Weiterlesen © ProLitteris, Josef Estermann
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Ursula Streckeisen, Josef Estermann, Julie Page
Alte und Neue Gesundheitsberufe: Eine Einführung
Vor dem Hintergrund des demographischen Wandels, der auch in jüngster Zeit eine weitere Verlängerung der Lebensspanne und eine Erhöhung des Anteils älterer Menschen an der Gesamtbevölkerung mit sich brachte, haben jene gesundheitlichen Beschwerden zugenommen, die als ‚chronische Krankheiten‘ und ‚Zivilisationskrankheiten‘ beschrieben werden. Sie stellen das Gesundheitswesen vor neue Aufgaben. Zugleich verbreiten sich kulturelle Deutungsmuster, welche die historisch neuen Beschwerden als Ergebnis der individuellen Lebensführung definieren und Grenzen der modernen Medizin unterstreichen. Damit werden Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung zu relevanteren Bezugsgrößen als bisher. Neue Herausforderungen ergeben sich aber auch vor dem Hintergrund der technischen Entwicklungen in der Akutmedizin, etwa im Bereich der Transplantationsmedizin, wo neue Ungewissheiten entstehen und neue Erwartungen an PatientInnen gestellt werden. Die Veränderungen vollziehen sich in einem gesellschaftlichen Kontext, der von eskalierenden Kosten bei sinkenden Einnahmen gekennzeichnet ist und Maßnahmen der Umstrukturierung, Rationalisierung und der Verbetrieblichung von Institutionen im gesundheitlichen Versorgungssystem nach sich gezogen hat.
Die gesellschaftliche Bearbeitung der anstehenden Gesundheitsprobleme erfolgt im Rahmen von Arbeitsprozessen. Ganz grundsätzlich betrachtet, setzt sich der Mensch – als Gattungswesen verstanden – mit seiner natürlichen und sozialen Umgebung über Arbeit auseinander, um seine physiologischen und psycho-sozialen Bedürfnisse zu befriedigen (MEW 1961 23: 356ff). In der modernen Gesellschaft nimmt ein Großteil der gesellschaftlich notwendigen Arbeit die Form der Erwerbsarbeit an, zumeist als Lohnarbeit, findet also in besonderen Arrangements statt, ist dabei aber an die Voraussetzung gebunden, dass im privaten Haushalt Vorleistungen erbracht und Folgeaufgaben übernommen werden. Erwerbsarbeit ist arbeitsteilig organisiert, dabei ist die Arbeitsteilung unter anderem eine Teilung von Berufen und Professionen, die auf je spezifische Art in qualifiziertem Modus Probleme bearbeiten (Durkheim 1893/1967). Das Beruflichkeitsprinzip und das Professionsprinzip sind besonders tief im deutschsprachigen Raum verankert (Daheim/Schönauer 1993, Bollinger/Gerlach 2008)1. Im historischen Verlauf verändert sich die Arbeitsteilung, vergehen und entstehen und verändern sich Berufe und Professionen.
Die Aufmerksamkeit des vorliegenden Bandes gilt dem beruflichen und professionsbezogenen Wandel seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, soweit die Gesundheitsversorgung betroffen ist. Das Buch enthält ausgewählte überarbeitete Beiträge der Tagung „Gesundheitsberufe im Wandel“, die im Juni 2012 in Winterthur stattfand und von den medizin- bzw. gesundheitssoziologischen Fachgruppen der Soziologischen Gesellschaften in Deutschland (DGS), Österreich (ÖGS) und der Schweiz (SGS/SSS/SSA) organisiert wurde. Mit Blick auf die interessierende Thematik werden wir zunächst die Begriffe Beruf und Profession sowie die historische Entstehung des modernen institutionellen Gefüges von aufeinander bezogenen Berufen und Professionen ansprechen, um auf dieser Basis den berufs- und professionsbezogenen Wandel im Gesundheitswesen zu erörtern.
