Ansätzen der relativen Strafzwecktheorien – in der Absicht, potentielle Delinquenten von (weiteren) Normbrüchen abzuhalten und so künftige Straftaten zu verhindern. Über diese Generalprävention sollen alle Rechts­adressaten erreicht werden, während die Spezialprävention gezielt Individuen adres­siert.

Generalprävention4 bedeutet soviel wie „Vorbeugen gegenüber der Allgemeinheit“. Sie richtet sich nicht an den einzelnen Täter, sondern an sämtliche Rechtsadressaten als potentielle Normbrecher (vgl. Jakobs 1991: 13; Roxin 2006: 6). So wird ange­nommen, dass die der Norm angegliederte Sanktionsdrohung zusammenhängend mit der tatsächlichen Exekution der Strafe im Bedarfsfall entweder eine normstabilisie­rende Bestärkung des Rechtsbewusstseins der Adressaten bewirkt (positive General­prävention),5 oder aber abschreckend auf potentielle Delinquenten wirkt (negative Generalprävention).

Die Spezialprävention bezieht sich hingegen nicht auf die gesamte Rechtsgemein­schaft, sondern auf den einzelnen Delinquenten. Somit soll die Verhinderung von normabweichendem Verhalten durch Einflussnahme auf den einzelnen Täter erzielt werden. Es geht also um ein „Vorbeugen im Einzelfall“.6 Während die positive Spe­zialprävention versucht, durch Therapie, Behandlung oder Erziehung die Adressaten zu einem bestimmten Verhalten zu motivieren und so die Wiedereingliederung von Delinquenten in die Gesellschaft zu fördern, liegt der Zweck einer negativ-spezial­präventiven Behandlung darin, das künftige Täterverhalten durch Abschreckung (im konkreten Fall also: Festnahme, Arrest, Verhör etc.) zu modifizieren oder die Delin­quenten gar „unschädlich“ zu machen, indem sie aus dem Verkehr gezogen werden7. In jedem Fall soll die betreffende Person künftig davon abgehalten werden, neuerlich Normen zu brechen.

Sowohl im Fall der Generalprävention als auch der Spezialprävention lautet die Bot­schaft: Normabweichendes Verhalten lohnt sich nicht. Diese Botschaft wird im Falle der Spezialprävention an bestimmte Personen adressiert. Durch die Verhaftung sol­len die Beteiligten die Erfahrung machen, dass Normverstöße sich nicht lohnen und entsprechend von künftigen Regelverstößen abgehalten werden. Ob die Adressierung jedoch erfolgreich sein wird, bleibt (zunächst) offen. Für den Fall in Luzern wird die­ser Frage im Kapitel 4.2 nachgegangen.

2.3 Staatliches Zwangshandeln: Das subjektive Erleben

Während in den zwei vorangegangenen Unterkapiteln eine rechtstheoretische Per­spektive auf das staatliche Zwangshandeln respektive auf die Begründung des legiti­men Gewaltmonopols eingenommen wurde, soll hier die subjektiv geprägte Perspek­tive der Beteiligten ins Blickfeld genommen werden: Ihre Haltungen und damit zusammenhängend der Einfluss bestimmter Erfahrungen auf diese Haltungen (Tyler 1990, 95ff.). Vor diesem Hintergrund sollen die normativen Erwartungen und Ent­täuschungen der von der Polizeimaßnahme betroffenen Personen im Zentrum stehen.

Recht formuliert normative Standards, deren Verbindlichkeit und Durchsetzung die Rechtsadressaten erwarten dürfen. Nebst rechtlichen Normen dienen auch soziale Normen und psychische Strategien als Orientierung für bestimmte Erwartungen. So geht beispielsweise Luhmanns zentrale These bezüglich der Stabilität und der „Ord­nung“ sozialer Interaktionen und sozialer Systeme davon aus, dass eine stabile Ord­nung sich nicht in erster Linie auf das Verhalten gründet, sondern sich vielmehr auf stabile Verhaltenserwartungen (Erwartungserwartungen) bezieht: „Denn Sicher­heit im Erwarten von Erwartungen, sei sie mit Hilfe psychischer Strategien, sei sie mit Hilfe sozialer Normen erreicht, ist eine unentbehrliche Grundlage aller Interak­tion und sehr viel bedeutsamer als die Sicherheit der Erfüllung von Erwartungen.“ (Luhmann 1972: 39)

