Kampf ums Recht Urs Marti

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Tierbändiger und Hirten. Gesetz und Herrschaft bei Solon und Platon

Zusammenfassung

Die verbreitete Ansicht, Solon habe die politische Philosophie Platons vorweggenom­men, bedarf der Prüfung. Platon versteht unter Politik primär die moralische Erzie­hung der Bürger, während soziale Konflikte als Ursachen gesellschaftlicher Unord­nung eine untergeordnete Rolle spielen. Dagegen zielt das Gesetz im Verständnis von Solon auf sozialen Ausgleich; es soll die gegnerischen sozialen Kräfte dazu anhalten, den jeweiligen Gegner in seinen Rechten anzuerkennen. Solons Verständnis seiner Aufgabe als Politiker kommt in den Elegien deutlich zum Ausdruck, deren Lektüre legt eine materialistische Deutung nahe: Die widerrechtliche Enteignung der Armen durch die Reichen führt zum Bürgerkrieg, und der Gesetzgeber soll, gleichsam als unparteilicher Schiedsrichter, einen Zustand herbeiführen, worin der Wille der Mäch­tigen, ihre Privilegien zu behalten, sowie der Kampf der Ohnmächtigen um elementa­re Freiheits- und Eigentumsrechte im Rahmen eines Gesetzes miteinander vereinbar sind.

Tamers and Herdsmen. Solon and Plato on Law and Rule

Summary

According to a widely held opinion, Solon had anticipated the political philosophy of Plato. However, this opinion needs to be re-examined as by politics Plato understands mainly the moral education of the citizens, whereas social conflicts as potential reas­ons of disorder are rarely considered. Solon on the other hand interprets the law as a means of establishing social harmony. In respecting the law, the opposing social forc­es commit themselves to accepting their opponents and to recognising their rights. In reading Solon’s elegies, we gain a good insight into his comprehension of the respon­sibility of a political leader. A materialistic interpretation of the elegies is therefore not unfounded. For instance, the main cause of civil war is, as Solon argues, the illegal expropriation of the poor citizens by the rich citizens. Here, Solon argues, the legislator is supposed to be an impartial arbitrator and social harmony can be estab­lished, if, under the rule of law, the powerful are entitled to keep some privileges, whereas the powerless receive basic rights to liberty and property.

Die Aufgabe der Politik besteht darin, Ordnung zu schaffen und zu bewahren, so hat es Platon verstanden und so lehrt die politische Philosophie bis heute. Dem Urteil lässt sich in dieser Allgemeinheit kaum widersprechen, doch seine Aussagekraft ist gering. Um die Aufgabe der Politik konkreter zu bestimmen, ist zunächst abzuklären, welche Faktoren Unordnung verursachen und wie die Politik agieren muss, um deren schädliches Wirken zu verhindern. Platon sieht in der Ordnung des Gemeinwesens ein Abbild der Ordnung der menschlichen Seele; Politik soll denn auch hauptsächlich auf die Seele der Bürger einwirken. Politische Philosophie, als deren Begründer Platon gemeinhin gilt, wäre folglich zu verstehen als eine Anleitung zur Seelenfüh­rung. Zwei Jahrhunderte früher habe freilich bereits Solon die Athener gelehrt, dass „die Wurzel des Übels in der von der Norm abweichenden Gesinnung der Bürger selber zu finden ist“, wie Rüdiger Bubner schreibt. Mit Solon sei, so glaubt Bubner, „genaugenommen das Niveau der platonischen Theorie erreicht“. Solon wie Platon legen ihrer Theorie der Politik das Schema von Ordnung und Aufruhr zugrunde; was die Einheit der Polis bedroht, ist „Stasis, d.h. Aufruhr im Innern, Protest gegen das Bestehende, Veränderungssucht gewisser Schichten“ (Bubner 2002: 40f). Solons wie Platons Sorge gilt der Ordnung des Gemeinwesens; beide sehen die primäre Aufgabe der Politik in der Abwehr der Stasis – soweit ist Bubner zuzustimmen. Die Behaup­tung, Solon habe wie nach ihm Platon das Gesetz verstanden als Instrument zur Über­windung politischer Unordnung, wie sie aus der mangelnden moralischen Qualifikati­on der Bürger resultiert, ist hingegen kritisch zu prüfen.  

Der moderne Staat und die pastorale Macht

Platons politische Welt ist bevölkert von Hirten und Herden. Michel Foucault hat die pastorale Weise der Machtausübung gleichsam wiederentdeckt. „Omnes et singula­tim“: vers une critique de la raison politique – so lautet der Titel eines Vortrags, den er 1979 an der Stanford University gehalten hat (Foucault 1994: IV, 134-161, Nr. 291). Der Titel spielt an auf eine Macht, die auf die gesamte Gesellschaft und zugleich auf jeden Einzelnen zielt. Gegenstand von Foucaults „Kritik der politischen Vernunft“ sind nicht die von Max Weber und früher ansatzweise bereits von Tocque­ville und Marx untersuchten Prozesse der Zentralisierung und Bürokratisierung der modernen Staatsmacht, sondern Formen der Machtausübung, die er als individualisie­rend oder pastoral bezeichnet. Pastorale Metaphern spielen, so glaubt er, im politi­schen Denken Griechenlands und Roms kaum eine Rolle, wohl aber im orientali­schen – ägyptischen, mesopotamischen und jüdischen – Denken. Zwar besteht auch dem griechischen Verständnis zufolge die wichtigste Aufgabe politischer Führung darin, in der Gemeinschaft Eintracht zu stiften, doch geht es nicht darum, verstreute Individuen zu sammeln, wie dies der Hirte mit seinen Schafen tut. Während die Herde nur unter der Bedingung der Präsenz des Hirten existiert, hinterlässt ein Gesetzgeber wie Solon, dem es gelingt, Konflikte zu lösen, eine Polis, die dank der von ihm erlassenen Gesetze ohne ihn weiter bestehen kann.

Um die antike Idee pastoraler Herrschaft zu erläutern, zitiert Foucault hauptsächlich hebräische Quellen. Erst in der christlichen Kultur, im Mittelalter wie in der Neuzeit, wird diese Machtkonzeption praktisch erprobt, so hält er fest, um dann eine schwer­wiegende Anklage zu formulieren: Die christlichen Gesellschaften Westeuropas sind nach innen wie nach außen aggressiver als andere Gesellschaften, und einzig sie haben jene merkwürdige Technologie entwickelt, welche die Menschen in ihrer großen Mehrheit als Herde behandelt. Die Behauptung einer rein orientalischen Her­kunft der pastoralen Konzeption muss insofern relativiert werden, als sie in Platons Schriften eine bedeutsame Rolle spielt. Foucault gibt einen kurzen Überblick über die Argumentation im Politikos, der ihm zufolge systematischsten Reflexion über das Pastorat in der klassischen Antike. Sein vorrangiges Interesse gilt jedoch dem christ­lichen Pastoralverständnis und den modernen Gesellschaften, in denen seiner Ansicht nach pastorale Macht jene politischer Institutionen ergänzt. Um dies zu belegen, ver­weist er auf das Problem des Wohlfahrtstaats („Le fameux ‚problème de l’État provi­dence‘“, Foucault 1994: IV 144), handle es sich hier doch um einen der zahlreichen und heiklen Versuche, politische – gemeint ist wohl: staatliche – und pastorale Macht zu kombinieren. Die Analysen von christlichen Pastoraltechniken, Doktrinen der Staatsräson und polizeiwissenschaftlichen Anweisungen zur Bevölkerungskontrolle machen den Hauptteil des Textes aus, sind für die Fragestellung aber nicht relevant. Es reicht, darauf hinzuweisen, dass die modernen Gesellschaften in Foucaults Urteil wahrhaft dämonisch sind, weil sie Institutionen geschaffen haben, die das Verhältnis von Polis und Bürger mit jenem von Hirte und Herde kombinieren. Es ist klar, dass das pastorale Verständnis der Politik weder mit der republikanischen Idee verant­wortlicher Bürger noch mit der liberalen Idee mündiger Individuen kompatibel ist. Foucault entdeckt in manchen Texten des 17. und 18. Jahrhunderts totalitäre Tenden­zen, Vorstellungen einer Gesellschaft, in der die Menschen der Macht schutzlos aus­gesetzt sind. Im neuzeitlichen Staat erblickt er eine besonders furchterregende Form der Regierung von Menschen über Menschen. Weder Republikanismus noch Libera­lismus, weder die Anliegen des Gemeinwohls noch die Interessen des Individuums können in seinem Urteil der Absage an dieses Staatsverständnis zugrunde gelegt wer­den. Individualisierung und Totalisierung sind bloße Effekte der politischen Rationa­lität, die bekämpfen zu wollen sinnlos wäre. Nur der Angriff auf die Wurzeln der politischen Rationalität kann befreiend wirken – mit diesem Befund schließt Foucault seinen Versuch einer historischen Analyse der Kunst des Regierens (Foucault 1994: IV 160f).