Beruf und Profession
Mit ‚Beruf‘ sei hier – in Anlehnung an den ‚Subjektorientierten Ansatz‘ der deutschen Berufssoziologie (Beck/Brater/Daheim [1980] u.a.) – ein Bündel von spezialisierten Arbeitsfähigkeiten bzw. Tätigkeiten verstanden, das gesellschaftlich entstanden und normiert ist. Beruf ist keine Tätigkeit, die irgendeine oder irgendeiner ausführen könnte, ein Mindestmaß an fachlicher Ausbildung muss vorliegen. Beruf ist auch kein Job, der ohne inneres Engagement ausgeübt und problemlos gewechselt werden könnte. Vielmehr wird der Beruf mit einer gewissen Leidenschaft ausgeübt und bringt Anerkennung. Er bildet denn auch ein Stück weit die Basis der individuellen sozialen Identität und hat entsprechend stabilisierende Bedeutung (Schelsky 1965/1972). Wer einen Beruf ausübt, erbringt in der arbeitsteiligen Gesellschaft sinnvolle und nützliche Leistungen, die gleichzeitig eine mehr oder minder kontinuierliche Erwerbschance darstellen. Berufsarbeit wird demnach – wie jede Erwerbsarbeit – nicht zuletzt in der Absicht ausgeübt, Geld zu erwerben und den eigenen Lebensunterhalt zu sichern. Die Vertreter des ‚Subjektorientierten Ansatzes‘ sprechen von einer objektiv-gesellschaftlich gegebenen „doppelten Zweckstruktur“ (Beck/Brater/Daheim 1980: 243ff.), die auf subjektiver Ebene eine Ambivalenz zwischen inhaltlichem Engagement und einer Mittel-zum-Zweck-Haltung (Streben nach Geld, Macht, Status, Prestige u.a.m.) nach sich ziehen kann. Dabei beziehen sie sich auf die Marx’sche Unterscheidung von Gebrauchswert und Tauschwert. Der Gebrauchswert der Arbeitsleistung ist allein qualitativ bestimmt und zielt auf die Befriedigung von Bedürfnissen anderer, während ihr Tauschwert rein quantitativ bestimmt ist und sich auf den dafür zu erhaltenden Lohn im weitesten Sinne bezieht (MEW 1961 23: 55ff).
Die ‚Doppeltheit‘ in der Konzeptualisierung von Beruf geht noch weiter zurück. Schon Martin Luther unterschied einen geistlichen und einen weltlichen Beruf des Christenmenschen (vocatio spiritualis und vocatio externa), und in der Aufklärung wurde zwischen einem „inneren“ und einem „äußeren“ Beruf unterschieden (Conzé 1972). Die Vorstellung eines inneren und äußeren Berufs hat sich auch im Berufskonzept von Max Weber niedergeschlagen, später in jenem von Sombart (1931), der zwischen vocatio und occupatio unterscheidet. Von Max Weber stammt die viel zitierte Charakterisierung des äußeren Berufs als „Spezifizierung, Spezialisierung und Kombination von Leistungen einer Person, welche für sie die Grundlage einer kontinuierlichen Versorgungs- und Erwerbschance ist“ (Weber 1922/1985: 80).
Was Weber mit „innerem Beruf“ meint, zeigt sich besonders deutlich in dem, was er über „Wissenschaft als Beruf“ (1919/1988) und über „Politik als Beruf“ (1919/1988) geschrieben hat. Sowohl im einen wie im anderen Fall betont Weber die Notwendigkeit der leidenschaftlichen Hingabe an eine Sache. Ohne diese Außeralltäglichkeit der Leidenschaft kann die gewöhnliche, alltägliche Leistung des Fachmenschen nicht erbracht werden. Der „gute“ Wissenschaftler etwa muss sich Weber zufolge vollends vertiefen, von der Umwelt abschotten und ganz seinen fachlichen Details überlassen können.