Erwartungserwartungen können aber aus verschiedenen Gründen oder Anlässen ent­täuscht werden oder scheitern. Diesem Risiko entgegenzuwirken dient das Rechts­system in seiner Funktion, Erwartungsstabilität zu generieren. Auf die Gültigkeit von rechtlichen Normierungen, insbesondere wenn sie mit Sanktionsdrohungen verbun­den sind, darf man sich verlassen – auch wenn täglich gegen genau diese Art von Normen verstoßen wird (Normen als kontrafaktisch stabilisierte Verhaltenserwartun­gen, Luhmann 1987: 43, Estermann 20028). Die Durch­setzung von Gesetzen und somit die Ahndung von Gesetzesbrüchen könnte als conditio sine qua non angesehen werden, um überhaupt bei der Bevölkerung Folgebereitschaft oder Normtreue zu generieren. Denn der demokratische Rechtsstaat, so Freiburghaus et al. (2005: 42) „kann zwar von einer generellen Folgebereitschaft der Bürgerinnen und Bürger aus­gehen; diese bleibt allerdings nur garantiert, wenn diejenigen, die die Gesetze bre­chen, verfolgt und bestraft werden.“ Dieser Aussage zufolge wohnen sowohl der Pö­nalisierung als auch der Strafverfolgung und -vollstreckung insgesamt generalprä­ventive Zwecke inne.

Außer Acht bleiben hierbei kontraproduktive Auswirkungen – sei es auch nur punk­tuelles Scheitern bzw. die Empfindung des Scheiterns der Selbstbindung des staatli­chen Gewaltmonopols – auf subjektive Dispositionen und normative Erwartungen von Beteiligten und Betroffenen. Im Folgenden soll speziell der Frage nachgegangen werden, welche Auswirkungen staatliches Gewalthandeln auf die subjektive Bewer­tung der Legitimität des staatlichen Gewaltmonopols hat.

3. Datenbasis und Untersuchungsdesign

Grundlage für die Einschätzung, ob und wie das staatliche Zwangshandeln das Ver­halten der Beteiligten beeinflusste, bilden 29 Gedächtnisprotokolle. Sie wurden mit Bekanntwerden der Existenz einer Sammelstelle für Protokolle aus jeweils eigenem Antrieb unmit­telbar nach dem Ereignis verfasst. Ziel der Protokolle war es, den Ab­lauf der Ge­schehnisse genau wiederzugeben, um so eine möglichst situationsgetreue Dokumen­tation verfügbar zu machen. Um Ansätze konkreter Einstellungs- oder Ver­haltensänderungen der Beteiligten evaluieren zu können, wurde acht Monate nach dem Ereignis mit fünf der Beteiligen ein halbstandardisiertes Interview durchgeführt.

In der ersten Phase der Dokumentenanalyse wurden anhand der qualitativen Metho­de der objektiven Hermeneutik nach Oevermann (1986; auch Wernet 2000) Katego­rien herausgearbeitet, die Aufschluss geben über die von den Beteiligten subjektiv zuge­messene Bedeutung der Ereignisse vom Dezember 2007. Im Rahmen dieses Verfahrens wurden methodisch kontrollierte Fallrekonstruktionen erarbeitet, die die Erschließung der Deutung der sozialen Wirklichkeit der Festgenommenen ermög­lichten. Ziel dieser Protokollanalyse war es, aus den subjekti­ven Bedeutungsexplika­tionen induktiv Kategorien zu bilden, die Aufschluss über die Ef­fekte der erlebten Maßnahmen bei den Beteiligten geben können.

In den vertiefenden Interviews berichteten die Befragten erneut über ihre Erlebnisse vom Dezember 2007. Es ging darum, die in der Dokumentenanalyse erarbeiteten Ka­tegorien zu verdichten. Eine geeignete qualitative Zugangsweise bildeten halbstandi­sierte Interviews, die eine Rekonstruktion der subjektiven Ansichten und Theorien der Befragten ermöglichten. Die anhand der Methode der objektiven Hermeneutik in­duktiv erarbeiteten Kategorien lieferten die Grundlage für die Ausarbeitung des In­terview-Leitfadens. Durch den Leitfaden wurden die Befragten angehalten, dar­über Auskunft zu geben, welche Effekte die Wahrnehmung von Polizei und von staatli­cher Autorität bei ihnen ausgelöst habe.