Wie die Wurzeln freigelegt und zum Ziel einer Attacke werden können, muss hier offen bleiben, doch es fällt nicht schwer, die Genealogie dieser Diabolisierung des modernen Staats zurückzuverfolgen. Das kälteste aller kalten Ungeheuer glaubt Nietzsche im Staat zu erkennen (Nietzsche 1980: KSA 4, 61, Also sprach Zara­thustra, Vom neuen Götzen). Seine politischen Anschauungen sind stark geprägt von Burckhardt, der das maßlose Machtstreben des demokratischen Staats und die durch ihn geförderten Tendenzen der Zentralisierung und sozialen Nivellierung anprangert (Burckhardt 1982: 135 ff; 358; 370f). Burckhardts Sichtweise wiederum ist beein­flusst von Tocqueville, der freilich im Gegensatz zu manchen seiner Schüler den modernen Staat wesentlich nüchterner betrachtet (Marti 2004). Foucault erwähnt ihn seltsamerweise nie. Rufen wir uns eine der meistzitierten Stellen aus dem zweiten Band der Démocratie en Amérique in Erinnerung: An welchen Zügen wird man den neuen Despotismus in demokratischen Gesellschaften erkennen, so fragt Tocqueville. Er entwirft das Bild einer Gesellschaft gleichartiger Egoisten, die unaufhörlich ihren kleinen Vergnügungen nachrennen, ohne sich um ihre Mitbürger zu kümmern. Über dieser Gesellschaft erhebt sich eine gewaltige und entmündigende Macht („un pouvoir immense et tutélaire“). Sie ist absolut und regelt alles bis ins kleinste Detail, sie ist milde und fürsorglich, bietet den Menschen Sicherheit, sorgt für ihr Glück und ihr Wohlergehen, leitet ihre Geschäfte und nimmt ihnen jede Verantwortung ab – kurz: sie negiert ihre Freiheit. Diese Macht ist paternalistisch, sie will verhindern, dass die Menschen erwachsen werden und sich um etwas anderes kümmern als um ihr privates Wohlergehen; sie entscheidet darüber, was ihr Glück ausmacht. Nachdem diese Macht jedes Individuum in seine kräftigen Hände genommen und umgemodelt hat, breitet sie ihre Arme über die Gesellschaft als Ganzes aus und wirft ein eng­maschiges Netz komplizierter, minutiöser und einheitlicher Regeln über sie. Bereits Tocqueville thematisiert mithin die doppelte Strategie des „omnes et singulatim“. Schließlich verwandelt die schützende und bevormundende Macht die Nation in eine Herde furchtsamer und geschäftiger Tiere, die von einem Hirten regiert werden („un troupeau d’animaux timides et industrieux, dont le gouvernement est le berger.“ Tocqueville 1951ff: OC I/2: 324f, De la démocratie en Amérique)

Foucaults Interpretationen politischer Texte sind gewiss anregend und eröffnen neue Perspektiven, doch seine machtanalytischen Reflexionen sind oft kaum nachvollzieh­bar. Welchem Zweck dient das Studium pastoraler Theorien? Gibt es Aufschluss über anmaßende Phantasien, die das philosophische, theologische, gar humanwissen­schaftliche Nachdenken über die Regierbarkeit von Menschen prägen, oder soll es demokratische Regierungspolitik als Umsetzung pastoraler Rezepte entlarven? Dass pastorale Phantasien die moderne Sozialpolitik beflügeln können, dass der Sozialstaat Menschen bevormundet und Abhängigkeiten schafft, dass neoliberale Reformstrate­gien ebenfalls paternalistische Züge tragen, wenn sie im Namen betriebswirtschaftli­cher Prinzipien individuelles Verhalten kontrollieren und disziplinieren, ist nicht von der Hand zu weisen. Foucaults politische Stellungnahmen zeugen freilich zuweilen von einem wenig komplexen Machtverständnis. So etwa, wenn er 1977 ein Recht der Regierten postuliert, welches angesichts der Aufblähung staatlicher Regierungs­macht, ihrer Einmischung in die alltäglichen Angelegenheiten der Menschen elemen­tar sei (Foucault 1994: III 361-365, Nr. 210). Oder wenn er 1981 die weltweite Soli­darität der Menschen als Regierten behauptet, welche die Pflicht hätten, sich gegen staatlichen Machtmissbrauch zu erheben; wenn er den Regierungen, die sich vorgeb­lich um das Glück der Gesellschaften kümmern, die Verantwortung für das Unglück der Menschen zuweist (Foucault 1994: IV 707f, Nr. 355). Foucaults libertärer An­tietatismus beruht theoretisch auf einem Machtverständnis, das man wohl nur als Ausdruck einer Komplexitätsreduktion verstehen kann und das übrigens auch seiner früheren Machtkonzeption, wie sie in Surveiller et punir vorgeschlagen wird, völlig zuwiderläuft. Während in dieser Studie die Disziplinierung menschlichen Verhaltens zumindest partiell auf ökonomische Transformationen und damit einhergehende neue Ansprüche an den arbeitenden Menschen zurückgeführt wird, erscheint die Ausübung von Regierungsmacht nun als Selbstzweck (Marti 2011).

Platons Konzeption pastoraler Herrschaft

Politisches Wissen gehört nicht zum praktischen, sondern zum einsehenden Wissen, die Einsicht dient nicht der Beurteilung, sondern dem Befehl, und in der Kunst des Befehlens ist zu unterscheiden zwischen der Fähigkeit, Befehle zu empfangen und zu geben, so legt Platon im Politikos dar. Wie die Anwendung der unterteilenden Methode (Dihairesis) unmissverständlich klar macht, meint Politik ausschließlich Herrschaft (Politikos 258e-259d). Die wahre Herrscherkunst ist die königliche (basi­like), und die Kompetenz des Herrschers besteht darin, über Lebewesen in großer Zahl zu gebieten; Politik ist eine Menschen hütende Tätigkeit, die Sorgfalt für eine Herde, die Wissenschaft von der Aufzucht der Menschenherde. Wie sich im weiteren Gesprächsverlauf erweist, vermag diese Definition nicht zu befriedigen; die Kompe­tenz des königlichen Menschenhirten muss nicht nur von jener der Viehhirten unter­schieden werden, sondern auch von anderen Berufen, die ebenfalls für die Erhaltung der Menschen sorgen, für ihr leibliches Wohl oder ihre Gesundheit. Um das Problem zu verdeutlichen, erzählt Platon einen Mythos, der von einer ganz und gar verkehrten Welt berichtet. In dieser Welt hütet der Gott Kronos selbst die Menschen, und unter seiner Obhut gibt es weder politische Verfassungen noch häuslich-familiäre Ordnun­gen mit dem Eigentum an Frauen und Kindern. Die Menschen werden alt aus der Erde geboren, um jünger zu werden; die Erde gibt ihnen alles, was sie brauchen. Sie kennen weder Krieg und Streit noch Arbeit oder Not. Eine Umkehrung der Zeit berei­tet dem Zeitalter des Kronos ein Ende. Der Steuermann des Weltganzen lässt das Ru­der los und die Götter wenden sich von ihren Schutzbefohlenen ab. Es beginnt eine Periode gewaltiger Erschütterungen, das Leben der Menschen ist in einer sie nicht mehr wie Kinder umsorgenden Welt geprägt von Mühsal und Entbehrung, allen Gefahren sind sie schutzlos ausgeliefert. Schließlich nimmt Zeus das Steuer in die Hand, um den völligen Verfall der kosmischen Ordnung zu verhindern. Doch in sei­nem Zeitalter ist die umsorgende Herrschaft der Götter nicht mehr allumfassend; alles Lebendige muss sich selbst erzeugen und gebären, sich selbst schützen, ernähren und führen.