Eine besondere Art von Beruf sind Professionen. Professionen seien hier als hochqualifizierte, an moderner Wissenschaft orientierte Berufe charakterisiert, die sich von ihrer Aufgabe her auf einen zentralen Wert der Gesellschaft (Gesundheit, Gerechtigkeit u.a.m.) beziehen und dabei mit KlientInnen befasst sind, die kritische Schwellen, Gefährdungen der Lebensführung oder „Krisen“ zu bewältigen haben. Für ihre Klientel, die diese Schwierigkeiten nicht selber bewältigen kann, figurieren „Professionals“ als ExpertInnen, die intervenieren und helfen. Die berufliche Sozialisation vermittelt ihnen nicht nur Wissen, sondern lässt auch ethische Einstellungen sowie ‚angemessene‘ Lebenshaltungen entstehen, hat also habitus- und identitätsformierenden Charakter. Hohe Bedeutung kommt nicht zuletzt dem Erwerb der Fähigkeit zu, mit fachlicher Unsicherheit umzugehen, d.h. handlungsrelevante Entscheide zu treffen bzw. vorzuschlagen, auch wenn die Grundlagen dazu ungenügend sind (für die Medizin vgl. Fox 1957/1978, Streckeisen 2001: 76ff. u.a.).
Im handlungsstrukturellen Ansatz, für den vor allem Oevermann steht, wird im Anschluss an Sigmund Freud und den 1951 verfassten Beitrag über Medizin von Talcott Parsons (1951/1958) speziell auf die Frage eingegangen, welcher Art die Beziehung zwischen Professionellem und Klienten sein muss, wenn die Problembewältigung gelingen soll (Oevermann 1996: 141ff.). Das „Arbeitsbündnis“, das dem Gelingen vorausgesetzt ist, verlangt – so Oevermann – nach der Autonomie der einzelnen Professionsakteure (keine Vorgesetzten, keine Linie, idealtypischerweise freiberuflich tätig).
Im Rahmen der doppelten Zweckstruktur hat die Gebrauchswertseite bei Professionen also besondere Gestalt und vergleichsweise hohes Gewicht. Als verfasstes Kollektiv verfügt die Profession über Autonomie vom Markt und tendenziell auch vom Staat. Sie kontrolliert den Zugang zur Ausbildung, den Inhalt der Ausbildung und den Zugang zur Berufsausübung. Wesentlich bei der Wahrnehmung dieser Einflüsse ist der Berufsverband, der nach außen hin standespolitische Interessen vertritt und nach innen Kontrolle ausübt, der aber auch die gemeinsame berufliche Identität, die gemeinsamen Wert- bzw. Ethikvorstellungen pflegt und weiterentwickelt (Goode 1957/1972, Siegrist 1988, Wilensky 1972 u.a.).
Zur historischen Entstehung von Berufen und Professionen
Dass sich ein Beruf oder eine Profession historisch herausbildet, dass sich entsprechende Ausbildungsgänge etablieren und dass eine Nachfrage nach entsprechenden Produkten oder Dienstleistungen entsteht, hängt mit Durchsetzungsprozessen von Akteurgruppen zusammen, die typischerweise durch Verbände vorangetrieben werden. Kollektivakteure, die im gesellschaftlichen Arbeitsprozess verankert sind, entwickeln dabei Strategien, um ihre Position in der gesellschaftlichen Hierarchie zu verbessern. Im Anschluss an Max Weber (1922/1985: 23ff.) werden solche Prozesse vielfach mithilfe des Konzepts der „Sozialen Schließung“ zu fassen versucht (vgl. Collins 1987, Mackert 2004). Soziale Schließung meint einen Prozess, der den Zugang zu Privilegien und zu Ressourcen auf eine bestimmte Gruppe beschränkt und Marktmechanismen gewissermaßen außer Kraft setzt.
Wichtig für das Verstehen des interessierenden Wandels im Gesundheitswesen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts ist zunächst die Entstehung der sogenannt klassischen, ‚alten‘ Professionen der modernen Gesellschaft: Im Rahmen kollektiver sozialer Mobilitätsprozesse der damals jungen bürgerlichen Mittelschichten bildete sich im 19. Jahrhundert neben dem Anwalt, dem reformierten Pfarrer und anderen Professionen der moderne Arztberuf heraus (Larson 1977 u.a.).