Der Interview-Leitfaden fokussierte zudem auf die sich aus der Dokumentenanalyse ergebenden zentralen Aspekte und beleuch­tete diese aus verschiedenen Perspektiven. So konnte das Datenmaterial insbesonde­re hin­sichtlich des Legitimitätsempfindens der Betroffenen und ihrer Handlungs- und Hal­tungseinschätzung verdichtet werden. Zusätzlich wurden die Interviewten expli­zit danach gefragt, wie sie die gemachten Erfahrungen im Nachhinein einschätzten und ob sie an sich selbst konkrete Veränderungen in den eigenen Ansichten und kon­krete Verhal­tensänderungen beobachteten, die in direkter Beziehung zu den Erleb­nissen des Dezembers 2007 stünden.

Bei der Datenerhebung diente der Interviewleitfaden als Orientierungshilfe. Den Be­fragten wurde viel Raum gelassen, sich zu Gegenständen zu äußern, die ihnen beson­ders wichtig erschienen.

Zum Zeitpunkt der Befragung lag das Ereignis rund acht Monate zurück. Die zwi­schen 30 und 40 Minuten dauernden Interviews wurden von Angesicht zu Angesicht geführt und mit einem Voicerecorder aufgezeichnet. Anschließend wurden die Auf­zeichnungen geglättet transkribiert: Füllwörter und abgebrochene Sätze wurden aus­gemerzt. Zudem wurden sämtliche Aussagen von der Mundart in die Schriftsprache übersetzt.

Aus den Transkripten der Interviews wurden induktiv Kategorien entwickelt, welche im Abgleich mit den Ergebnissen der Protokollanalyse zu einem Kategoriensystem geordnet wurden. Auf dieser Grundlage wurden die Daten aus den Interviews und den Dokumenten codiert und in eine fall- und variablenspezifische Matrix eingeord­net. Bei den anschließenden fallvergleichenden Analysen wurden fallorientierte und variablenorientierte Strategien verknüpft und die einzelnen Fälle so auf bestimmte idealtypische Muster hin verdichtet. Diese Rekonstruktion der Deutung der sozialen Wirklichkeit der Betroffenen ergab insbesondere in den Kategorien Legitimitätsemp­findung und Präventivwirkung relevante Hinweise auf eine Handlungsveränderung oder zumindest eine Veränderung in ihrer Grundhaltung. Die Ergebnisse der Unter­suchung beider Kategorien werden im folgenden Kapitel dargestellt.

4. Ergebnisse der empirischen Analyse

Die Betroffenen berichteten (4.1) aus ihrer subjektiven Perspektive über ihr Legiti­mitätsempfinden sowie (4.2) über ihre Wahrnehmung der staatlichen Präventionsab­sicht und über die Auswirkungen der Erlebnisse auf ihr Verhalten. Fünf der Betroffe­nen evaluieren zudem in den acht Monate später durchgeführten Interviews ihre unmittelbar nach dem Ereignis in den Gedächtnisprotokollen festgehaltenen Ein­schätzungen.

In der folgenden Darstellung werden Aussagen, die aus den Gedächtnisprotokollen stammen mit einem ‚G‘, jene aus den Interviews mit einem ‚I‘ gekennzeichnet. Die daran anschließende Nummer verweist jeweils auf das konkrete Gedächtnisprotokoll beziehungsweise Interview.

4.1 Legitimitätsempfinden: Erwartungen und enttäuschte Erwartungen

Wie bereits erwähnt, basiert die empirische Untersuchung auf Gedächtnisprotokol­len, die somit die subjektiv geprägten Wahrnehmungen dieser Personengruppe wieder­geben.

Hier geht es (noch) nicht um Verhalten, sondern um Erwartungen und Haltungen. Damit zusammenhängend spielt der Einfluss von gewissen Erfahrun­gen auf die Hal­tung eine wichtige Rolle. Es stellt sich die Frage, ob das Handeln der Polizei (als der exponierte Teil des staatlichen Gewaltapparates) als legitim (oder: erwartungskon­form) empfunden wird. Handelt die Polizei in den Augen der Betroffe­nen erwar­tungskonform?

Das Legitimitätsempfinden hängt – so geht es aus den Protokollen hervor – stark damit zusammen, ob das Vorgehen der Polizei in der entsprechenden Situation sub­jektiv als legal und der Situation angemessen empfunden wird: das Erlebte muss mit den eigenen Erwartungen übereinstimmen.