Weil mithin die Menschen im Paradies der Kindheit nicht verbleiben können, müssen sie sich politisch organisieren. Politik, so die Pointe der Erzählung, braucht es nicht unter Bedingungen von Frieden und Überfluss, sondern von Knappheit und Gewalt. Die pastorale Idylle des Zeitalters von Kronos erweist sich als Utopie. Der Fehler der Definition liegt darin, dass der Hirte als ein Gott und nicht als sterblicher Mensch gezeichnet worden ist. An der pastoralen Konzeption von Politik hält Platon dennoch fest; nun gilt es, die Eigenart des Politikers als eines menschlichen Menschenhirten herauszuarbeiten. Doch offensichtlich fällt es nicht leicht, sich vom göttlichen Vor­bild zu lösen und mit einem Herrscher Vorlieb zu nehmen, der mit seinen Unzuläng­lichkeiten allzu menschlich ist, sich also von den von ihm Beherrschten kaum unter­scheidet (Politikos 275c). Die Tätigkeit des Politikers betrifft nicht Aufzucht und Ernährung, vielmehr obliegt es ihm, sich um die Herde, um die menschliche Gemein­schaft zu kümmern, und diese Aufgabe bezieht sich auf den Menschen als Ganzes, eher auf seine Seele denn auf seinen Körper. Nach diesen Definitionen führt Platon als letzte Unterscheidung jene zwischen König und Tyrann ein, zwischen Freiwillig­keit und Zwang. Allein wer die Kunst der freiwilligen Herdenwartung über freiwilli­ge, zweibeinige Wesen beherrscht und ausübt, kann als wahrhafter König und Staats­mann gelten (Politikos 275a-276e). Man könnte die Präzisierung wie folgt interpretie­ren: In der Welt des Zeus ist der Politiker ein Gleicher unter Gleichen, der bereit und fähig ist, sowohl über seinesgleichen zu regieren als auch sich von seinesgleichen regieren zu lassen. Dies würde Aristoteles’ Definition der Bürgertugend entsprechen: die Fähigkeit, über freie Menschen zu herrschen – darin besteht politische im Gegen­satz zu despotischer und ökonomischer Herrschaft – und sich als Freier beherrschen zu lassen (Aristoteles Politik 1277b).

Doch so will es Platon offenbar nicht verstanden wissen. Freiwilligkeit wird im weiteren Verlauf des Dialogs nicht thematisiert. Das Ziel der Untersuchung besteht darin, all jene Prätendenten, die politische Kompetenz beanspruchen, ohne zur könig­lichen Art (basilikos genos) zu gehören, auszusondern (Politikos 279a). Zwar lassen sich Staatsformen mit Hilfe von Kriterien wie der Anzahl der Regierenden, Gewalt und Freiwilligkeit, Gesetz und Gesetzlosigkeit sowie Reichtum und Armut einteilen (Politikos 291d-e), doch sind diese Kriterien an sich unerheblich, entscheidend ist einzig, welche Staatsform geeignet ist, Einsicht in die Beherrschung von Menschen zu gewinnen. Wie sich in der Diskussion zeigt, muss die Anzahl der Regierenden (erstes Kriterium der Unterscheidung der Staatsformen) eng beschränkt werden. Der Mehrzahl der Menschen ist die Fähigkeit, das politische Wissen zu erlangen, abzu­sprechen. In einer politischen Gemeinschaft ist die erforderliche Kompetenz nur bei den wenigsten, vielleicht nur bei einem einzigen zu finden; die weiteren Kriterien – Freiwilligkeit, Gesetzmäßigkeit, ökonomischer Status – werden für unerheblich erklärt. Somit ist die richtige Staatsverfassung jene, „in welcher man bei den Regie­renden wahrhafte und nicht nur eingebildete Erkenntnis findet, mögen sie nun nach Gesetzen oder ohne Gesetze regieren und über Gutwillige oder Gezwungene und arm sein oder reich“ (Politikos 293c). Was auch immer weise Herrscher zwecks Verbes­serung des Gemeinwesens tun, kann kein Fehler sein. Sie stehen kraft ihres Wissens über den Gesetzen; was sie der Menschenherde, die in einem Gemeinwesen weidet, vorgeschrieben haben, darf sie selbst nicht binden (Politikos 293d; 295e-296a).

Wenn Platon im Politikos die Frage nach der besten Staatsverfassung beantwortet, lässt er die weitere Frage nach ihren Verwirklichungschancen offen. Im Vergleich zu den bestehenden Verfassungen nimmt sie sich gleichsam aus wie ein Gott unter Men­schen. Doch selbst wenn ihre Realisierung unmöglich ist, kann keine andere Verfas­sung als echt gelten, sondern stets nur als bessere oder schlechtere Nachahmung (Politikos 292a; 293d-e; 297c; 303b). Die Herrschaft des Gesetzes wird zwar als halbwegs gelungene Nachahmung der besten, göttlichen Verfassung akzeptiert, den­noch wird das pastorale Regierungsverständnis nicht revidiert. Die Kompetenz des wahren Politikers besteht darin, sich stets zugleich um „omnes et singulatim“ zu kümmern, dies vermag die Herrschaft des Gesetzes gerade nicht zu tun (Politikos 294e-295b). Die Autorität der Regierungsmacht wird auch unter der Herrschaft des Gesetzes nicht mit dessen Unantastbarkeit begründet, sondern mit dem erzieherischen oder pastoralen Auftrag der Regierenden. Der Politikos lädt zu vielen Interpretationen ein. Die freiwillige Zustimmung der Beherrschten ist offensichtlich keine notwendige Bedingung guter Regierung; wenn die Menschen in ihrer Mehrheit unverständig sind, kann ihnen Freiheit im Sinne politischer Selbstbestimmung nicht zugestanden werden. Die pastorale Sorge um die Menschen rechtfertigt Entmündigung. Zwar können nur Menschen über Menschen regieren, da kein Gott diese Aufgabe über­nimmt. Doch offensichtlich fällt es Platon schwer, sich mit dieser Einsicht abzu­finden. Wer regiert, kann kein Gott sein; wer jedoch nicht wenigstens als Abbild oder Nachahmung göttlicher Macht und Weisheit gelten kann, sollte nicht regieren. Der Abstand bezüglich Wissen und Macht muss zwischen dem guten Politiker und den Beherrschten so groß sein wie zwischen Göttern und Menschen.

Deutlicher wird diese Auffassung in den Nomoi ausgesprochen. In einer Vorzeit, von welcher der Mythos berichtet, haben die Menschen frei von Zwietracht und in voll­kommenem Glück gelebt, ohne arbeiten und sich um irgend etwas sorgen zu müssen. Dieses Glück verdankt sich der Einsicht des Kronos, der erkannt hat, dass aufgrund der menschlichen Natur kein Mensch fähig ist, die menschlichen Angelegenheiten maßvoll und gerecht zu verwalten. Daher setzt er als Herrscher über die Menschen Dämonen, also höhere, bessere Wesen ein. So wenig Rinder über Rinder oder Ziegen über Ziegen wachen können, so wenig können Menschen sich selbst regieren. Gute Regierung kann immer nur die Regierung höherer über niedrigere, besserer über schlechtere Wesen sein. Darin besteht denn auch der wahre Kern des Mythos: Für Staaten, die nicht von Gott, sondern von einem Sterblichen regiert werden, gibt es kein Entrinnen von Übel und Not. Das Heil kann nur im Versuch der Nachahmung der Herrschaft des Kronos liegen. Menschen sollen dem gehorchen, was in ihnen an Unsterblichem ist; anders gesagt: die höchste Vernunft soll als Gesetz gelten.