Die Ausschlussregeln der alten ständischen Eliten wurden in diesen Prozessen außer Kraft gesetzt. Gleichzeitig wurde am Markt ein Monopol auf die medizinische Dienstleistung aufgerichtet, das sich neu mit einer naturwissenschaftsbasierten Definitionsmacht verband. Ausbildung und Ethik dienten als Abgrenzungskriterien gegenüber anderen Berufsgruppen. Dabei übernahm die Ärzteschaft Aufgabenbereiche, die in der vorbürgerlichen Gesellschaft weitgehend Domänen der Frauen gewesen waren, insbesondere die Geburtshilfe: Die medizinwissenschaftliche Gynäkologie entstand. Wie die Geschlechterforschung gezeigt hat, waren Professionalisierungsprozesse des 19. Jahrhunderts ganz allgemein mit Prozessen der Marginalisierung von Frauen verbunden (Frevert 1982, Witz 1992, Wetterer 1992 u.a.). ‚Alte‘, klassische Professionen müssen daher als kulturell männliche Institution begriffen werden.
Die Entwicklung der klassischen, ‚alten‘ Professionen war Teil der Herausbildung eines historisch neuen institutionellen Gefüges von aufeinander bezogenen Berufen und Professionen. In diesem Prozess erhielten die klassischen Professionen den Status einer dominierenden Profession, die im ihr zugeordneten Bereich über eine entsprechende qua Wissenschaft legitimierte Deutungs- und Handlungsmacht verfügte (vgl. Abbott 1988, Freidson 1970/1979 u.a.m.).
Im Zentrum der Tätigkeit entsprechender Akteure standen mit der Zeit vergleichsweise alltagsferne, wenig routinisierbare Verpflichtungen. Aufgaben, die diesen vor- und nachgelagert und für die Realisierung der Handlungsabsichten der dominierenden Professionsinhaber unverzichtbar waren, übernahmen immer mehr bestimmte andere, dominierte Berufe, deren Ausübung ohne wissenschaftliche Kenntnisse möglich war. Diese Berufe operierten näher bei der Klientel und wurden Frauen zugeschrieben. Paradebeispiel in der Medizin ist die Pflege, die im Krankenhaus den Ärzten zudient (Streckeisen 2010 u.a.). Es geht bei der herkömmlichen Pflege denn auch nicht allein um lege artis ausgeführte fachtechnische Arbeit, sondern vor allem auch um die Dimension einer Beziehungsleistung für die anderen (die Betreuten), welche etwa Empathie, Zuwendung, Verständnis, die Vermittlung von Sicherheit und die Stärkung der Autonomie des Betreuten umfasst (Estermann und Kneubühler 2008: 187ff.).
Für die historisch später entstandenen weiblich konnotierten Gesundheitsberufe, die in der gesundheitswissenschaftlichen Literatur als „therapeutische Berufe“ bezeichnet werden (Physiotherapie, Ergotherapie und Logopädie) und bisher vor allem im therapeutisch-rehabilitativen Bereich gewirkt haben, ist die herkömmliche Unterordnung unter die ärztliche Dominanz weniger direkt als im Falle der Pflege, aber dennoch klar gegeben.