Die häufig artikulierte Überraschung über den Aufmarsch einer Armada von Polizisten in Kampfmontur sowie die Einkesse­lung und konsequente Festnahme restlos aller Anwesenden – ohne Rücksicht auf die Friedfertigkeit der Versammelten – lässt deutlich werden, wie stark das Erlebte von der Erwartung der Betroffenen abwich. Es entsprach nicht dem, was sie als „der Situation ange­passt“ und entsprechend als „legitim“ empfunden hätten. „Ich verstehe es,“ so eine Betroffene „dass die Polizei gegen eine unbewilligte Demonstration irgendwie vor­gehen muss, aber es ist eine Frage der Art und Weise, wie sie vorging! Sie hätte vor allem den Unbeteiligten die Möglichkeit geben müssen, sich raus halten zu kön­nen …“ (G6) Ein großer Teil der Aussagen aus den Gedächtnisprotokollen zeigt denn auch, dass in den Augen der Betroffenen die Polizei eine ihrer Pflichten verletzte, als sie ohne Vorwarnung und ohne den Beteiligten eine Möglichkeit zum Rück­zug zu gewähren, anfing, die Versammelten einzukesseln und festzunehmen.

Die Beteiligten stellen also an die Polizei den Anspruch, ihre Macht im Rahmen des Legalen situationsangepasst auszuüben. Was die Beteiligten als „legal“ betrachten und somit als legitim akzeptieren, weicht von den formaljuristischen Legalitätsinter­pretationen ab. Was in der Situation „verhältnismäßig“ ist, wird von Personen, die nach eigenem Empfinden friedlich im Stadtpark Kaffee trinken, anders eingeschätzt als von einer Einsatzleitung, die gegen vermeintlich linksradikale Demonstrations­teilnehmer einen Einsatz plant. Entsprechend schildert ein anderer Teilnehmer die Situation: „Dieses wie aus dem Nichts aufgetauchte Polizeiaufgebot hab ich dann noch nicht groß ernst genommen. Dachte die kontrollieren meine Personalien und dann ist gut. Schließlich hab ich ja nichts getan, habe mich nur in einem öffentlichen Stadtpark aufgehalten und einen Kaffee aus einem Plastikbecher getrunken. Ich war noch immer am Reden (…) als plötzlich mehrere Hände mich aus der Menge zerrten und meine Hände hinter dem Rücken zusammen banden.“ (G9)

Wie sich zeigt, ist vor allem die Überraschung, das heißt die Diskrepanz zwischen Erwartung und tatsächlich Erlebtem, ein Indiz dafür, dass das Vorgehen der Polizei nicht als „im Rahmen des Üblichen“ empfunden wird und daher als unrechtmäßig oder illegitim angesehen wird – sei dies im Hinblick auf Ausmaß und Intensität der eingesetzten Mittel oder auf das allgemeine Vorgehen. Eine offizielle Handlung muss als legal empfunden werden, um Akzeptanz und Unterstützung zu erfahren. Im vorliegenden Fall klaffen die Erwartungen und die Geschehnisse weit auseinander, was dazu führte, dass das Vorgehen der Polizei respektive der Einsatz­leitung als „willkürlich“, „Schikane“ und somit als illegitim betrachtet wurde.

Die zweite zentrale Kategorie der Analyse umfasst Aussagen darüber, inwiefern die Beteiligten dem Vorgehen der Polizei einen Sinn zuschrieben, respektive welcher Zweck ihrer Meinung nach die harsche Vorgehensweise hatte und welchen Einfluss das Erlebte auf ihre eigene Haltung zeitigte.

4.2 Präventivwirkungen und Verhaltensmodifikation

Aus den Protokollen konnten hinsichtlich einer allfälligen Präventivwirkung der Po­lizeiaktion zu folgenden Bereichen Aussagen extrahiert werden: Ein erster Aspekt gibt über die Wahrnehmung einer Präventionsabsicht Auskunft. Zweitens wurden die Daten dahingehend untersucht, welche Konsequenzen die Betroffenen unmittel­bar nach dem Erlebnis für sich zogen: Welche Selbsteinschätzung hinsichtlich ihres künftigen Verhaltens halten sie in den Gedächtnisprotokollen fest? Insbesondere die Daten aus den anschließend durchgeführten Interviews geben drittens darüber Auf­schluss, inwiefern die Umsetzung der erwarteten Verhaltensänderungen erfolgte.