Wenn Menschen versuchen, sich selbst zu regieren, sind Hybris und Ungerechtigkeit die Folge. Da sie jedoch bezüglich ihres Wissens ungleich sind, gilt dieser Befund nicht für alle Menschen. Zwar hat der Mythos in den Nomoi die Funktion, darzule­gen, dass das beste Abbild der göttlichen Herrschaft jene des Gesetzes ist, die Nomo­kratie, kann sie doch verhindern, dass Menschen, die herrschen wollen, der Hybris verfallen. Das Gesetz darf jedoch nicht als Abkommen zwischen Menschen verstan­den werden (Nomoi 712e-714a), sondern nur als Ausdruck göttlicher Vernunft. Diese kann Menschen zuteil werden; das Gesetz ist die Verteilung der Vernunft, und die Vernunft verteilt so, wie Zeus entscheidet, wenn er bei der Verteilung die Güter oder Rechte nach Maßgabe der besseren oder schlechteren Natur der Empfänger zuteilt. Würde ein Mensch göttlichen Wissens teilhaftig, so wäre er auf Gesetze nicht ange­wiesen, denn dem Wissen ist kein Gesetz und keine Ordnung überlegen, und es widerspräche der göttlichen Gerechtigkeit (Themis), wenn die Vernunft nicht über alles herrschen würde (Nomoi 757b-e, 875c-d, 711d).

Wenn die Herrschaft der Vernunft nicht verwirklicht werden kann, wird jene des Gesetzes zur einzig akzeptablen Lösung. Im nicht-idealen Staat muss die Autorität des Gesetzes unbedingt gelten und dessen Verletzung aufs Härteste bestraft werden, wie Platon im Politikos (297d-e; 301a) festhält und in den Nomoi genauer ausführt. Ist das Gesetz tatsächlich ein Abbild göttlicher Herrschaft, dann muss der gute Herrscher sein Diener sein (Nomoi 715d).

In den Nomoi finden sich zahlreiche Stellen, die Aufschluss über Platons Verständnis von der Funktion der Gesetze geben. Ich möchte nur einige kurz in Erinnerung rufen. Die Gesetzgeber und Gesetzeswächter müssen sich bei der Erfüllung ihrer Aufgabe stets an folgender Frage orientieren: wie kann jemand ein guter Mensch werden, der die einem Menschen zukommende Tugend der Seele besitzt (Nomoi 770c)? Die so verstandene Gesetzesherrschaft lässt sich nur umsetzen im Sinne pastoraler Herr­schaft, also mittels umfassender Kontrolle aller Lebensbereiche, mittels minutiöser Disziplinierung und Sanktionierung jeder Art abweichenden Verhaltens. Selbst der Tagesablauf einschließlich des richtigen Verhältnisses von Wachen und Schlafen muss geregelt und „für alle freien Menschen eine Regelung getroffen werden, wie sie ihre ganze Zeit zuzubringen haben, angefangen etwa von der Morgendämmerung bis zum jeweils folgenden Morgen und Sonnenaufgang“ (Nomoi 807e). Gesetzgebung ist mithin eine unendliche Aufgabe, die fortwährende Verbesserung erfordert (Nomoi 769d-e). Doch wie weit sollen die Gesetze gehen? Schlechtes Verhalten im privaten Bereich untergräbt die Autorität von Staat und Gesetz. Es wäre verhängnisvoll zu glauben, „jeder müsse die Freiheit haben, seinen Tag hinzubringen, wie er Lust hat“ (Nomoi 780a). Allerdings ist es nicht angebracht, jedes abweichende Verhalten gesetzlich zu sanktionieren. Was den privaten Bereich betrifft, so ist es zwar „bedenklich, darüber Gesetze aufzustellen, davon zu schweigen aber unmöglich“. Belehrung und Ermahnung sowie die ungeschriebenen Satzungen, also Sitten und Gebräuche müssen die Gesetzgebung unterstützen (Nomoi 788a-c, 793b). Gesetzge­bung ist denn letztlich auch ein etwas missverständlicher Ausdruck für das, worum es Platon geht, nämlich um die Regelung der persönlichen Lebensführung jedes Bürgers (Nomoi 790a-b), um die Gleichschaltung der Gesinnungen als Voraussetzung der politischen Ordnung. So wird denn auch im Strafrecht der Gesetzgeber nicht die Tat, sondern die Gesinnung der Menschen beurteilen (Nomoi 863d-864a).

Der Begriff des Nomos steht mithin bei Platon einerseits für eine übermenschliche, das heißt von menschlichen Leidenschaften und Interessen nicht korrumpierbare, unparteiische und „objektive“ Vernunft, andererseits für ein machtvolles und vielfach nutzbares Instrument sozialer Kontrolle beziehungsweise pastoraler Seelenführung. Pastorale Metaphern finden sich in Platons Schriften in verschiedenen Kontexten. Der wahre Philosoph will wissen, was der Mensch ist und was ihn aufgrund seiner Natur von anderen Geschöpfen unterscheidet, doch er weiß nichts von seinem Nächs­ten, nicht einmal, ob er ein Mensch ist oder ein Tier. Tyrannen oder Könige zu loben, erscheint ihm lächerlich, könnte man doch ebenso Viehhirten loben. Zwar haben Könige und Tyrannen ein besonders störrisches und hinterlistiges Tier zu hüten, doch sind sie aus Mangel an Muße so ungebildet und unfrei wie gewöhnliche Viehhirten, wie Sokrates im Theaitetos (174d) ausführt. Perikles wird im Gorgias von Sokrates als schlechter Aufseher tituliert, weil er aus zahmen Tieren wilde gemacht habe; Sokrates definiert das Gerechte als das Zahme, was Aufschluss gibt über die normati­ven Kriterien, die aus der pastoralen Herrschaftskonzeption herzuleiten sind (Gorgias 515e-516c). Im Atlantis-Mythos wird beschrieben, wie die Götter gleich Hirten die Menschen als ihren Besitz und ihre Zucht ernähren, freilich nicht wie menschliche Hirten ihr Vieh mit Gewalt bändigen, sondern auf die Seelen der Menschen einwir­ken, weil sich auf diese Weise ein Geschöpf am besten lenken lässt (Kritias 109bc). Die Funktion des Mythos beschränkt sich offenbar nicht darauf, einen paradiesischen Zustand als Kontrast zur Realität zu zeichnen; er gibt zu verstehen oder deutet zumin­dest an, dass die in der verkehrten Welt bestehende Asymmetrie zwischen höheren und niedrigeren Wesen, die ungleiche Verteilung von Verantwortung, Macht und Herrschaftswissen, in der wirklichen Welt ebenso Bedingung guter Politik ist. Wenn es darin keinen wahrhaften König oder politischen Führer gibt, bleibt den Menschen nichts übrig, als Abhandlungen (syggrammata) zu schreiben und dabei zu versuchen, der Spur der wahrhaften Verfassung zu folgen (Politikos 301d-e). Wenn es Menschen nicht vergönnt ist, von Göttern regiert zu werden, so vermögen doch die Philosophen insofern den Platz der Götter einzunehmen, als sie den rechten Weg kennen.