Berufs- und professionsbezogener Wandel im Gesundheitswesen
Mit Bezug auf den beruflichen und professionsbezogenen Wandel im Gesundheitswesen des ausgehenden 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts fällt auf, dass der Zentralwert ‚Gesundheit‘ immer mehr durch „komplexe, multizentrische Prozesse“ sicher gestellt wird (Vogd 2005). Auch wenn er das Feld der Gesundheit nach wie vor dominiert, verliert der Ärztestand zunehmend seinen dominanten Charakter (Bollinger/Hohl bereits 1981 u.a.m.). Dafür durchlaufen andere therapeutisch ausgerichtete, dominierte Berufe wie etwa die Krankenpflege oder die Ergotherapie einen nach ‚oben‘ weisenden, professionssoziologisch als kollektiven Mobilitätsprozess zu bezeichnenden Aufstieg bzw. streben diesen an (Behrens 2005, Bollinger et al. 2006 u.a.m). Der Tendenz nach bilden sich ‚neue Professionen‘ heraus. Was die Veränderungen des Arzt- und des Pflegeberufs im Speziellen betrifft, so spielen zusätzlich Prozesse der Verbetrieblichung des Krankenhauses eine Rolle, die auf politische Absichten zurückgehen, Finanzprobleme zu lösen.
Im Prozess des Unabhängigerwerdens der ärztlich dominierten Berufe hat die Strategie der Verwissenschaftlichung zentrale Bedeutung. Paradoxerweise scheint diese Strategie manchmal zur Abwertung der professionellen Praxis zu führen. „Professionalisierung“ etwa, wie sie in der Pflege und vergleichbaren Berufen betrieben wird, bezieht sich in vielen Aspekten primär auf die Tauschwertkomponente, nämlich auf den für berufliche Arbeitsleistung erzielbaren und erzielten Lohn und auf das erreichbare und erreichte Prestige. In den Machtzentren der neuen Professionen nehmen typischerweise WissenschaftsvertreterInnen breiten Raum ein – WissenschaftlerInnen vor allem aus den Sozialwissenschaften, die nicht praktizieren und teilweise gar nie praktiziert haben. Es gibt daher Anlass zur Vermutung, dass sich hoher Status der Tatsache verdankt, dass nicht praktiziert, dafür aber Lehre und Forschung betrieben wird. Das heißt, dass Wissenschaft Status bringt (Tauschwertseite), statt das Wissenschaft professionelle Problemlösungsmuster verbessern helfen würde (Gebrauchswert).
Jenseits von Therapie und Klinik bilden sich in derselben Zeit neue, ebenfalls tendenziell wissenschaftsbasierte Gesundheitsberufe heraus, die näher bei der Erziehung, der Wirtschaft und auch näher bei der Politik als bei der Medizin stehen (Vogd 2005) und eigentlich ‚Gesundheits-Förderungsberufe‘ genannt werden müssten. In der Literatur ist in diesem Zusammenhang vielfach von neuen „Aufgaben“ oder „Kompetenzen“ (Ehrhard et al. 2011) und nicht von „Berufen“ die Rede.
Bollinger (2005) sieht im Zusammenhang mit dem Wandel der Gesundheitsberufe eine „neue Unübersichtlichkeit“. Eine Neuschneidung von Arbeitskräftemustern finde statt, gleichzeitig aber stelle sich angesichts erheblicher Überschneidungsbereiche die Frage, ob noch von „Berufen“ im herkömmlichen Sinne gesprochen werden könne. Einmal abgesehen von der Deprofessionalisierung ‚alter‘ und der Entstehung ‚neuer‘ Professionen hat das Beruflichkeitsprinzip – infolge der Strukturumbrüche in der Arbeitswelt der vergangenen Jahrzehnte – Veränderungen erfahren, über deren Charakter kontrovers diskutiert wird. Während auf der einen Seite das Verblassen des Berufsprinzips diagnostiziert und etwa davon ausgegangen wird, der „Arbeitskraftunternehmer“ (Voß 2001 u.a.) sei zur dominanten Grundform von Arbeitskraft geworden, werden solche Diagnosen auf der anderen Seite unter Verweis auf die steigende Bedeutung der beruflichen Erstplatzierung und des Berufs als Initialqualifikation als Mythos in Frage gestellt (Corsten 1999, Streckeisen/Borkowsky 1990 u.a.).
Vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten doppelten Zweckstruktur von Erwerbsarbeit und Beruflichkeit (und damit auch des Professionsprinzips) lässt sich fragen, ob die beobachtbare Entwicklung im Gesundheitswesen Ausdruck funktionaler Erfordernisse ist (Gebrauchswertaspekt), wie es die strukturfunktionalistisch ausgerichteten Berufssoziologie (Parsons 1939/1968, Hartmann 1972 u.a.) behauptet.
Das würde bedeuten, dass sich nur jene Berufsgruppen gesellschaftlich durchsetzen, die der gesellschaftlichen Problemlage entsprechen und die Befriedigung von existierenden Bedürfnissen ermöglichen. Auf der Basis der machtkritischen Perspektive der sozialen Schließung lässt sich indessen vermuten, dass erfolgreiche Durchsetzung auch Ergebnis von kollektiver Interessenspolitik sein kann, welche Status-, Macht- und/oder Prestigegewinn im Auge hat (Tauschwertaspekt). Dabei kann sich das Tauschwertinteresse vom Gebrauchswert loslösen, verselbständigen und Eigendynamiken entfalten. Gesellschaftliche Legitimität indes baut sich allein über den Gebrauchswert auf. Dank der erworbenen Definitionsmacht können erfolgreiche Berufe und Professionen nun aber insofern auch die Gebrauchswertseite widerum beeinflussen, als es ihnen möglich ist, zu bearbeitende Probleme neu zu definieren, gesundheitliche Beschwerden zum Beispiel neu zu diagnostizieren und damit Konstrukteure von Krankheiten zu werden, aufgrund derer dann neue Bedürfnisse nach professioneller Hilfe entstehen (vgl. Freidson 1970/1979 u.a.).
Zu den Beiträgen im vorliegenden Band
Den Hintergrund der Beiträge zu berufs- und professionsbezogenen Veränderungen, welche der vorliegende Band versammelt, bildet der Wandel im Gesundheitswesen, der geprägt ist von (gesamtgesellschaftlichen, nicht gesundheitspezifischen) in neoliberaler Manier gestalteten ökonomischen Rahmenbedingungen. Gesundheitsspezifisch betrachtet, gründet der Wandel in der Entstehung neuer zu bearbeitender und bearbeitbar gewordener gesundheitlicher Probleme (Gebrauchswertseite), aber auch in interprofessionellen Statuskämpfen und im Ringen verschiedener Gesundheitsberufe um Definitionsmacht (Tauschwertseite).
Ein erster Block von unmittelbar zusammenhängenden Beiträgen fokussiert akutmedizinische und verwandte Berufe im Krankenhauskontext, die sich – vor dem Hintergrund des neoliberalen Steuerungsparadigmas – verändern, und lenkt den Blick darüberhinaus auf die Entstehung neuer Beschäftigtengruppen in dieser Organisation. Jonathan Gabe erörtert mit Blick auf das Vereinigte Königreich Großbritannien und Nordirland die Deprofessionalisierung der Ärzteschaft, vor allem deren Autonomieverlust im Krankenhaus. Er analysiert diese als Folge von staatlichen Maßnahmen, vom Aufsteigen der Gesundheitsmanager, von veränderten Patientenerwartungen, von der Erstarkung der Selbsthilfegruppen und von ‚Kolonisierungsversuchen‘ der Pharmazeutischen Industrie.
Dazu passt der aus Frankreich stammende und auf dortige gesellschaftliche Problemlösungsmuster bezugnehmende Beitrag von François-Xavier Schweyer, in welchem die Entstehung der Krankenhausdirektoren als Beruf (profession) im Rahmen der Modernisierung der Krankenhäuser zwischen 1950 und 1980 sowie die Entwicklung dieses Berufs im Rahmen der neoliberalen Wende beleuchtet wird, die dem Autor zufolge generell zu einer Neuzusammensetzung (recomposition) der Gesundheitsberufe geführt hat.