Die Gedächtnisprotokolle zeigen, dass die Wahrnehmung einer Präventionsabsicht bei den Betroffenen sehr unterschiedlich ausfiel. Dass hinter der Polizeiaktion ein bestimmter Zweck stehe und dieser Zweck eine Bedeutung haben solle, das wurde von den meisten der Betroffenen unterstellt. Worin jedoch dieser Zweck bestanden haben soll, konnten die Beteiligten nicht benennen. Einige sahen sich als Übungsma­terial für die Polizei missbraucht: „Warum probieren sie so etwas immer an der lin­ken Szene aus? Ich denke ein solches Vorgehen hat Rückhalt in der Bevölke­rung ‚mit denen kann man’s ja machen’.“ (I5) Andere werten die Aktion als eine konkrete Übung für die im Sommer 2008 stattfindende Fußball-Europameisterschaft und wie­der andere sehen die Ereignisse als einen Akt reiner Schikane an.

Jedoch tritt aus einigen der Protokolle ein negativ-spezialpräventiver Aspekt hervor. Unter Bezug auf ihre Beobachtung, dass eher unbeteiligt aussehende Personen und junge Frauen besonders nachdrücklich behandelt worden seien, schildert eine der Festgenommenen ihren Eindruck folgendermaßen: „Es sollte quasi die Botschaft ver­mittelt werden, dass sie so was am besten nie wieder tun.“ (G3) Auch die Aussage eines anderen Beteiligten weist darauf hin, dass die Aktion abschreckend wirken sollte: „Das Schlimmste also war, dass wir die ganze Nacht gewartet haben, unwis­send auf was, wie lange, und was sie mit uns noch machen werden. Über gar nichts wurde informiert. Die ganze Schikane und Abschreckung war echt schockierend.“ (G15)

Die Wirkung, die diese abschreckende Behandlung respektive die Demonstration staatlicher Macht auf die Betroffenen hatte, scheint jedoch anders auszufallen als intendiert: Anstatt durch die erfahrene polizeiliche Maßnahme „Respekt“ vor staat­lich normierten Handlungsvorschriften zu internalisieren, regt sich vielmehr Unver­ständnis, Hohn oder gar Hass gegenüber den Ordnungshütern und den staatlichen Autoritäten. „Hier [im Sonnenberg] wurde dann alles, was nicht niet- und nagelfest war, von den Wänden gerissen und den Polizisten im Gang als Geschenk über­geben.“ (G3) Die Protokolle zeigen, dass Variablen wie „Zweifel an den Fähig­keiten der Polizei“, „Zweifel am Sinn und Zweck des Einsatzes“, sowie die mangel­hafte Informationspolitik während der Festnahme und des Arrests stark dazu beitru­gen, dass die Beteiligten das Fehlverhalten nicht bei sich selbst, sondern bei der Poli­zei oder vielmehr bei der Sicherheitsdirektion der Stadt Luzern sahen.

Die an der Aktion beteiligten Polizisten und insbesondere auch die im Sonnenberg eingesetzten Zivilschützer wurden denn auch von mehreren der Betroffenen als „wil­lenlose Figuren“ respektive als „Handlanger“ bezeichnet. Entsprechend lassen die Aussagen der Betroffenen darauf schließen, dass das Resultat der Individualbehand­lung nicht wie intendiert „Einsicht in das eigene Fehlverhalten“, sondern Unverständ­nis, Wut und Frustration war. Wie aus den Protokollen hervor geht, richteten sich diese negativen Empfindungen jedoch nicht in erster Linie gegen die Polizisten, son­dern gegen die Köpfe der zuständigen Behörde. „Meine Rechte wurden mit Füßen getreten – grundlos! Der Rechtsstaat wurde in der Stadt Luzern scheinbar abge­schafft! Die beiden SP-Sicherheitsverantwortlichen9 (…) sowie die Komman­dant[en] der Stadt- und Kantonspolizei sollten nach diesem Skandal ihren Rücktritt einrei­chen!“ (G9)

Generell geht aus den Protokollen hervor: Die Behandlung durch die Polizei löst bei den Betroffenen entweder das Gefühl des „Ausgeliefert-Seins“ und, damit einherge­hend, der Ohnmacht aus oder verstärkt in ihnen den Wunsch nach aktivem Wider­stand. Was diese neue Wahrnehmung der Polizei und der staatlichen Autoritäten für das tatsächliche künftige Verhalten der Betroffenen bedeutet, darüber können die Protokolle keine Auskunft geben.