Platons Idee pastoraler Herrschaft ist mit den demokratischen Ansichten seiner Zeit­genossen nicht vereinbar. Im ersten Buch der Politeia taucht im Streitgespräch zwischen Thrasymachos und Sokrates die Frage auf, was den Herrscher auszeichnet. Er ist ein Meister (demiourgos) in seinem Fach, so lautet die Antwort. Wer von einem Arzt spricht, denkt an den fähigen Arzt. So wie kein Meister fehlt, da er andernfalls kein Meister wäre, fehlt kein Herrscher, da er andernfalls kein Herrscher wäre (Politeia 340d-341a). Auf diesem Urteil von Thrasymachos baut Sokrates seine weitere Argumentation auf. So ist, wie er darlegt, der richtige Steuermann ein Meister in seinem Fach und als solcher führt er auf dem Schiff das Kommando. Die Meister­schaft des echten Arztes und Steuermanns in ihrem jeweiligen Fach erweist sich im sachgerechten Umgang mit den Objekten, für die das Fach zuständig ist, die Objekte aber sind in beiden Fällen Menschen, was die beiden Berufe mit jenem des Regierens verbindet. Meister ist, wer über ein Wissen verfügt, das sich laut Sokrates nie auf den Eigennutz des Meisters, sondern immer nur auf das für die zu bemeisternden Objekte Nützliche beziehen kann. Die Techniken herrschen (archein), sie haben Gewalt (kratein) über ihre Objekte, so formuliert es Sokrates (Politeia 341c-342e). Die Tech­niken beziehungsweise jene, die darin Meister sind – Ärzte als Herrscher über die Körper, Steuermänner als Befehlshaber über die Schiffspassagiere – bestimmen, was den Objekten zuträglich ist. So wenig wie der Patient oder der Passagier hat der Regierte eine Stimme.

Es ist Thrasymachos, der die pastorale Metapher in kritischer Absicht ins Spiel bringt. Um Sokrates’ Argumentation ad absurdum zu führen, erinnert er an das Ver­hältnis, das zwischen Hirten und den ihrer Obhut anvertrauten Schafen besteht. Was es heißt, ein Meister in seinem Fach zu sein und die Technik am Objekt anzuwenden, zeigt sich beim Hirten besonders deutlich. Er sorgt für sein Vieh, indem er es mästet und damit seinen eigenen Vorteil oder jenen seiner Herren verfolgt (Politeia 343b). Wenn der Hirte, der Arzt oder der Steuermann den Nutzen seiner Objekte im Blick hat, wie Sokrates behauptet, so kann dies durchaus zugestanden werden. Allerdings ist es der Meister, der die Definitionsmacht besitzt und bestimmt, worin dieser Nutzen besteht, das Objekt hat dazu nichts zu sagen, wie Sokrates’ Argument impli­ziert. Und es ist kaum plausibel anzunehmen, der Meister werde diesen Nutzen so bestimmen, dass er seinem eigenen Interesse zuwiderläuft. Die Herrscher der Städte aber sind ihren Untertanen genauso gesinnt wie die Hirten ihren Schafen. Wenn folg­lich die Regierten gerecht handeln, indem sie den Gesetzen gehorchen, so gereicht es den Herrschenden zum Nutzen, ihnen selbst aber zum Schaden.

Soweit die Argumentation von Thrasymachos. Sokrates freilich übernimmt die pasto­rale Metapher nur zu gerne und entwirft das Ideal des guten Hirten, der einzig um das Wohl seiner Schäfchen besorgt ist. Er ist, so hat es Dahrendorf in seiner Apologie des Thrasymachos formuliert, der erste Funktionalist, die von ihm erträumte Ordnung ist „offenkundig ein unseliger Zustand: eine Welt ohne Rebellen und Eremiten, ohne Wandel und ohne Freiheit“ (Dahrendorf 1967: 313). Bubner hingegen setzt Sokrates’ Kampf mit den Sophisten „um die griechische Seele“ mit der Geburt der politischen Philosophie gleich. Die sophistische Unterscheidung zwischen wandelbarem Nomos und unwandelbarer Physis hält er für subversiv; sie nährt jene Veränderungssucht, die Platon als bedrohlich erachtet. Mit dem Problem der Machtlegitimation, das sich den Sophisten und ihren neuzeitlichen Nachfahren, von den Vertragstheoretikern bis zu den modernen Verfassungsdenkern, stellt, ist Platon nicht konfrontiert, da die Macht­komponente in seinem Ideenstaat völlig fehlt (Bubner 2002: 17; 56; 64f). Anders for­muliert: Wenn das Gute regiert, wird nicht Macht ausgeübt.

Solons Stachel

„Der politische Philosoph muss bemüht sein, die Anlässe zur Stasis, zur immanenten Bestreitung der Einheitlichkeit auszuräumen“, wie Bubner (2002: 40f) schreibt und damit ein Anliegen zu bezeichnen glaubt, das Solon und Platon gemeinsam ist. Wie ich im Folgenden zeigen möchte, übersieht er einen wichtigen Unterschied zwischen Platons und Solons Gesetzesverständnis. Die Frage, ob der historische Solon jedes Gesetz erlassen und sämtliche poetischen Werke verfasst hat, die ihm zugeschrieben werden (Blok/Lardinois 2006, insbesondere die Beiträge von Lardinois, Stehle und Harris), kann in diesem Kontext offen bleiben. Gewiss ist, dass die heute unter Solons Namen veröffentlichten Elegien zu einem besseren Verständnis des archai­schen und klassischen griechischen Rechtsverständnisses beitragen können (Blok/ Lardinois 2006: Harris).

Zunächst mag ein kurzer Hinweis auf die Bedeutungsvielfalt des Worts „stasis“ hilf­reich sein. Es lässt sich übersetzen mit Empörung, Aufruhr, Aufstand, Revolution, ebenso mit Streit und Bürgerkrieg, schließlich mit Partei. In Platons Politikos (303c) wird der „stasiastikos“ als Widersacher des wahrhaften Politikers identifiziert; er ge­fährdet die Ordnung und Eintracht des politischen Gemeinwesens. „Stasiastikoi“ kön­nen Revolutionäre sein, welche die Ordnung als solche bedrohen, oder Parteileu­te, welche die Einheitlichkeit der Ordnung bedrohen; Platon unterscheidet nicht zwi­schen beiden Bedeutungen. Solon hingegen sieht zwar in der „stasis“ im Sinne des Bürgerkriegs das größte Übel, das Athen droht; dass sich die Polis aus Gruppen zu­sammensetzt, die sich aufgrund ihrer unterschiedlichen Interessen als Konkurrenten gegenüberstehen, ist für ihn jedoch unvermeidbar.

Rufen wir uns kurz den historischen Hintergrund in Erinnerung. Die Institution der Polis bildet sich in Griechenland zwischen 800 und 500 heraus. Ihre primäre Aufgabe besteht in der Bewältigung sozialer Konflikte; die regierende Schicht setzt sich vor­nehmlich aus Großgrundbesitzern zusammen (Welwei 1998: 35-45; 140-152; Welwei 2000: 87-107). Die Bevölkerungszunahme und die damit einhergehende wachsende Beanspruchung des Bodens bewirken Krisen der Landwirtschaft, die vor allem für die Kleinbauern ruinös sind, weil die Verschuldung viele in die Sklaverei zwingt. Die Konflikte zwischen einer verarmten, von Schuldsklaverei bedrohten Bauernschaft sowie einer reichen, adligen Oberschicht, führen Athen im frühen 6. Jh. an den Rand des Bürgerkriegs. In dieser Situation wird 594/593 Solon ins Archontat gewählt. Wie Aristoteles schreibt, hielten manche Solon für einen guten Gesetzgeber, der die exklusive Oligarchie abgeschafft, die Knechtschaft des Volkes beendet und die alte Demokratie wiederhergestellt habe (Aristoteles Politik 1273b, 1274a). Natürlich hat Solon weder eine demokratische Ordnung errichtet, noch hat eine solche in früheren Zeiten existiert. Hingegen hat er eine Entwicklung initiiert, die zwei Jahrhunderte später in der perikleischen Demokratie ihren Höhepunkt erreicht (vgl. De Ste. Croix 2004: 73-108). Aristoteles will offenbar sagen: weil Solon die Richterstellen aus Bür­gern aller Stände besetzt und die Richter durch das Los hat bestimmen lassen, hat er dem Volk mehr Macht verliehen. Überdies schreibt er Solon seine eigne Einsicht zu: werden dem Volk nicht minimale Befugnisse eingeräumt, wird es zum Feind der Polis (Politik 1281b). Schließlich erwähnt er in seinem Plädoyer für die Vorherr­schaft des Mittelstands Solons Herkunft aus dieser Schicht (Politik 1296a); ein breiter Mittelstand garantiert in seiner Sicht Ausgleich, Stabilität und die Verhinderung der Herrschaft der Unterschicht.