Die zunehmende marktwirtschaftliche Steuerung neoliberaler Prägung bildet auch den Ausgangspunkt des Beitrags von Manuela Grimm. Pflegeleitungen haben sich in diesem Zusammenhang – in den Augen der befragten Pflegeleitungen in Deutschland – dem Management angenähert und von der Pflege entfernt. Zugleich sind sie, so die Autorin, den ärztlichen Leitungen formell gleichgestellt, ohne dass aber die „Emanzipation der Pflege von der Medizin“ durch diese Prozesse vorangetrieben worden wäre. Mit dem verbetrieblichenden Umbau des Krankenhauses und verschiedensten weiteren Maßnahmen, die Kosten senken sollten, kam es in dieser Organisation zur Erweiterung von Aufgaben und zur Ausdifferenzierung neuer Tätigkeiten.
Wie Michael Gemperle und Andreas Pfeuffer mit Bezug auf empirisches Material aus Deutschland, Österreich und der Schweiz darlegen, ist der Aufwand für das Dokumentieren medizinischer und pflegerischer Arbeit gestiegen, was Arztpersonen und Pflegekräfte zu entsprechender Kritik veranlasst hat. Diese gründet aber, wie die Autoren berichten, nicht einfach im erhöhten Arbeitsaufwand, sondern vor allem auch in der Abnahme von eigenen Gestaltungsmöglichkeiten und der Infragestellung des bisherigen beruflichen Selbstverständnisses. Im darauf folgenden Artikel erörtern Andreas Pfeuffer und Michael Gemperle mit Bezug auf dieselbe Studie die Entstehung einer neuen Beschäftigtengruppe im Krankenhaus, die Kodierfachkräfte, die wegen der unklaren Konturen der Arbeit „noch nicht als Berufsgruppe“ bezeichnet werden können.
Im letzten Beitrag des ersten Blocks steht erneut der Arztberuf im Vordergrund, diesmal aber im Kontext medizintechnischen Fortschritts. Aus handlungsstruktureller Sicht beleuchtet Claudia Peter – teilweise unter Bezugnahme auf empirisches Material aus Deutschland – das ärztliche Handeln in innovativen medizinischen Feldern wie der Neonatologie oder der Transplantationsmedizin, in denen die Ungewissheit, unter der medizinisches Handeln immer schon erfolgte, besonders ausgeprägt geworden ist und heute immer mehr institutionell reflektiert wird. Peter charakterisiert diese Handlungskonstellation und fragt nach Implikationen der genannten Entwicklung für die Arzt-Patient-Beziehung und insbesondere die Patientenautonomie.
Der zweite Block vereinigt Beiträge zu Professionalisierungsprozessen der therapeutischen Gesundheitsberufe Ergotherapie, Physiotherapie, Logopädie und Pflege in Deutschland und zur „Pflegevorsorge“ bei älteren Menschen. Es geht um Gesundheitsberufe, die sich in einem kollektiven sozialen Mobilitätsprozess befinden, der im Gefüge der Gesundheitsberufe nach oben führt und den Arztberuf als dominierende Profession tendenziell infrage stellen. Bernhard Borgetto geht – vor dem Hintergrund ausführlicher theoretischer Erörterungen – der Frage nach, wie weit der Prozess der Akademisierung und Professionalisierung, den die Ergotherapie, die Physiotherapie und die Logopädie durchlaufen, in Deutschland vorangekommen ist. Er erörtert Chancen, Barrieren und Entwicklungsperspektiven und beschäftigt sich auch mit Fragen der Beziehung zwischen TherapeutIn und PatientIn und insbesondere des Arbeitsbündnisses.