Aus den Texten ist weiter ersichtlich, dass die Ereignisse in Luzern die Beteiligten motivierten, über den Staat und seine Funktion nachzudenken. Es bleibt offen, wel­che Konsequenzen diese Reflexion auf das Verhalten des Einzelnen nach sich ziehen werden. Aus den Protokollen sind drei kurzfristige Strategien zu erkennen: Einige der Betroffenen sprechen von einer Radikalisierung ihrer eigenen Einstellung und kündigen verstärkten Widerstand an: „Für uns stellt sich nun die Frage wie man da­gegen Widerstand leisten will. Könnte man sich einen solchen Samstag einfach mal zur Normalität machen (…).“ (G3) Eine zweite Gruppe spricht davon, durch die Er­lebnisse sensibler dafür geworden zu sein, welche Konsequenzen die eigenen Hand­lungen haben können. Diese Sensibilisierung geht mit einer kritischeren Ein­stellung sowohl gegenüber dem Staatsapparat als auch gegenüber der persönlichen Inkauf­nahme von rechtswidrigem Verhalten einher.

So äußert sich eine der Beteilig­ten im Nachhinein, sie nehme zwar noch immer an Demonstrationen teil, informiere sich aber besser über den konkreten Anlass. Eine dritte Gruppe berichtet von einem Gefühl der Ohnmacht und des Ausgeliefert-Seins. So berichtet ein Betroffe­ner, die körperlichen Schmerzen, die er aufgrund der Fesselung mit Kabelbindern davontrug, seien nichts im Vergleich mit den „seelischen Verletzungen, [den] Demüti­gungen und [den] erlebten Ohnmachtsgefühle[n], als völlig unbeteiligte Person derart unmenschlich behandelt worden zu sein!“ (G27) Eine andere Person berichtet davon, kurz nach dem Erlebnis „wirklich geschockt“ gewesen und Selbstzweifeln verfallen zu sein: „Das Verhör hat mich kurzfristig total verängstigt. Ich fragte mich wirklich, ob ich überhaupt noch Primarlehrerin sein könne, oder ob ich kündigen müsse. Später aber habe ich eingesehen, dass ich Beruf und Privates trennen kann. Es besteht kein Inter­essenkonflikt.“ (I2)

Wie sich in den später durchgeführten Interviews zeigte, relativieren sich diese Stra­tegien im Laufe der Zeit. Die Umsetzung der erwarteten Verhaltensänderungen respektive der angekündigten Konsequenzen wird aufgeschoben, das Erlebnis ver­liert an Bedrohlichkeit und somit an Wirkungskraft. Nach acht Monaten Abstand zu den Ereignissen fällt die Beurteilung des Erlebten durch einzelne Betroffene sachli­cher aus. „Der Abstand führt dazu, dass ich weniger emotional bin. Kurz nach dem Ereignis war ich sehr „hässig“ und total emotional. Ich war wütend auf die Polizis­ten. Das kommt jetzt nicht mehr so rüber – obwohl, wenn man darüber spricht, dann kommt es wieder hoch.“ (I1)

Es können nun explizit zwei Ebenen unterschieden werden: Einerseits beziehen sich die Aussagen auf Einstellungsänderungen, andererseits auf Handlungsveränderun­gen, die sich in konkreten Akten manifestieren.

Sämtliche Interviewten berichteten von einer Haltungs- oder Stimmungsänderung. Man ist kritischer gegenüber der Polizei, zeigt Enttäuschung gegenüber den „Offizi­ellen“, aber ist auch vorsichtiger in den eigenen Handlungen. „Ich bin kritischer gegen die Medien geworden. Und auch gegen die Polizei (…). Auch informiere ich mich besser.“ (I1)

Was die Verhaltensmodifikation anbelangt, so kann von keinem eindeutigen Resultat gesprochen werden. Einerseits berichten die Interviewten darüber, dass sich für sie außer dem bereits genannten Stimmungswechsel langfristig eigentlich nichts geän­dert habe. Es resultierten eine kritischere oder auch resigniertere Grundstimmung, jedoch keine Änderung in den konkreten Aktivitäten. „Aber es gab keine Verände­rungen in meiner politischen Sichtweise. Ich bin immer noch interessiert – aber nicht mehr oder weniger aktiv als zuvor.“ (I2) Zudem zeigt sich, dass nebst der zeitlichen Distanz zu den Geschehnis­sen auch der Alltag dazu beiträgt, die kurz nach dem Ereignis gezogenen Konse­quenzen und Vorsätze in den Hintergrund treten zu lassen: „Ich habe mir vorgenom­men, mehr politisch aktiv zu sein – daraus wurde nichts. Ich bin ja jetzt Mutter.“ (I1)