Die Aristoteles zugeschriebene Schrift Athenaion politeia setzt ein mit der Beschrei­bung des Konflikts zwischen Adligen und armem Volk in Athen. Die Verfassung ist oligarchisch, die Armen sind von den Reichen abhängig, das Land ist im Besitz Weniger, wer seine Pacht nicht bezahlen kann, wird mitsamt seiner Kinder pfändbar. Verbitterung und Empörung sind groß bei der Masse der faktisch unfreien Armen, die „sozusagen an nichts Anteil“ haben (Kap. 2). Sie erheben sich gegen die Adligen, wählen aber später, um den Bürgerkrieg zu beenden, gemeinsam mit diesen Solon als Friedensstifter und Archonten. Seiner Herkunft nach adlig, seinem Besitz nach zum Mittelstand gehörend, kämpft er fortan „gegen beide Seiten für beide“ (Kap. 5). Er befreit das Volk, indem er verbietet, Darlehen gegen leibliche Haftung zu gewähren. Er hebt die Grundschulden und die Leibeigenschaft auf, es handelt sich um die berühmte Abschüttelung der Schulden (seisachtheia; Kap. 6). Er teilt die Bürger nach ihrem Einkommen in vier Klassen ein, wobei der untersten Klasse nur die Volksver­sammlung und die Gerichte offen stehen. Allerdings stärkt er mit der Überweisung der Rechtsfälle ans Volksgericht das Volk auch politisch (Kap. 7; 9). Mit dieser Poli­tik macht er sich mehr Feinde als Freunde, haben doch die Adligen erwartet, er werde die alte Ordnung wiederherstellen, die Armen hingegen, er werde das ganze Land neu verteilen (Kap. 11). Zu erwähnen sind zwei weitere Maßnahmen: Solon nimmt an, der Bürgerkrieg werde für Athen eine stete Bedrohung bleiben, und er erlässt ein Gesetz, wonach im Bürgerkrieg jeder Bürger, der sich nicht für eine der beiden Parteien entscheidet, sein Bürgerrecht verliert (Kap. 8).

Bekannt ist die Geschichte seiner Reise nach Ägypten; er erklärt, für zehn Jahre Athen verlassen zu wollen; in dieser Zeit dürften die Gesetze nicht verändert noch neu ausgelegt werden (Kap. 11). Für Platon ist der „stasiastikos“ der schlechteste Politiker; Solon will die Bürger dazu zwingen, im Bürgerkriegsfall zu „stasiastikoi“ zu werden. Platon sieht im Gesetz ein unvollkommenes Herrschaftsinstrument; es ist nicht imstande, sich im Sinne der pastoralen Idee um jeden einzelnen zu kümmern. Der wahrhaft königliche Herrscher wird daher nicht Gesetze erlassen und damit sei­ner absoluten Handlungsfreiheit Schranken setzen, er wird lediglich, falls er eine längere Reise plant, dem Volk Gesetze hinterlassen (Politikos 295a ff). Dagegen will Solon laut dem Bericht in Athenaion politeia nicht bloß verhindern, dass die von ihm erlassenen Gesetze verändert werden, er will sie nicht einmal selbst verändern oder neu auslegen. Er ist kein Tyrann, auch kein guter, volksfreundlicher Tyrann wie sein Nachfolger Peisistratos, weil er sich keiner der beiden Parteien anschließen will. Da er die Existenz von Reichen und Armen für notwendig hält, weiß er, dass soziale Konflikte und Bürgerkriege permanent drohen und nicht mittels moralischer Verbes­serung der Menschen aus der Welt geschafft, sondern lediglich durch gute Gesetze in Schranken gehalten werden können.

Natürlich weiß auch Platon um die sozialen Ursachen der Unordnung. So sieht er in der Oligarchie eine Verfallsform des Staats; da übermäßiger Reichtum massenhafte Armut und Verelendung schafft, ist sie dauernd von Revolten der Benachteiligten bedroht. Ein oligarchisches Gemeinwesen kann es nicht geben, weil Reiche und Arme ihren je eigenen Staat bilden (Politeia 551d-557a). Erst in den Nomoi gerät Solons Sichtweise überhaupt ins Blickfeld: Eine annähernde Gleichverteilung des Besitzes schafft günstige Voraussetzungen für eine gute Gesetzgebung, doch in den meisten Staaten wird jenem, der am Grundbesitz rütteln und die Schulden aufheben will, heftige Opposition erwachsen, weil die Eigentumsordnung als unantastbar gilt. Platon bleibt vorsichtig; wer Gesetze zur Regelung des Eigentums zu geben gezwun­gen ist, kann „weder diese Dinge ruhen lassen, noch darf er andererseits irgendwie daran rühren; sondern es bleibt ihm sozusagen nur ein frommer Wunsch und eine all­mählich behutsame Umwandlung“ – gemeint ist die Hoffnung, einige Reiche möch­ten ein Einsehen haben und mit den Armen teilen (Nomoi 684d/e, 736c ff). In den Nomoi (744b-745a) wird immerhin dem Gesetzgeber empfohlen, zwecks Verhütung von Aufruhr die Wohlstandsunterschiede innerhalb der Schicht der Grundbesitzer gering zu halten.

Dass „die Wurzel des Übels in der von der Norm abweichenden Gesinnung der Bür­ger selber zu finden“ sei, wie Bubner meint, ist, so mein Eindruck, gerade nicht Solons Meinung. Um dessen Verständnis seiner Aufgabe als Gesetzgeber und Schiedsrichter genauer zu prüfen, lohnt sich die Lektüre der Elegien. Am häufigsten zitiert werden folgende Worte: „Denn dem Volk gab ich ein Ehrgeschenk, so groß wie es genug ist, und nahm von der ihm gebührenden Achtung weder etwas fort noch tat ich etwas dazu. Die aber Macht hatten und um ihres Besitzes willen bewundert waren, auch für die war ich bedacht, dass sie nichts Ungebührliches erlitten. Ich stellte mich hin und warf einen starken Schild ihnen beiden um, und siegen ließ ich keinen von beiden ohne das Recht“ (Mülke 2002: 48f). Das Geschenk, das dem Volk zu Teil wird (geras), bezeichnet traditionell den einem Adligen zustehenden Beuteanteil oder seine Macht und Würde. Tatsächlich erhält das Volk Anerkennung, freilich nur jene, die ihm gebührt, während den Mächtigen und Reichen dasjenige, was ihnen gebührt, nicht streitig gemacht wird. Die Anerkennung, die dem Volk zuteil wird, betrifft wohl die Rechte, die ihm als Teil der Polisgemeinschaft zustehen. Solon hat sich zwischen die streitenden Parteien und zugleich beide unter seinen Schutz gestellt. Den Konflikt hat er beendet und verhindert, dass mit dem völligen Sieg der einen Partei über die andere das Unrecht obsiegt. Die weiteren für den Kontext relevanten Textstellen lassen sich fünf thematischen Schwerpunkten zuordnen:

1. Moralische Defizite der Bürger als Ursache des Bürgerkriegs.

Athens Bewohner, die alles dem Streben nach Besitz unterordnen, drohen ihre Stadt aufgrund fehlender Voraussicht ins Verderben zu stürzen. Den Führern des Volkes fehlt es an Gerechtigkeitssinn, ihr Handeln ist geprägt von Hybris, von Maßlosigkeit und Habgier. Das Streben nach Reichtum kennt keine Grenze; dies gilt, wie Solon andeutet, für die Menschen insgesamt, doch sind vor allem die Reichsten unersättlich (Mülke 2002: 43; 61).