Karl Kälble legt in seinem hochschulpolitisch instruierten Artikel das Augenmerk auf Fragen der Ausbildung, die sich im Zusammenhang mit der Professionalisierung der therapeutischen Gesundheitsberufe und der Pflege stellen. Er beleuchtet politische Initiativen zur Erhöhung der Durchlässigkeit zwischen beruflicher Bildung und Hochschulbildung, erörtert Möglichkeiten und Grenzen der Durchlässigkeit und damit verbundene Chancen bzw. Risiken der weiteren Professionalisierung. Sowohl bei Borgetto als auch bei Kälble wird die Beziehung zwischen den interessierenden Berufen und dem Arztberuf immer wieder explizit angesprochen. Im Beitrag von Katja Königstein-Lüdersdorff und Andrea Warnke wird die Entwicklung eines E Learning-Moduls im Hamburger Studiengang ‚Health Care Studies‘ zur Förderung der interdisziplinären Kompetenzen für die Zusammenarbeit der therapeutischen Berufe und der Pflege vorgestellt. Dabei meint ‚interdisziplinär‘ auch, sich mit Machtverhältnissen und divergierenden Interessen auseinanderzusetzen.
Anton Amann und Josef Estermann schließlich beschäftigen sich in einer vorwiegend sozialpolitischen Perspektive mit den Angebotsstrukturen der „Pflegevorsorge“, womit medizinisch-pflegerische und psychosozial ausgerichtete Berufe der sozialen Dienste, aber auch hauswirtschaftliche Dienste und soziale Arbeit angesprochen sind, soweit es um die Vorsorge älterer Menschen geht. Die Autoren betrachten die historische Entwicklung sowie die Bemühungen um „Professionalisierung“ und erörtern die These, dass eine wissenschaftliche Auseinandersetzung unter Bezugnahme auf die Lebensweltorientierung die Chance mit sich bringen würde, eine gemeinsame Begründungs- und Handlungslogik aller an der Pflegevorsorge Beteiligten zu entwickeln, welche gebrauchswertrelevant ist. Ähnlich wie im Beitrag von Königstein und Warnke wird die Förderung von Zusammenarbeit fokussiert, was angesichts der interprofessionellen Kompetition in allen inter- und transdisziplinären Feldern eine höchst anspruchvolle Aufgabe darstellt (vgl. auch Estermann 2011).
Im letzten Block gilt das Interesse dem ‚Aufstieg‘ einer präventiv und salutogenetisch orientierten Peripherie der Gesundheitsversorgung, die das herkömmliche, dem akutmedizinisch-pathogenetischen und primär therapeutischen Paradigma verpflichtete Zentrum konkurrenziert oder dieses zumindest überlagert. Christine Dörge berichtet aus einer Studie bei ambulant tätigen HausärztInnen und Pflegekräften in Deutschland, zwei Berufsgruppen, die in der Gesundheitsförderung Schlüsselbedeutung haben. Es zeigt sich eine „Sprachlosigkeit“, wenn die Befragten zur Darlegung ihres Verständnisses von Gesundheitsförderung aufgefordert werden, während dem die Schilderung ihrer konkreten Praxis der Forscherin die Konstruktion einer Typologie von Handlungsstrategien erlaubte.
Im letzten Beitrag des Buches fragt Ursula Streckeisen danach, inwieweit im entgrenzten Bereich der Gesundheitsförderung Strukturbildungen stattfinden, in denen das Prinzip Beruflichkeit eine Rolle spielt. Vor dem Hintergrund verschiedener empirischer Untersuchungen in Deutschland und eigenem empirischen Material aus der Schweiz formuliert sie die These, dass ein Beruf der Gesundheitswissenschafterin oder des Gesundheitsförderers sich kaum herausbilden wird, dass aber eine Entwicklungstendenz besteht, wonach bereits institutionalisierte Berufe sich an den Gesundheitsförderungstrend anbinden, um die eigene Attraktivität zu erhöhen oder drohenden Bedeutungsverlust zu bekämpfen.
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Fussnote
1 In der französischen Sprache sind die Begriffe „profession“ und „métier“ mit von der deutschen Sprache unterschiedenen Konnotationen im Sinne von Beruf ausgeformt, wie auch in der englischen Sprache, in der „profession“ als „an occupation, trade, craft, or activity in which one has a professed expertise in a particular area; a job, especially one requiring a high level of skill or training“ (www.en.wiktionary.org) beschrieben wird.
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