Jedenfalls hinterließ der Eindruck, den die Maßnahmen vom Dezember 2007 in indi­vidueller Weise bei den Beteiligten bewirkten, mit Sicherheit Spuren. Entsprechend kann man in spezialpräventiver Perspektive sagen: Die „Behandlung“ kam an, die Adressierung war erfolgreich. Jedoch ist fraglich, ob der „Erfolg“ nicht Einstellungs­veränderungen provozierte, die in die „falsche Richtung“ gehen beziehungsweise durch die Instanzen nicht angestrebt waren: So wurde das Miss­trauen gegenüber den Behörden gesteigert, zum Teil ist sogar ein verstärkter Aktio­nismus feststellbar. So zeigte sich etwa die Organisatorin der unbewilligten De­monstration, die „Aktion Frei­raum“, im Anschluss an die Geschehnisse vom 1. De­zember 2007 sehr aktiv.10 Gleichzeitig berichteten einige der Betroffenen, nach dem Ereignis „vorsichtiger“ ge­worden zu sein. Mit anderen Worten: Eine Botschaft kommt an – doch zu welcher Deutung die Präventionsbestrebungen bei den einzel­nen Betroffe­nen führen, ist schwer kontrollierbar.

Somit kann weder die These, dass die Intervention zu einer Radikalisierung (Misser­folg der Prävention) noch die Gegenthese, dass sie zu einem Rückzug (Erfolg) auf der Verhaltensebene geführt habe, durch das analysierte Material falsifiziert werden.

5. Fazit

Abschließend kann festgehalten werden, dass die durch die Betroffenen perzipierte Herr­schaftslegitimität aufgrund der Erlebnisse eine kritische Reflexion erfuhr. Wie die ausgewerteten Gedächtnisprotokolle zeigen, empfanden die Beteiligten die Be­handlung durch die Behörden als illegitim und bezogen auf den Anlass als unange­messen: Gehegte Erwartungen und die tatsächlichen Erfahrungen klafften auseinan­der, was zu einem Gefühl des Missbrauchs durch die Behörden führte. Dies wieder­um löste eine Veränderung der Haltung gegenüber den staatlichen Behörden aus. In diesem Stim­mungswechsel hinsichtlich der Bereitschaft, die staatliche Autorität zu respek­tieren, dürfte eine Problematik des Erfolges von präventiven Maßnahmen angelegt sein; denn es darf angenommen werden, dass der oben genannte Aspekt der empfun­denen – oder eben nicht empfundenen – Legitimität staatlichen Zwangshan­delns eine wich­tige Rolle spielt. Wie soll eine Behandlung, die weder Akzeptanz noch Unter­stützung erfährt – ja nicht einmal verstanden wird – die erwünschten (positiven) Wir­kungen zeitigen?

So gesehen kann nicht von einem generellen Legitimitätsdefizit des Gewaltmonopols gesprochen werden, sondern eher von einem Sensibilitätsdefizit der Behörden im Hinblick auf den Einsatz von staatlichen Zwangsmitteln. Auch wenn der Legalitäts­grund des staatlichen Zwangshandelns gegeben sein mag – schließlich wurde gemäß Stabschef der Stadtpolizei das rechtlich Mögliche nicht ausgeschöpft – so können die angewendeten legalen Mittel doch in einem frappanten Widerspruch zum Legitimi­tätsempfinden der Betroffenen stehen. Und dies kann, wie die Ergebnisse der empiri­schen Studie zeigten, kontraproduktiv wirken.

Es konnte zudem belegt werden, dass hinsichtlich der Präventionsabsichten staatli­cher Maßnahmen allgemein die Kontrollierbarkeit von verhaltensmodifizieren­den Interventionen problematisch ist. Generalpräventiv gestaltet sich die Adressierbar­keit als schwierig, da sie blind sämtliche Normadressaten ansprechen soll. Zudem verfügt sie über keine Interventionstechnologien, die das „Ankommen“ der Kommu­nikation wahrscheinlich machen. Generalpräventive Wirksamkeitsunterstellungen vertrauen blind entweder auf den normativen Eindruck der sanktionsbeschwerten Normdrohung oder auf den – wie hier am Beispiel besprochen wurde – Eindruck, den eine staatliche Machtdemonstration zeitigt. Die generalpräventiv gerechtfertigten Maßnahmen versetzen die betroffenen Personen in den Status von Objekten und anti­zipieren eine Wirksamkeit – ohne diese unterstellte Wirksamkeit tatsächlich kontrol­lieren zu können. Denn möglicherweise verfehlen die generalpräventiven Absichten bei den Adressaten nicht nur ihre Wirkung, unter Umständen verkehren sie sie gar in ihr Gegenteil.