2. Verletzung der Rechts- und Eigentumsordnung als Ursache des Bürgerkriegs.

Der Reichtum der Athener Bürger verdankt sich der widerrechtlichen Aneignung fremden Guts, sie respektieren weder, was den Göttern, noch was dem Volk gehört. Sie missachten „Dikes heilige Grundsteine“ (Mülke 2002: 43). Solon spricht hier Handlungsweisen an, die später in anderen Kontexten von Morus und Marx beschrie­ben werden. Indem die Reichen stehlen, was der Gemeinschaft oder den Armen rechtmäßig gehört, beleidigen sie Dike, die Göttin der Gerechtigkeit. Diese weiß, dass Strafe in Gestalt von Knechtschaft, Streit (stasis), Krieg und Verschwörungen die Stadt treffen wird; den Armen steht bevor, versklavt und in fremde Länder ver­kauft zu werden (Mülke 2002: 45). Die Verletzung der Eigentumsordnung durch die Reichen ist somit eine wesentliche Ursache des Bürgerkriegs; noch wichtiger ist aber wohl die Folge dieser Verletzung, nämlich die Versklavung der Armen, die mit dem Eigentum an Subsistenzmitteln auch ihre Freiheit verlieren und damit keinen Grund mehr haben, zur Erhaltung der Polisordnung beizutragen. Der Besitz von Gütern ist, wie einem anderen Fragment zu entnehmen ist, zwar erstrebenswert und gehört zum göttlichen Segen, freilich nur unter der Bedingung ihres rechtmäßigen Erwerbs. Allein solcher Reichtum ist von den Göttern gegeben und wird den Menschen dauer­haft zuteil. Verehren die Menschen ihn jedoch mit frechem Übergriff (hybris), indem sie andere bestehlen, sind Dikes und Zeus’ Strafe zu befürchten (Mülke 2002: 55-57). Solon kritisiert das Gebaren der Oberschicht, die nie genug bekommen kann und sich Reichtum notfalls auch widerrechtlich aneignet. Darüber hinaus wird ganz allgemein daran erinnert, dass die Ordnung des Eigentums von den Göttern bestimmt wird und die Menschen die Regeln dieser Ordnung nicht verletzen oder gar verändern dürfen. Was sich die Menschen erhoffen, können sie nur von den Göttern geschenkt bekommen und nicht durch eigenes Denken und Streben erwerben und sichern (Kommentar bei Mülke 2002: 243).

3. Verletzung und Wiederherstellung der guten Ordnung.

Das Ziel guter Politik definiert Solon als Eunomia; der Begriff (Wohlordnung) kann sich auch auf die Verteilung von Gütern und Anerkennung beziehen. Im Hinblick auf die Frage, ob der Anlass des Konflikts eher moralischer oder rechtlicher und ökono­mischer Art ist, lässt die einschlägige Stelle zwar keine eindeutige Antwort zu, wobei institutionelle Aspekte stärker ins Gewicht zu fallen scheinen als moralische. Solon ruft seine Landsleute dazu auf, nach der guten Ordnung zu streben, welche unrechtes Tun sanktioniert, die Gier beendet, die Hybris schwächt, krumme Rechtsprechung begradigt, Zwietracht überwindet und die zwischenmenschlichen Verhältnisse pas­send und klug gestaltet (Mülke 2002: 45).

4. Die Übermacht der Mächtigen und das Unwissen des Volks.

Mächtige Männer sind zu fürchten, durch sie geht die Stadt zugrunde. Wenn sich das Volk einem Alleinherrscher (monarchos) unterwirft, tut es dies aus Unkenntnis. Ob einem Führer große Macht anvertraut werden soll, muss gründlich überlegt werden, da man ihn später kaum mehr bändigen kann. Leiden die Menschen unter Knecht­schaft, dürfen sie sich nicht bei den Göttern beklagen, haben sie selber doch ihre Führer – ob Tyrannen oder Aristokraten gemeint sind, wird aus dem Kontext nicht ersichtlich – ermächtigt. Als Einzelne mögen sie schlau sein wie der Fuchs, gemein­sam jedoch fehlt ihnen der Verstand, den es braucht, um die Absichten der Mächtigen zu durchschauen. Sie lassen sich verführen von Schmeichlern und verdrängen, was wirklich geschieht (Mülke 2002: 51-55).

5. Solons Selbstverständnis als politischer Führer.

Mit den Elegien hat Solon auch die Absicht verfolgt, seine Leistung im besten Licht erscheinen zu lassen; doch gerade diese Stellen sind die aufschlussreichsten, weil sie einiges aussagen über seine Auffassung der Aufgaben eines guten Politikers und Gesetzgebers. Bei großen Werken ist es schwer, allen zu gefallen (Mülke 2002: 51); mit diesem Befund spielt Solon auf seine Position als Streitschlichter an, der nicht für die eine oder andere Seite Partei ergreift und den Erwartungen beider Seiten nicht vollständig entsprechen kann. Wer sich mit so großer Begeisterung seinem Ziel ver­schreibt, muss seinen Zeitgenossen als wahnsinnig erscheinen (Mülke 2002: 53). Sein Verdienst sieht er darin, nicht der Versuchung erlegen zu sein, die Tyrannis anzuneh­men und mit Gewalt zu herrschen. Ein Gott hat ihm das Geschenk angeboten, doch er, unverständig und entscheidungsschwach, hat nicht zugegriffen, obwohl er als Tyrann unermesslichen Reichtum hätte gewinnen können. Er hat das Vaterland geschont und seinen Nachruhm nicht besudelt. Die Reichen, die irrtümlich geglaubt haben, durch ihn zu noch mehr Reichtum zu kommen, hat er enttäuscht und sich zu Feinden gemacht. Was er versprochen hat, hat er mit den Göttern vollendet, weiteres zu tun wäre aussichtslos gewesen (Mülke 2002: 63-65; vgl. Athenaion politeia Kap. 12). Was hat er geleistet, um den Demos zu vereinen? Die größte Mutter der olympi­schen Götter, die schwarze Erde (Ge melaina), könnte das für ihn bezeugen; aus ihr hat er die Grenzsteine ausgehoben und den zuvor Versklavten die Freiheit zurückge­geben; die Interpretation der Stelle ist umstritten; „horos“ heißt Grenzstein, doch bleibt unklar, wie die Entfernung von Grenzsteinen die Befreiung von Menschen ermöglicht (Kommentar bei Mülke 2002: 374-379). Die Armen, die ins Ausland ver­kauft wurden oder geflohen sind, hat er nach Athen zurückgeholt, und jene befreit, die in Athen unter Knechtschaft zu leiden hatten. All dies hat er vollbracht, indem er Gewalt und Recht zusammengefügt hat. Die Gesetze (thesmoi) hat er gleichermaßen für die Schlechten und die Guten niedergeschrieben (Mülke 2002: 67-69). „Schlecht“ und „gut“ ist hier im alten Sinn zu verstehen als Bezeichnung der einfachen Bürger und der Adligen; er hat mithin für alle Bürger ungeachtet ihrer sozialen Stellung das gleiche Gesetz gegeben.