Spezialpräventive Maßnahmen basieren hingegen auf einer direkten Adressabilität. Die Intervention läuft über eine Interaktionssituation und erreicht so konkrete soziale Adressaten. Das bietet Gelegenheit zu zielgerichteter, professioneller Prävention im Sinne einer auf Interaktion basierenden Intervention. Bei der Spezialprävention kön­nen konkrete soziale Adressaten und somit konkrete Ursachen oder – besser ausge­drückt – Probleme behandelt werden. Dabei zeigt jedoch das Beispiel vom 1. Dezember 2007, wie schwierig es ist sicherzustellen, dass solche Maßnahmen zielge­richtete Wirkungen entfalten und die gewünschten Effekte hervorrufen.

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1Diese empirische Studie wurde in Zusammenarbeit mit Josef Estermann, Freie Universität Ber­lin, entwickelt.

2„Private Gewalt“ wird durch das Monopol legaler Staatsgewalt nicht aus der Welt geschafft. Auch ist nicht jede „private Gewalt“ von vornherein illegal, man denke etwa an Notwehr und Nothilfe.

3Es ist nicht zu erwarten, dass diese Überlegungen sich eins zu eins im Alltagsbewusstsein wie­der finden lassen, sie lassen sich aber über „Umwege“ erschließen.

4Die generalpräventive Lehre ist in Deutschland vor allem durch Anselm von Feuerbach (1775-1833) geprägt worden (Stratenwerth 1996: 42ff.).

5Gemäß Jakobs besteht denn auch die Aufgabe der Strafe (als Bestandteil der Strafnorm, quasi als ihre symbolische Exekution) in der Erhaltung der Normgeltung und erfüllt so gesehen die Funktion der positiven Generalprävention (Jakobs 1989: 516; ders. 1995: 844f.): Durch Strafe wird symbolisch gezeigt, dass die Norm auch künftig gilt. Das Vertrauen der „Rechtsgenossen“ in die Norm soll gestärkt werden.

6Eine Forderung, die auf das Gedankengut des Kriminalpolitikers Franz von Liszt zurückgeht und vor allem in den siebziger Jahren eine Renaissance erlebte. Liszt lehrte, die Straftäter je nach Typen unterschiedlich zu behandeln und forderte entsprechend eine Dreigliederung der Strafzwecke innerhalb der Spezialprävention: a) Besserung der Besserungsfähigen und Besse­rungsbedürftigen; b) Abschreckung der nicht Besserungsbedürftigen; c) Unschädlichmachung der nicht Besserungsfähigen (Liszt 1883).

7Als Beispiel kann hier die „Incapacitation“ genannt werden. Mit diesem aus dem Amerikani­schen stammenden Begriff wird eine „Sicherung durch Freiheitsentzug“ bezeichnet. Damit ist die Neutralisierung des von einer Person ausgehenden Gefährdungspotentials angesprochen, in­dem diese Person inhaftiert wird (u.a. Zimring/Hawkings 1995; Grasberger 1998).

8Estermanns Analyse von Strafverfahren zei­gt, dass, mindestens im Bereich der sogenannten organisierten Kriminalität, die Institutionen so­zialer Kontrolle auch ohne eine nennenswerte Anzahl von Verurteilungen organisierte Kriminalität als wirksam bekämpfbar einschätzen.

9SP: Sozialdemokratische Partei, beide zur Zeit der Ereignisse zuständigen Regierungsmitglieder, sowohl die Sicher­heitsdirektorin der Stadt Luzern als auch die Justiz- und Polizeidirektorin des Kantons Luzern sind Mitglieder dieser Partei.

10Eine mögliche Interpretation wäre, dass bereits organisierte und engagierte Personen engagiert bleiben – ihre Tätigkeit jedoch durch entsprechende Erfahrungen mehr Nachdrücklichkeit erhält (eventuell verstärkt durch die mediale Aufmerksamkeit). ProLitteris

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