Solon ruft nach dieser Darlegung seiner Verdienste erneut seine außergewöhnliche Qualifikation in Erinnerung, die erklärt, weshalb er allein und kein anderer der Auf­gabe gewachsen gewesen ist. Hätte das „kentron“ ein anderer an seiner Stelle erhal­ten, ein boshafter und habgieriger Mann, so wäre es diesem nicht gelungen, den Demos zu bändigen. Kentron ist der Stachel eines Insekts oder auch der durch ihn verursachte Schmerz, es ist der Stachel im Fleisch und der Ansporn; im Kontext ist wohl die Stachelrute gemeint, mit der Rinder angetrieben werden. Hätte er sich, so Solon weiter, vereinnahmen lassen von seinen Gegnern, hätte die Polis den Schaden davon getragen. Doch er hat sich abgesichert und bewegt sich wie ein Wolf unter vie­len Hunden. Der Demos verdient Tadel, das einfache Volk will nicht sehen, dass es ihm dank Solon besser geht. Erst recht aber müssten ihm die Mächtigen dankbar sein, hätte doch kein anderer es geschafft, den Demos zu bändigen, ohne sich dabei zu bereichern. Er aber, Solon, hat sich zwischen den Fronten der streitenden Parteien als ihr Grenzstein aufgestellt (Mülke 2002: 67-71).

Die Bilder, die Solon in seinen Elegien verwendet, sprechen für sich. Er sieht seine Aufgabe nicht darin, die Menschen moralisch zu verbessern, vielmehr will er gerech­tere und vor allem stabilere Verhältnisse in der Polis schaffen. Hierzu sind politische und ökonomische Ausgleichsmaßnahmen nötig, allerdings nicht im Sinne der Gleich­verteilung von politischer Macht, Ehre oder materiellen Gütern. Die Existenz privile­gierter und nicht-privilegierter sozialer Klassen wird nicht in Frage gestellt. Doch die Maßlosigkeit der einen und das Elend der anderen bedrohen den Bestand des Ge­meinwesens. Der gute Politiker ist ein Tierbändiger, der die Mächtigen in die Schran­ken weist und die Lage der Ohnmächtigen verbessert. Zugleich ist er ein Kampfrich­ter, der verhindert, dass beide übereinander herfallen. Diese Herrschaftsauffassung ist nicht pastoral. Die Bändigung der Bürger Athens mit den Mitteln von Recht und Gesetz ist ein ganz anderes Projekt als die platonische Utopie einer moralischen Menschenzucht und -zähmung.

Schluss

Platon ist überzeugt, nur mittels totaler Kontrolle menschlichen Verhaltens sei die moralische Verbesserung der Menschen zu erreichen (vgl. etwa Nomoi 770b ff; 780a; 788a ff; 807e). Er will wissen, welche Staatsform geeignet ist, Einsicht in die Beherr­schung von Menschen zu gewinnen, anders formuliert: welche Form der Machtaus­übung am besten geeignet ist, Wissen über die Menschen zu erlangen. Die Menschen hält er in ihrer Mehrheit für intellektuell und moralisch mangelhafte Wesen, die eben aufgrund dieses Mangels den Bestand der sozialen Ordnung gefährden. Er behauptet daher eine wesensmäßige Differenz zwischen Regierten und philosophisch kompe­tenten Regierenden. Eine Radikalisierung des politischen Platonismus hat Nietzsche gefordert. Der Vollzug vollkommener Politik setzt ihm zufolge die Rehabilitation jenes Mysteriums des Regierens voraus, das der demokratischen Aufklärung zum Opfer gefallen ist. Nicht bloß im Hinblick auf die Macht, auch im Hinblick auf das Wissen, auf das Recht zu wissen, muss der Abstand zwischen den Beherrschten und der Herrscherkaste unüberwindlich sein. Nur unter dieser Bedingung vermögen künf­tige Philosophen als neue Herren der Welt ihre Aufgabe der Menschenzucht zu voll­bringen (speziell Nietzsche 1980: KSA 13, 25 ff, Nachlass 1887/1888; Marti 2008). Foucault teilt die Machtphantasien von Platon und Nietzsche selbstredend nicht, aber doch eine von ihnen geprägte Auffassung politischer Macht. Dieser zufolge ist die Ausübung von Macht und Herrschaft auf ein bestimmtes, in diesem Fall humanwis­senschaftliches Wissen angewiesen und bezieht aus diesem zugleich ihre Legitimati­on. Die ungleiche Verteilung der Chancen, Wissen zu erwerben und zu nutzen, be­gründet und perpetuiert die ungleiche Verteilung politischer Macht; dieser Befund ist unbestritten. Doch Foucault spricht offenbar nicht von einem potentiell für alle poli­tisch Aktiven nützlichen Wissen, sondern von einem Wissen, das sich ausschließlich auf die Beherrschbarkeit von Menschenobjekten bezieht. Problematisch ist ebenfalls seine recht willkürliche Verwendung von Begriffen wie Vernunft und Rationalität. Was heißt, die politische Vernunft kritisieren, oder sich von den Wurzeln politischer Rationalität befreien? Worin besteht die Vernunft oder Rationalität pastoraler Machtausübung? Die Überzeugung, die Kontrolle und Beherrschung von Menschen sei um ihrer selbst willen anzustreben, mag motiviert sein von tiefliegenden Ängsten vor dem Unordentlichen, Unberechenbaren, Unbezähmbaren, das in der menschli­chen Natur liegt; doch solche Motive wird man wohl eher als irrational oder patholo­gisch bezeichnen. Foucaults Wortwahl suggeriert eine innige Verwandtschaft zwi­schen Politik und Herrschaft einerseits, Vernunft und Rationalität andererseits; die Verbindung zwischen Rationalisierung und dem Missbrauch politischer Macht hält er für evident (Foucault 1994: IV, 135).

Begriffe wie Vernunft und Rationalität implizieren allerdings, dass politische Prakti­ken, Strategien und Institutionen aufgrund der Definition von Zielen und der Evalua­tion der Mittel gewählt und beurteilt werden. Pastorales Regieren erscheint diesbe­züglich als ein recht irrationales und unökonomisches Unterfangen. Aufwendige und kostspielige Mittel werden für einen Zweck – die „Zucht“ völlig gefügiger Unterta­nen – eingesetzt, den überhaupt realisieren zu können höchst ungewiss ist. Tatsäch­lich versteht Platon unter Politik primär die moralische Erziehung oder eher Diszipli­nierung der Bürger, während er die ungleiche Verteilung von Macht und ökonomi­schen Gütern als mögliche Ursache der Unordnung bloß beiläufig erwähnt. Dagegen zielt das Gesetz im Verständnis von Solon primär auf den sozialen Ausgleich; zwar soll es disziplinierend wirken, doch zielt diese Disziplinierung weniger auf die indi­viduelle Moral als auf die Bereitschaft der gegnerischen sozialen Kräfte, den jewei­ligen Gegner in seinen Rechten anzuerkennen. Die Rationalität von Solons Poli­tikverständnis ist offenkundig; zwei Jahrhunderte vor Platon hat er eine Konzeption von Gesetzgebung und politischer Autorität verteidigt, die der Moderne näher steht als Platons „politische“ Philosophie. Heute freilich ist zu befürchten, dass ob der akademischen Begeisterung für Diskursanalysen, Gouvernementalitäts-Studien und jede Art von „Post-Marxismus“ der unauflösliche Zusammenhang von Ökonomie, Recht und Politik in Vergessenheit zu geraten droht.

Literatur

Aristoteles (1956ff): Werke in deutscher Übersetzung, hg. von H. Flashar, Berlin, Darmstadt, 1956 ff (Bd. 9/1-4 Politik; Bd. 10/1 Staat der Athener).

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Dahrendorf, Ralf (1967): Pfade aus Utopia, München.

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Marti, Urs (2011): Révolution sociale ou insurrection des savoirs assujettis? Pouvoir et libération dans la pensée de Marx et de Foucault, in: M.-C. Caloz-Tschopp (éd.), Colère, courage, création politique, Paris, Vol 4, 107-119.

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Nietzsche, Friedrich (1980): KSA, Sämtliche Werke, Kritische Studienausgabe, hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin, München.

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Tocqueville, Alexis de (1951ff): Oeuvres Complètes, édition publiée sous la direction de J. P. Mayer, Paris, 1951 ff.

Welwei, Karl-Wilhelm (1998): Die griechische Polis, Stuttgart.

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